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# taz.de -- Zwangsarbeiterinnen-Kinder in Hamburg: Von Nazis ermordet
> Babys von Ost-Zwangsarbeiterinnen ließ das NS-Regime sterben oder brachte
> sie aktiv um. Die Hamburgerin Margot Löhr hat 418 dieser Viten erforscht.
Bild: Gedenktafeln für die Zwangsarbeiterinnen, Stolpersteine für ihre Kinder…
Hamburg taz | 49 Kindergrabsteine auf dem Bürgersteig: So könnte man die
„Stolperstein“-Reihe in Hamburg-Langenhorn auffassen – verstünde der
Initiator dieser vielerorts verlegten Messingtafeln, der Kölner Künstler
Gunter Demnig, sie nicht ausdrücklich als Kunst- und Erinnerungsprojekt. In
Langenhorn nun stehen französische, lettische, polnische, ukrainische und
russische Namen darauf: Es sind die Namen kleiner Kinder, deren Mütter das
NS-Regime [1][zur Arbeit zwang;] sie lebten nur wenige Tage, Wochen oder
Monate.
Gleich hinter den Steinen: gelbe Reihenhäuser mit Schaukeln und Sandkästen
in den Gärten, hier und da eine St.-Pauli-Flagge – mit Totenkopf. Wo heute
diese Siedlung steht, befand sich von 1943 bis 1945 ein
Zwangsarbeiterinnenlager. Seine 750 Insassinnen mussten für die deutsche
[2][Rüstungsindustrie] arbeiten, für die Hanseatische Kettenwerk GmbH
(HAK) und die Deutsche Meßapparate GmbH (Messap).
Die Kinder von Frauen aus besetzten Ländern wie den Niederlanden, Belgien
oder Frankreich, die dem nationalsozialistischen „Arier“-Ideal nahe kamen,
durften leben; ihre Mütter wurden an der Abtreibung gehindert. Dazu
gedrängt wurden dagegen Polinnen und „Ostarbeiterinnnen“ aus Weißrussland
oder der Ukraine. Diese Frauen beurteilte das „Rasse- und
Siedlungshauptamt“ der SS anhand eines Systems, das von „rein nordisch“ b…
„rein ostisch“ reichte.
„Zwischen 1943 und 1945 gab es allein in der Frauenklinik Hamburg-Finkenau
545 Abtreibungen und 557 Entbindungen bei Zwangsarbeiterinnen“, sagt Margot
Löhr. Die Psychologin hat 2018 die erwähnten 49 Stolpersteine verlegen
lassen – die ersten für Hamburger Zwangsarbeiterinnen-Kinder überhaupt.
Darüber hinaus schreibt sie die Biografien auch von anderen mit
Stolpersteinen geehrter Menschen, ehrenamtlich für die Landeszentrale für
Politische Bildung und das Institut für die Geschichte der deutschen Juden.
Kürzlich hat sie die Lebensläufe von mehr als 400 solcher Kinder erforscht
und in Buchform veröffentlicht.
Über die Väter schwiegen sich die Frauen damals aus. Die meisten Kinder
wurden unehelich geboren, und ob sie durch Vergewaltigung,
Liebesbeziehungen zu anderen Zwangsarbeitern oder Deutschen entstand, blieb
im Dunkeln – zumal Deutsche keinen Kontakt zu Zwangsarbeitern haben
durften.
Also versuchten die Frauen ihre Kinder allein durchzubringen. Zwar gab es
„Ausländerkinder-Pflegestätten“, in denen die Kleinen beaufsichtigt wurde…
Aber das war die Ausnahme. Nur wenn der Lagerkommandant es erlaubte,
konnten sich die Frauen mit Aufsicht und beim Stillen abwechseln. Oft aber
zwang man die Mütter schnell wieder in Zehn- bis Zwölf-Stunden-Schichten
und legte die Babys in irgendeine Ecke oder einen zugigen Raum. Die Folgen:
Tod durch schwere Mangelernährung, Lungenentzündung, Ersticken an
Erbrochenem.
