| # taz.de -- Vergessene Opfer der Nazis: Die Erinnerung wurde vertagt | |
| > Die Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ durch die Nazis | |
| > ist heute kaum bekannt. Das wollte der Bundestag ändern. Die Umsetzung | |
| > stockt. | |
| Bild: Späte Erinnerung: 2016 wurden die ersten Stolpersteine für als „Asozi… | |
| Berlin taz | Frank Nonnenmacher ist enttäuscht. Als der Bundestag im | |
| Februar 2020 beschloss, jene als Opfer des Nationalsozialismus | |
| anzuerkennen, die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den | |
| Konzentrationslagern gequält und ermordet wurden, war das auch ein Erfolg | |
| für Nonnenmacher: sein Onkel Ernst war einer von ihnen. Doch heute, mehr | |
| als ein Jahr nach dem Beschluss, ist kaum etwas passiert. „Und keiner hat | |
| nachgefragt“, bedauert Nonnenmacher, der den Bundestagsbeschluss mit einer | |
| breit getragenen Petition damals maßgeblich initiierte. | |
| [1][Alle Fraktionen außer der AfD stimmten im Bundestag dem Antrag der | |
| Großen Koalition zu]. Die beiden vergessenen Opfergruppen sollten Platz im | |
| öffentlichen Gedenken erhalten, ihre Biografien und die Ressentiments in | |
| einer Wanderausstellung erarbeitet und ihre Entschädigungsansprüche im | |
| Allgemeinen Kriegsfolgegesetz (AKG) betont werden. | |
| Bis heute ist das Grauen der Verfolgung kaum öffentlich bekannt. | |
| „Berufsverbrechern“ unterstellten die Nazis etwa ein kriminelles Gen, sie | |
| wurden als „Ballastexistenz“ diskriminiert. Als „Asoziale“ galten etwa | |
| Obdachlose, Alkoholkranke, Unangepasste. Zehntausende wurden zur Gefahr, zu | |
| „Schädlingen“ für das vermeintlich gesunde deutsche Volk erklärt. Sie | |
| wurden sterilisiert, gequält, verfolgt, ermordet. Während die Schicksale | |
| der Betroffenen heute fast vergessen sind, leben entsprechende Stereotype | |
| in der Gesellschaft weiter. | |
| Eine Wanderausstellung soll das ändern, beschloss der Bundestag. Die | |
| Gedenkstätte Flossenbürg und die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden | |
| Europas wurden mit der Konzeption beauftragt. Im September 2020 startete | |
| das Projekt, die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, | |
| sagte 1,5 Millionen Euro zu. | |
| ## Pandemie verzögert die Arbeit | |
| „Wir sind pandemiebedingt in deutlichem Zeitverzug“, bedauert Christa | |
| Schikorra, Leiterin der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Flossenbürg. | |
| Durch die Pandemie und die Schließung von Bibliotheken und Archiven sei die | |
| Arbeit deutlich erschwert worden. Zwei Stellen für wissenschaftliche | |
| Mitarbeiter:innen für das Projekt sind bis heute nicht ausgeschrieben, | |
| das soll bald passieren. Eine geplante Eröffnung im Jahr 2023 sei | |
| auszuschließen. | |
| Ein Sprecher der Staatsministerin für Kultur und Medien betont auf | |
| taz-Anfrage die Komplexität der Ausstellung. So gebe es „zahlreiche | |
| Querverbindungen zu anderen NS-Verbrechen“ sowie eine „besondere Diversität | |
| der Opfer“. Man plane digitale pädagogische Angebote und eine | |
| wissenschaftliche Tagung. | |
| Im Zentrum der Ausstellung stünde auch die „Kommentierung | |
| autobiographischer Berichte“. Dabei, erklärt Schikorra, sollten stets auch | |
| die „Bilder im Kopf der Besuchenden“ adressiert werden. Auch über eine | |
| Zusammenarbeit mit Angehörigen der Opfer denke man nach, eine „legitimierte | |
| Vertretung“ fehle leider, so Schikorra zur taz. | |
| „Das ist das Ergebnis eines [2][70-jährigen Ignorierens und 70-jähriger | |
| Scham]“, sagt Nonnenmacher. Nach 1945 erfuhren viele Betroffene vor allem | |
| Ablehnung und Unverständnis für ihre Erlebnisse und entschieden sich zu | |
| schweigen. Interessensvertretungen gründeten sie nicht, ihre | |
| Verfolgungsgeschichte behielten viele für sich. Bis zu ihrem Tod. „Man muss | |
| graben, forschen, gerade bei den nachfolgenden Generationen der Opfer“, | |
| betont der emeritierte Professor. | |
| ## Viele Opfer sind verstorben, die Stereotype leben weiter | |
| Neben der Erinnerung ging es in dem Bundestagsbeschluss auch um | |
| Entschädigungszahlungen. „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ sollten in … | |
| Liste der Leistungsempfänger:innen im Allgemeinen Kriegsfolgegesetz | |
| (AKG) aufgenommen werden. In dessen Härterichtlinien werden bisher | |
| Euthanasiegeschädigte, Zwangssterilisierte und Homosexuelle als Beispiele | |
| benannt. | |
| Das ist bis heute nicht passiert. Auf taz-Anfrage beteuert das | |
| Bundesfinanzministerium, an einer solchen Änderung zu arbeiten und sie „in | |
| Kürze“ dem Bundeskabinett vorlegen zu wollen. | |
| Die explizite Benennung würde an der „Rechtstellung der Betroffenen“ nichts | |
| ändern, so das Ministerium. Seit dem Erlass der AKG-Härterichtlinien im | |
| Jahr 1988 stünde ihnen „eine Einmalleistung in Höhe von 5.000 DM bzw. | |
| 2.556,46 Euro“ zu. Dies hätten seitdem 46 als „Berufsverbrecher“ und 288 | |
| als „Asoziale“ Verfolgte auch beantragt. Seit dem Bundestagsbeschluss von | |
| 2020 sei jedoch kein weiterer Antrag eingegangen, so das Finanzministerium. | |
| Viele Opfer dürften den Beschluss nicht mehr erlebt haben. | |
| Nonnenmacher ist pessimistisch. „Viele werden heilfroh und zufrieden sein, | |
| wenn es dann irgendwann mal eine Ausstellung gibt und die Sache für manche | |
| endlich abgehakt ist“, vermutet er. Aus dem Bundestag war während der | |
| Beratung des Antrags immer wieder zu hören, dass es [3][auch unter den | |
| Abgeordneten Skepsis gab]. | |
| Die Nennung in den AKG-Härterichtlinien ist Nonnenmacher wichtig. Doch er | |
| hat das Gefühl, ständig nachhaken zu müssen. „Und das ist doch eigentlich | |
| nicht meine Aufgabe“, bedauert Nonnenmacher. | |
| 29 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kevin Čulina | |
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