# taz.de -- Forscherin über NS-Polizeirecht: „Terror folgte einem Reglement�… | |
> Ein Bremer Polizeichef sorgte für die Rechtsgrundlage, Menschen ohne | |
> Urteil ins KZ zu sperren. Nach dem Krieg machte er weiter Karriere. | |
Bild: Die Einteilung der KZ-Häftlinge in unterschiedliche Typen diente der Ent… | |
taz: Frau Hörath, ist Präventiv-Strafrecht immer NS-Unrecht? | |
Julia Hörath: Eine Aufgabe von Polizeiarbeit ist immer die Gefahrenabwehr, | |
ihr ist der Präventionsgedanke also inhärent. Das war schon vor dem | |
Nationalsozialismus so. Was Sie hingegen ansprechen, ist der | |
Paradigmenwechsel von einem Strafrecht, das sich auf die Vergeltung | |
vergangenen Unrechts bezieht, zur Verhütung künftiger Taten. Das war Anfang | |
des 20. Jahrhunderts kontrovers diskutiert worden. Der Nationalsozialismus | |
hat dann Änderungen im Strafrecht eingeführt, die in der Weimarer Republik | |
nicht konsensfähig waren. | |
Welche? | |
Sehr wichtig ist die [1][Sicherungsverwahrung]. Die ist im November 1933 | |
eingeführt worden, zugleich mit der polizeilichen Vorbeugungshaft. | |
Rechtliche Voraussetzung der Vorbeugungshaft war die | |
Reichstagsbrandverordnung vom Februar 1933. Sie ermöglichte es, unter | |
Berufung auf die Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand bestimmte Grundrechte | |
außer Kraft zu setzen. Nur so wurde ein Freiheitsentzug ohne richterliches | |
Urteil möglich. | |
Bei der Durchsetzung der Vorbeugungshaft nimmt laut Ihrem Aufsatz im | |
aktuellen Vierteljahresheft für Zeitgeschichte Bremen eine Vorreiterrolle | |
ein. Wieso? | |
Da muss ich etwas ausholen. Zunächst: Die Vorbeugungshaft wird 1933 | |
eingeführt, weil man diejenigen Verbrecher erfassen will, die man gerade | |
nicht überführen kann. Die wollte man präventiv im Namen des | |
Gesellschaftsschutzes inhaftieren können. | |
Also imaginäre Verbrecher? | |
Nein, das kann man so nicht sagen: In Vorbeugungshaft genommen werden | |
konnten nur sogenannte Berufsverbrecher. Die mussten in der Vergangenheit | |
mindestens dreimal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten | |
verurteilt worden und ihr Verbrechen musste aus sogenannter „Gewinnsucht“ | |
begangen sein. Es sind, gerade anfangs, Personen, die in einem langjährigen | |
Konflikt mit dem Strafrecht stehen – und die man dann, aus Polizeisicht | |
gesprochen, endlich wegsperren konnte. | |
Von welchen Delikten sprechen wir? | |
Das waren häufig spezialisierte Eigentumsdelinquenten, denen man | |
Gewinnsucht als Motiv unterstellen konnte, verbunden mit einem gewissen | |
fachlichen Können... | |
... wie [2][Geldschrankknacker]...? | |
... oder Fassadenkletterer. Bremen wird Vorreiter, indem es die | |
Vorbeugungshaft auf die Gruppe der Zuhälter ausdehnt. Gesellschaftlich war | |
das zwar eine geächtete Gruppe, auf die man gerade deswegen herabblickte, | |
weil sie – es geht dabei immer ums Arbeitsethos – ihren Gewinn nicht selbst | |
erwirtschaftet, aber sie war nicht im Begriff vom Berufsverbrecher erfasst, | |
schon weil die Strafen für Zuhälterei nicht hoch genug dafür gewesen wären. | |
Und das hat Bremen einfach so geändert? | |
Nein. Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass auch Terror und | |
Willkür im Nationalsozialismus einem gewissen Reglement folgten. Das | |
brauchte man nicht zuletzt für die Legitimierung gegenüber den ausführenden | |
Organen. Man konnte die Zuhälter nicht einfach als Berufsverbrecher | |
abstempeln und ins KZ stecken. | |
Aber Bremen hat’ s versucht? | |
Ja. Der Leiter der Bremer Kriminalpolizei, Conrad Parey, hat, unterstützt | |
vom Kommissar Helmut von Dorpowski, den Handlungsspielraum in der Frühphase | |
des Nationalsozialismus genutzt, um Zuhälter schon 1933 in Polizeihaft zu | |
nehmen. | |
Was war Parey für ein Typ? | |
Parey ist ein in der Weimarer Republik sozialisierter Jurist. Er ist | |
zunächst Richter und wird im Mai 1933 als Leiter der Bremer Kriminalpolizei | |
eingesetzt. Seine am kriminologischen Diskurs in Kaiserreich und Weimarer | |
Republik geschulten Aufsätze vermitteln den Eindruck, als sehe er sein | |
Wirken in Bremen als Umsetzung damals diskutierter, aber im | |
parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren gescheiterter Gedanken. Es gab in | |