Beim Töten durch mangelnde Aufsicht blieb es nicht. Da war zum Beispiel
[3][Walter Kümmel,] Kommandant des KZ-Außenlagers Hamburg-Eidelstedt, 1946
wegen Misshandlung verurteilt, 1952 vorzeitig entlassen und 1970 erneut
angeklagt: Zwangsarbeiterinnen hatten ihn bei der Ermordung zweier
Neugeborener beobachtet. „Seine Beteiligung an der Tötung wurde vom Gericht
nur als Beihilfe zum Mord gewertet“, berichtet Margot Löhr. „Es hieß,
Kümmel seien keine niedrigen Beweggründe nachzuweisen und die Tat seit 1960
verjährt.“ Später wurde ein NDR-Interview öffentlich, in dem sich Kümmel
auf einen „Geheimbefehl“ zur Ermordung der Babys berief, dessen Urheber er
nie nannte.
Auch Karl Kemmernich wurde nie belangt. Zwar hatte eine KZ-Insassin
gesehen,wie der Sanitäter ein Neugeborenes im Außenlager
[4][Hamburg-Dessauer Ufer] ermordete. Sie sagte auch vor Gericht aus – zur
Zeit der [5][Kriegsverbrecherprozesse] war Kemmernich aber schon tot.
Der Assistenzarzt Otto Blumental indes unterschrieb im Krankenhaus
Langenhorn zahlreiche Sterbeurkunden von Zwangsarbeiterinnen-Babys. Als auf
Betreiben der [6][KZ-Gedenkstätte Neuengamme] 1988 Vorermittlungen
begannen, wollte Blumental nicht zuständig gewesen sein, konnte sich
angeblich nur schwach an unterernährte Kinder erinnern.
„Ich kenne keinen Fall, in dem ein Zwangsarbeiterlager-Kommandant
juristisch belangt worden wäre“, sagt die Hamburger Historikerin
[7][Friederike Littmann.] Sie hat intensiv über Zwangsarbeiter in Hamburgs
Kriegswirtschaft geforscht. Kaum ein Aspekt der NS-Zeit sei so gut
dokumentiert wie die Zwangsarbeit, sagt sie, und dazu zählten auch die
Babys.
246 von ihnen wurden auf dem Hauptfriedhof Hamburg-Ohlsdorf bestattet –
1959 allerdings die meisten dieser Gräber eingeebnet: die höchstens
15-jährige Kindergräber-Ruhezeit war um. Erst nach dem „Gesetz über die
Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ von 1965
verlegte man die verbliebenen zwölf Gräber auf das NS-Opfern gewidmete
Ehrenfeld des Friedhofs.
Die kurzen Leben möglichst vieler dieser in Hamburg geborenen und zu Tode
gekommenen Babys zu ergründen − das ist eben das Verdienst Margot Löhrs.
„Bei Recherchen zu Langenhorn stieß ich immer wieder auf Babys, bei denen
als Wohnort ein Lager angegeben war. Das wollte ich genauer wissen.“
Acht Jahre lang schlug sie in Archiven, Krankenhaus-, Geburts- und
Sterbelisten nach und stellte insgesamt 418 Biografien in Hamburg
gestorbener Kinder zusammen. Darunter sind nicht nur die Kinder auf den 49
Stolpersteinen. Löhr hat auch jene berücksichtigt, die ermordet wurden,
noch bevor sie Namen bekamen: Kinder, die dem Regime so wenig wichtig
waren, dass sich nicht einmal ein Arzt ins Lager bemühte, wenn dort eines
starb. Die Sterbebescheinigung unterschrieb dann einfach der
Lagerkommandant.
Allein in Hamburg existierten 1.500 Zwangsarbeiterlager, es muss also sehr
viele Kommandanten gegeben haben. Die Mitverantwortung reichte so tief in
die Bevölkerung hinein, wie das Wissen um die 400.000 bis 500.000
Zwangsarbeiter die in Hamburger Fabriken, Haushalten oder auf Bauernhöfen
arbeiteten und deren Lager oft gut einsehbar waren.
So auch aus der „Schwarzwaldsiedlung“, die einst gegenüber den Langenhorner
Zwangsarbeiterbaracken stand – und heute gegenüber den 49 Stolpersteinen.
