# taz.de -- Reifenfirma Continental in der NS-Zeit: Schuhsohlen für die Wehrma… | |
> Später als andere hat der Gummikonzern Continental seine NS-Vergangenheit | |
> untersuchen lassen. Das Ergebnis: Zwangsarbeit war dort allgegenwärtig. | |
Bild: Dunkle Vergangenheit: Die Firma Continental profitierte vom verbrecherisc… | |
HANNOVER taz | „Zwölf Stunden schwere Arbeit am Fließband. Man muss im | |
Rhythmus eines rollenden Bandes drei Kilogramm schwere Gusseisenformen im | |
Tempo von drei Stück pro Minute heben und das von sechs Uhr morgens bis | |
sechs Uhr abends. Die Luft in der Abteilung war nicht zu atmen: Dünste von | |
Benzin, von Gummi, die Luft auf 35 Grad Celsius, ohne Möglichkeit zu lüften | |
(…).“ | |
So beschreibt eine französische Kriegsgefangene ihren Arbeitsalltag im Jahr | |
1944. Die Nazis hatten sie in das KZ Ravensbrück verschleppt und von dort | |
an die Fabrik ausgeliehen. Gemeinsam mit anderen Gefangenen musste sie | |
Gasmasken herstellen. Nicht selten denunzierten deutsche KollegInnen die | |
[1][ZwangsarbeiterInnen]: Wer das Pensum nicht schaffte, riskierte Prügel | |
von den KZ-AufseherInnen. | |
Profitiert hat von der Arbeit dieser ArbeitssklavInnen eine renommierte | |
deutsche Firma, die heute ein internationaler Konzern mit rund 240.000 | |
Mitarbeitern ist: die [2][Gummi- und Reifenfabrik Continental]. | |
Der Bericht der Gefangenen stammt aus einer Studie des Münchner Historikers | |
Paul Erker, die in diesen Tagen unter dem Titel „Zulieferer für Hitlers | |
Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit“ erscheint. | |
## „Rückgrat“ der NS-Wirtschaft | |
Das Fazit der Untersuchung, die Erker gemeinsam mit ManagerInnen von | |
Continental kürzlich vor JournalistInnen in Hannover vorstellte: Die Firma | |
war nicht nur irgendein Handlanger der Nazis, sie gehörte vielmehr zum | |
„Rückgrat“ der NS-Wirtschaft. | |
So schreibt Erker: „Wie alle anderen Unternehmen auch buhlte Continental um | |
Aufträge, sei es, dass man die Fertigung von Patronen und Gewehrtaschen aus | |
Gummi (anstatt Leder) anbot, von Koppeln, Tragriemen für Tornister und | |
Verschlusskappen für Geschütze, oder aber die Herstellung von | |
Kampftauchanzügen, schusssichere Treibstofftanks oder Batteriekästen.“ Um | |
sich hervorzutun, hätten die Continental-ManagerInnen keine Skrupel gehabt, | |
ihre Konkurrenz bei der Wehrmacht mit dem Hinweis anzuschwärzen, diese sei | |
nicht „arisch“ genug. | |
Ohne Continental und seine technologisch hochwertigen Reifen, sagt Erker, | |
hätten die modernen Düsenjäger von Heinkel und Messerschmitt, aber auch die | |
Sturzkampfbomber, „nie fliegen können“. | |
Und ohne die Schuhsohlen von Continental hätten die deutschen Soldaten | |
womöglich nicht so weit marschieren können. Um Sohlen zu testen, ließ die | |
SS Häftlinge im KZ Sachsenhausen täglich 30 bis 40 Kilometer laufen, auch | |
bei Regen und Schnee. Wer nicht mehr konnte, gar zusammenbrach, den | |
erschossen die Wachen. Continental schickte immer neue Ware, wertete die | |
Testergebnisse aus und ignorierte die Qualen der Menschen. | |
## Langes Warten auf Aufklärung | |
Rund 10.000 ZwangsarbeiterInnen schufteten im Dienste dieses Unternehmens, | |
das sich den Nazis schon kurz nach der Machtübernahme 1933 angebiedert | |
hatte – etwa mit großzügigen Spenden an die SS. Mit Aufmärschen, Appellen | |
und Transparenten wie „Die Schaffenden dieses Betriebes kämpfen mit Adolf | |
Hitler für den Weltfrieden“ wurde Continental bald ein Musterbetrieb der | |
NS-Wirtschaft. | |
Wie das geschehen konnte, wie jüdische DirektorInnen zu „freiwilligen“ | |
Rücktritten gedrängt wurden, wie immer mehr fanatische | |
HakenkreuzträgerInnen das Heft in die Hand nahmen, wie eiskalte | |
Geschäftsleute und Sadisten das Kommando ergriffen, all das zeichnet | |
Historiker Erker präzise nach. | |
Als entkräftete ausländische ZwangsarbeiterInnen weinend zusammenbrachen, | |
erklärte ein Manager: „Wenn sie tot sind, gibt’s neue.“ Und als eine | |
mitleidige deutsche Vorarbeiterin einmal um leichtere Schuhe für jene | |
Häftlinge bat, die mit den Füßen Maschinen bedienen mussten, hieß es: „Wa… | |
leichte Schuhe, das sind doch keine Menschen, das sind Viecher, denen auch | |
noch was Gutes tun, soweit kommt das.“ | |
Nach Kriegsende hat es 75 lange Jahre gebraucht, bis | |
