# taz.de -- Reifenfabrikant im Dritten Reich: Die Kriegsgewinnler | |
> Continental legt eine Studie zur eigenen Nazi-Vergangenheit vor – als | |
> NS-Musterbetriebsstätte, Rüstungszulieferer und Ausbeuter von | |
> Zwangsarbeitern. | |
Bild: Aus dem liberalen, weltoffenen Unternehmen wurde schnell eine NS-Musterbe… | |
HANNOVER taz | Continental lieferte nicht einfach nur Reifen für alles, was | |
fuhr oder flog. Gummi- und Kautschukteile, Schläuche und Beschichtungen | |
spielten ab 1871 in immer mehr Produkten eine Rolle, von Schuhsohlen bis zu | |
Steuerungsteilen für die V1-Marschflugkörper. Conti machte 1933 nicht | |
einfach weiter wie bisher, Conti wuchs in der NS-Zeit kräftig. Das | |
Vorzeigewerk in Stöcken entstand, die Rüstungsproduktion wurde ausgebaut, | |
der kriegsbedingte Arbeitskräftemangel [1][durch Zwangsarbeiter | |
ausgeglichen.] | |
[2][Die Studie „Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in | |
der NS-Zeit“,] die der Münchner Historiker Paul Erker nun vorgelegt hat, | |
ist also lange überfällig. 800 Seiten umfasst das Werk, vier Jahre lang hat | |
Erker daran gearbeitet. Dabei hat er sich nicht nur mit dem | |
Unternehmensarchiv der Conti befasst, sondern auch mehrere Unternehmen | |
einbezogen, die zwar heute zur Conti-Gruppe gehören, damals aber noch | |
nicht: Teves, VDO, Phoenix und Semperit. Zu Tage gefördert hat er dabei | |
keine weltbewegenden neuen Erkenntnisse, aber viele erschreckende Details. | |
Geradezu exemplarisch lasse sich am Beispiel der Conti zeigen, mit welch | |
gigantischem bürokratischem Aufwand das Wirtschaftsministerium in die | |
Unternehmen hineinregierte, sagt Erker. Über die Vierjahrespläne, die | |
Kontrolle der Ressourcen und die Steuerung der Investitionen. | |
## Die Unternehmenskultur kippte schnell | |
Schockiert habe sie an der Studie vor allem, wie schnell die | |
Unternehmenskultur gekippt sei, sagt Conti-Personalvorständin Ariane | |
Reinhart. Conti war ursprünglich eine Gründung jüdischer Bankiers in | |
Hannover, liberal, weltläufig, international ausgerichtet, in seiner | |
Belegschaft aber auch gewerkschaftlich stark organisiert. | |
Das änderte sich nach der Machtergreifung in verblüffendem Tempo. Jüdische | |
Vorstände wurden schnell zum Rücktritt gedrängt, andere traten der NSDAP | |
bei, Betriebsappelle unter der Hakenkreuzflagge gehörten zum Alltag. Im | |
Unternehmensvergleich zeigt sich, welche Spielräume es gab: Teves bot sogar | |
Widerständlern Beschäftigung und Deckung. | |
Aber auch bei der Conti gab es Ambivalenzen: An einzelnen jüdischen | |
Mitarbeitern, die als schwer verzichtbar galten, hielt das Unternehmen | |
länger fest als an anderen. Diesen Mix aus Opportunismus und | |
Fehleinschätzungen zeichnet die Studie gleich an mehreren Stellen nach. Das | |
gilt zum Beispiel auch für die Conti-Werke in den besetzten Gebieten, wo | |
laut Erker enormer Aufwand betrieben wurde, viel investiert wurde, um die | |
Produktion von Buna, synthetischem Kautschuk, abzusichern, obwohl der | |
ökonomische Ertrag zweifelhaft blieb. Man verschätzte sich da, sowohl was | |
die Dauer des Krieges anging, als auch die „Haltbarkeit“ dieses | |
großdeutschen Reiches. | |
## Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge ausgebeutet | |
Zu den finstersten Kapiteln aber gehört der Einsatz der Zwangsarbeiter. | |
Rund 10.000 sollen es in den Kriegsjahren gewesen sein – und es gebe keinen | |
Grund, daran zu zweifeln, dass die damaligen Vorstände ziemlich genau im | |
Bilde waren, was mit denen passierte, betont der aktuelle | |
Vorstandsvorsitzende Elmar Degenhart. | |
Es begann mit dem Einsatz von italienischen „Jungfaschisten“ und | |
„Fremdarbeitern“ aus dem besetzten Belgien, dann kamen französische und | |
russische Kriegsgefangene, schließlich KZ-Häftlinge. Sie wurden für die | |
rußigsten, die schmutzigsten und gefährlichsten Teile der Produktion | |
eingesetzt – für die riskante Räumung zerbombter Fabriken, die Verlagerung | |
der Produktion unter Tage, die Produktion der Volksgasmasken. Aber auch für | |
so absurd [3][menschenverachtende Experimente wie „Schuhteststrecken“], bei | |
denen KZ-Häftlinge zu Tode gehetzt wurden, um die Abnutzung des | |
Sohlenmaterials zu dokumentieren. | |
## Die späte Aufarbeitung ist noch nicht zu Ende | |
Von den Verantwortlichen kamen fast alle davon. Ein Lagerleiter und der | |
Hauptbetriebsratsvorsitzende wurden nach Kriegsende verhaftet, der Rest | |
durchlief „die üblichen Entnazifierungsverfahren“, wie es Erker ausdrückt. | |
Nicht wenige Karrieren gingen später in der Bundesrepublik einfach weiter. | |
Vielleicht kommt die Aufarbeitung auch deshalb so spät. Auf der | |
Pressekonferenz zur Vorstellung der Studien blieb die Frage „Warum erst | |
jetzt?“ jedenfalls unbeantwortet: Man könne ja nicht für frühere Vorstände | |
sprechen, sagt Degenhart. Der jetzige habe sich vor ein paar Jahren auf den | |
Weg gemacht. Das Projekt ist noch nicht zu Ende: Zum 150. Firmenjubiläum | |
soll das Unternehmensarchiv für die Wissenschaft geöffnet werden. Außerdem | |
wird es ein Siegmund-Seligmann-Stipendium für die weitere Forschung und | |
eine Gedenktafel mit den Namen der Zwangsarbeiter geben. | |
29 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Expertin-ueber-NS-Zwangsarbeit/!5687302/ | |
[2] https://www.degruyter.com/view/title/550032?rskey=tERJzi&result=1 | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Schuhl%C3%A4ufer-Kommando | |
## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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