der Polizei die Selbstwahrnehmung, dass die Polizei 1933 befreit worden | |
wäre von den Fesseln des Rechtsstaats und endlich durchgreifen konnte im | |
Dienste der Illusion, die Gesellschaft so von allem Übel befreien zu | |
können. | |
Und Bremens Beitrag dazu? | |
Parey und von Dorpowski gelingt es, argumentativ zu begründen, warum | |
Zuhälter doch in die Vorbeugungshaft mit einbezogen werden sollten. | |
Rechtshistorisch wichtiger als diese Ausweitung auf eine neue Gruppe ist | |
dabei ihre Ausweitung des Gefahrenbegriffs. | |
Warum ist das bedeutsam? | |
Zunächst gilt der Gefahrenbegriff der Reichstagsbrandverordnung, und der | |
ist relativ eng: Er ist eigentlich auf die Abwehr kommunistischer | |
Gewalttaten beschränkt. Was die Bremer nun machen, ist, in mehreren | |
Aufsätzen in der kriminologischen Fachpresse zu begründen, warum die | |
Zuhälter als Gefahr für die Volksgemeinschaft gelten sollen. Das ist der | |
Kniff. | |
Weil ich dann jeden, der mir nicht passt, als gefährlich definieren kann? | |
Genau. Das kann man in den Erlassen und Rundschreiben auch zeigen, die dann | |
ab 1937 ergehen: Das geht bis hin zur Ahndung von Verstößen gegen die | |
Straßenverkehrsordnung durch Vorbeugungshaft, da gibt es einen | |
Himmler-Erlass. Diese Ausweitung erfolgt dank der Begründung, die Parey und | |
von Dorpowski liefern: dass es sich um „Schädlinge an der | |
Volksgemeinschaft“ handele. Die staatsfeindliche Betätigung, die in der | |
Reichstagsbrandverordnung Voraussetzung für die Schutzhaft ist, wird zum | |
Sonderfall der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung | |
umgedeutet, dem eine Gefährdung durch Verbrecher gleichzusetzen sei. | |
Ist dieser Kampf gegen Prostitution Bremen-spezifisch oder gibt es das in | |
anderen Hafenstädten auch? | |
In der zeitgenössischen Wahrnehmung haben die Hafenstädte ein besonderes | |
Problem mit Prostitution. Das war ein Horizont, vor dem man gehandelt hat. | |
Und tatsächlich kann man ein ähnlich scharfes Vorgehen gegen das | |
Rotlicht-Milieu in Hamburg beobachten, auch zeitlich sehr früh, noch bevor | |
es reichsweite Regelungen dafür gab. | |
Und nach 1945 hat Herr Parey weiter Karriere gemacht? | |
Das hat er. Er wird in Stade Landgerichtspräsident und erhält ein | |
Bundesverdienstkreuz. Das hängt damit zusammen, dass die vorbeugende | |
Verbrechensbekämpfung, die Verfolgung von Berufsverbrechern und sogenannten | |
Asozialen, eben nicht als nationalsozialistisches Unrecht anerkannt worden | |
ist. Man hat sie als Polizeiarbeit mit etwas anderen Mitteln dargestellt. | |
Man sieht da keinen Bruch – und bezieht sich auch positiv auf sie. | |
Werden die Betroffenen denn heute als Opfer wahrgenommen und wird an sie | |
erinnert? | |
Wahrgenommen? Das möchte ich bezweifeln, auch wenn [3][nach einem langen | |
Hin und Her] auf Initiative von [4][Frank Nonnenmacher], Dagmar Lieske, | |
Andreas Kranebitter, Sylvia Köchl und mir der Bundestag im Februar die | |
sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher als NS-Opfer [5][anerkannt] hat. | |
Warum war das so schwierig? | |
Die Kontinuitäten der Ausgrenzung funktionierten auf verschiedenen Ebenen: | |
im kriminologischen Denken, in den Institutionen von Polizei und Justiz, | |
aber auch auf gesellschaftlicher Ebene, bis hinein in die | |
Geschichtswissenschaft. Menschen, die im Nationalsozialismus als soziale | |
Randgruppen verfolgt worden sind, zählten nach 1945 nicht plötzlich zu den | |
ehrbaren Bürgern. Sie lebten weiterhin am Rande der Gesellschaft – und die | |
Angehörigen leiden noch heute unter der Verfolgung ihrer Vorfahren. Diese | |
Stigmatisierung der Eltern oder Großeltern ist für viele immer spürbar | |
geblieben. | |
12 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Sicherungsverwahrung | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Sass | |
[3] https://www.gruene-bundestag.de/themen/kultur/asoziale-und-berufsverbrecher… | |
[4] https://www.fb03.uni-frankfurt.de/46106030/Prof__Dr__Frank_Nonnenmacher | |
[5] https://www.bundestag.de/presse/hib/666908-666908 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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