Continental-ManagerInnen sich durchrangen, ihr Archiv zu sortieren und | |
einen Wissenschaftler zu beauftragen, die dunkle Geschichte ihres | |
Unternehmens aufzuarbeiten. Andere Konzerne in Deutschland waren schneller, | |
wenn auch immer noch sehr spät dran: Volkswagen, Bayer und Daimler etwa | |
haben sich in den 1980er und 1990er Jahren ihrer Vergangenheit gestellt. | |
## Ernüchternde Antworten | |
Warum es bei Continental so lange gedauert hat, vermochte Vorstandschef | |
Elmar Degenhart bei der Vorstellung der Studie nicht zu erklären: „Wir | |
können nicht für frühere Generationen des Managements sprechen, und wir | |
möchten denen auch keine Vorwürfe machen.“ Nun aber sei es an der Zeit, die | |
Historie zu „durchleuchten“. Dafür scheue die Firmenleitung auch nicht | |
davor zurück, „unbequeme Tatsachen und Vorgänge ans Tageslicht zu bringen�… | |
Ebenso unpräzise klang die Auskunft auf die Frage, ob Continental die | |
überlebenden Zwangsarbeiter entschädigt habe. Degenhart verwies auf die | |
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Bis zum Jahr 2007 hatte | |
diese Stiftung 4,37 Milliarden Euro an 1,66 Millionen ehemalige | |
Zwangsarbeiter in mehr als einhundert Ländern ausgezahlt. Das Geld stammte | |
von Unternehmen und der Bundesregierung gleichermaßen. ZwangsarbeiterInnen | |
erhielten in der Regel rund 2.500 Euro als Entschädigung. Die wenigen | |
überlebenden KZ-Häftlinge bekamen etwa 7.600 Euro. | |
Während des Krieges hatten die Gefangenen aus westlichen Ländern wie | |
Frankreich oder Belgien bei Continental 70 Pfennige verdient – am Tag. | |
Polnische Kriegsgefangene wurden mit 52 und sowjetische mit 20 Pfennigen | |
abgespeist. Für die KZ-Häftlinge aus Ravensbrück zahlte die Firma pro | |
Person und Tag vier Reichsmark an die SS. | |
Was Continental-Vorstand Degenhart nicht sagte: Erst massiver | |
internationaler Druck hatte die Bundesregierung und die deutschen | |
Unternehmen, die einst ZwangsarbeiterInnen beschäftigt hatten, im Jahr 2001 | |
dazu bewogen, insgesamt 10 Milliarden Euro bereitzustellen. | |
## „Geschichte dazu gekauft“ | |
Das passierte erst, nachdem Betroffene vor US-Gerichten Sammelklage | |
eingereicht hatten. Damit geriet das internationale Image der deutschen | |
Konzerne ins Wanken, der Verlust von Geschäften drohte. In den Jahren zuvor | |
hatten sich zahlreiche Firmen geweigert, Entschädigungen zu zahlen. Die | |
ZwangsarbeiterInnen seien ihnen von den Nazis aufgezwungen worden, lautete | |
nicht selten das Argument. | |
Nach dem Krieg hatte Continental mit Firmenübernahmen „auch Geschichte dazu | |
gekauft“, wie Degenhart sagte. Daher untersuchte Historiker Erker auch die | |
Vergangenheit von Unternehmen, die inzwischen zum Konzern gehören: Die | |
Reifenfabrikanten Semperit und Phoenix, der Tachohersteller VDO und die | |
Hydraulikfirma Alfred Teves (Ate). | |
Dabei unterschieden sich die Firmen offenbar darin, wie sie die ihnen | |
zugewiesenen in- und ausländischen ZwangsarbeiterInnen behandelten. | |
Zumindest in den Frankfurter und Berliner Werken von Teves zum Beispiel sah | |
es wohl nicht ganz so schlimm aus wie bei Continental. | |
Von Firmenchef Alfred Teves sind abfällige Äußerungen über die | |
Nationalsozialisten bekannt. In dessen Werkhallen bildeten sich | |
sozialdemokratische und kommunistische Widerstandsgruppen, dem Werksleiter | |
Wilhelm Daene gelang es gar im Werk Berlin-Wittenau, einige jüdische | |
ZwangsarbeiterInnen zu schützen und zu verstecken. | |
Und heute? Continental-ManagerInnen sprechen von „fortwährendem Lernen“ und | |
„gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“. Sie hätten aus der Vergangenheit | |
erfahren, wie schnell „Unternehmenskulturen unter dem Druck politischer | |
Regime kippen können“, sagt Vorständlerin Ariane Reinhart. | |
Damit sich nicht wieder „extreme politische Positionen ausbreiten“ können, | |
sagt Konzernvorstand Degenhart, wollen die Conti-ManagerInnen fortan „von | |
oben Werte vorleben“, Führungskräfte schulen sowie eine Gedenktafel | |
aufstellen – mit den Namen aller ZwangsarbeiterInnen. | |
Anmerkung: Der Autor ist Enkel eines Zwangsarbeiters im Berliner | |
Teves-Werk, der 1943 in Auschwitz ermordet wurde. | |
31 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Lorenz | |
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