Mit lang heruntergezogenen, holzverkleideten Giebeln und Fachwerkbalken
passen sie kaum in den Norden.
## Heimatstil-Häuser für zugereiste Fachkräfte
In der Tat entstanden diese Häuser, wie auch die nahe „Strohdach-Siedlung“,
ab 1935/36 für höhere Angestellte der Rüstungsindustrie. Die Firma HAK
produzierte Munitionshülsen, die Messap Zeitzünder. Und weil an letzterer
die Schwarzwälder Firma der Gebrüder Junghans beteiligt war, bauten sie für
ihre zugereisten Fachkräfte Häuser im Schwarzwaldstil. Denn viele Männer
waren an der Front, Arbeitskräfte rar, und man wollte die Leute auch durch
arbeitsplatznahes Wohnen halten. Sie hatten es idyllisch, die Wohnungen
sind bis heute beliebt.
Unter den heutigen Bewohnern findet sich auch eine „Stolperstein“-Patin.
Und doch bleibt der Ort unbehaglich. Vielleicht, weil vom Leid in den
längst abgerissenen Baracken eben nur noch nur „Stolpersteine“ zeugen,
während die Architektur im NS-Heimatstil bis heute steht. Vielleicht auch
wegen der bedrückenden Nähe, die geherrscht haben muss zwischen den
Profiteuren und denen, die aus ihren Dörfern gezerrt und nach Deutschland
verschleppt wurden.
So wie Zofia Lipka: Bei Kielce in Südostpolen geboren, wurde sie 1943 von
deutschen Soldaten auf einen LKW verladen und nach Hamburg verfrachtet.
Dort musste sie Deportationszüge reinigen, die aus dem Osten zurückkamen.
Kurz vor der Geburt ihres ersten Sohns versetzte man sie zur Deutschen
Kap-Asbest-Werke AG, wo sie ohne Schutzausrüstung arbeitete. Ihr 1944
geborener Sohn Wlodzimierz wurde wegen Mangelernährung mehrfach ins
Krankenhaus Langenhorn gebracht, wo er mit fünf Monaten auch starb.
## Nach dem Krieg als DP von Lager zu Lager
Als ihr zweiter Sohn Andrzej 1945 ins Krankenhaus sollte, weigerte sich
die Mutter. Fürchtete, man werde das Kind zu Tode spritzen – und brachte es
unter großen Mühen durch. „Im Lager war ich mir tagsüber selbst überlasse…
meine Mutter konnte mich nur abends nach schwerer Arbeit stillen“, erzählt
ihr Sohn, der heute deutscher Staatsbürger ist und mit dem deutschen Namen
Andreas Schuster in Hamburg lebt.
Nach dem Krieg seien sie als Displaced Persons von Lager zu Lager gezogen,
weil die Mutter nicht zurück nach Polen wollte. Denn dort wurden
Repatriierte nach 1945 misstrauisch als „Verräter“ empfangen. Und Stalin
schickte heimgekehrte Zwangsarbeiter oft als „Kollaborateure“ in
sowjetische Lager. Zofia Lipka blieb im Westen, gebar weitere Kinder,
heiratete einen Landsmann und starb 2002 mit 91 Jahren in Hamburg. Ihr Sohn
war nie in Polen. „Das ist nicht meine Heimat, denn meine Eltern waren ja
hier“, sagt der 75-Jährige.
16 Sep 2020
## LINKS
[1] /Wanderausstellung-Zwangsarbeit-in-Deutschland/!5246147
[2] /Reifenfirma-Continental-in-der-NS-Zeit/!5710747
[3] http://media.offenes-archiv.de/ss1_3_1_bio_2118.pdf
[4] https://www.gedenkstaetten-in-hamburg.de/gedenkstaetten/gedenkort/gedenktaf…
[5] /Aufarbeitung-auf-der-Buehne/!5293836
[6] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/
[7] https://www.zwangsarbeit-archiv.de/buecher_medien/literatur/b00490/index.ht…
## AUTOREN
Petra Schellen
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