| # taz.de -- Sozialpädagogin über vergessene NS-Opfer: „Es ging um die Norm�… | |
| > Die Sozialpädagogin Christa Paul über Schicksale der sogenannten | |
| > asozialen KZ-Häftlinge, die nach 1945 lange nicht als Opfer anerkannt | |
| > wurden. | |
| Bild: Per Symbol eingeordnet in die Verfolgungsmaschinerie der Nazis: die sogen… | |
| taz: Wie sind Sie auf das Schicksal der sogenannten asozialen Häftlinge in | |
| den KZs aufmerksam geworden, Frau Paul? | |
| Christa Paul: Ich habe vor vielen Jahren zum Thema Bordelle in | |
| Konzentrationslagern recherchiert. Die Frauen, die in den | |
| Häftlingsbordellen der Konzentrationslager arbeiten mussten, waren in der | |
| Regel als sogenannte Asoziale inhaftiert. | |
| Wer fiel sonst in diese Kategorie? | |
| Das waren Menschen, die aus irgendwelchen Gründen nicht den | |
| nationalsozialistischen Vorstellungen von einem geordneten Leben | |
| entsprachen. Es waren Menschen, die auf der Straße gelebt haben, die keiner | |
| regelmäßigen Arbeit nachgegangen sind. Bei den Frauen waren es insbesondere | |
| solche, die sich nicht an die strikten Vorgaben für Prostitution gehalten | |
| haben. | |
| Was versprach man sich davon, diese Menschen ins KZ zu bringen? | |
| Auf jeden Fall eine Reglementierung; es ging darum, die Norm durchzusetzen | |
| und es war eine Mahnung für alle anderen. Es ging aber auch darum, dass die | |
| SS zu dem Zeitpunkt, wo diese Häftlingsgruppe in die Konzentrationslager | |
| verbracht wurde, Häftlinge für die Rüstungsbetriebe brauchte. Ziel war | |
| dabei aber nicht die Vernichtung durch Arbeit. | |
| Wie war das Verhältnis der anderen Häftlingsgruppen zu den sogenannten | |
| Asozialen? | |
| Es gab Vorbehalte: Die politischen Häftlinge fühlten sich diskreditiert | |
| dadurch, dass sie gemeinsam mit den sogenannten Asozialen inhaftiert waren. | |
| Deren Stigmatisierung und Ausgrenzung, die ja in der allgemeinen | |
| Bevölkerung auch durchaus vorzufinden war, hat sich innerhalb der | |
| Häftlingsgemeinschaft wiedergefunden. | |
| Von anderen Häftlingsgruppen weiß man, dass sie sich zu ihrem Überleben | |
| organisiert haben. Gilt das auch für sie? | |
| Nein, diese Gruppe hat sich nicht organisiert. Die Menschen hatten nicht | |
| das entsprechende politische Bewusstsein und auch keine Erfahrung, sich | |
| politisch zu organisieren und sie waren als Gruppe sehr heterogen. | |
| Hat das dazu beigetragen, dass sie nach 1945 bei den Entschädigungen so | |
| unter den Tisch fielen? | |
| Das hat bestimmt eine Rolle gespielt. Es gab in Bayern eine Gruppe, die | |
| sich frühzeitig organisiert hat, aber sie war nicht besonders erfolgreich. | |
| Wer sich nach dem Krieg organisiert hat, waren die Menschen, die | |
| zwangssterilisiert worden waren. Das waren nicht unbedingt Menschen, die im | |
| Konzentrationslager gewesen waren, aber sie stammten meist aus einer | |
| ähnlichen Bevölkerungsschicht. Wenn ich mir aber anschaue, wie schwer es | |
| schon die politischen Häftlinge hatten, eine Form von Wiedergutmachung | |
| durchzusetzen, dann stelle ich es mir zu der Zeit sehr schwer vor für die | |
| sogenannten Asozialen. Weite Kreise der Bevölkerung waren ja noch dem | |
| Nationalsozialismus verbunden. | |
| Gab es solche Kontinuitäten auch gerade in der Wahrnehmung? | |
| Es gibt etwa Kontinuitätslinien im Rahmen der Fürsorge. Da gab es schon | |
| während der Weimarer Republik starke Strömungen, die darauf abzielten, | |
| Menschen, die von der Norm abwichen, einzusperren, auch wenn sie nicht | |
| straffällig geworden waren. Da war die sogenannte Bewahrung. Das ist | |
| während der Weimarer Republik nicht umgesetzt worden, auch nicht während | |
| des Nationalsozialismus, weil die Fürsorge gegenüber der Polizei nicht | |
| durchsetzen konnte, dass sie die Kontrolle über diese Bevölkerungsgruppe | |
| hatte. Nach 1945 gab es wieder solche Bestrebungen der Fürsorge. | |
| Die politisch Verfolgten, Homosexuelle, allmählich auch Sinti und Roma | |
| genießen inzwischen gesellschaftliche Akzeptanz – für die sogenannten | |
| Asozialen gilt das noch immer nicht. | |
| Seit Anfang der 90er-Jahre gab es parlamentarische Initiativen, die dazu | |
| geführt haben, dass diese Menschen nach und nach auch Ansprüche auf | |
| Entschädigung geltend machen konnten. Das hatte auch damit etwas zu tun, | |
| dass die Grünen in den Bundestag gekommen waren und das Thema bewegten. Im | |
| Januar 2020 hat der Bundestag eine Anerkennung der sogenannten Asozialen | |
| und Berufsverbrecher als NS-Opfergruppe ausgesprochen. | |
| Schön – aber für die Betroffenen zu spät, oder? | |
| Ja, natürlich. Selbst in den KZ-Gedenkstätten sind sie erst spät | |
| thematisiert worden. | |
| Über Ihrem Aufsatz zum Thema steht „Vergessene Opfer?“. Ist das ein | |
| gezieltes Vergessen gewesen? | |
| Es ist bewusstes Handeln, eine fortgesetzte Ausgrenzung. Es gab schon in | |
| den 50er-Jahren Aussagen etwa von KPD- oder SPD-Mitgliedern, dass natürlich | |
| alle Häftlinge ein Recht auf Entschädigung hätten – und dann haben sie die | |
| politisch, rassisch oder religiös Verfolgten genannt, aber nicht die | |
| sogenannten Asozialen. | |
| Gab es jemals Stimmen, die dagegen gesprochen haben? | |
| Ein baden-württembergischer Justizminister, der sich aber nicht | |
| durchgesetzt hat. | |
| Wodurch ist letzten Endes Bewegung in das Thema gekommen? | |
| In den 90er-Jahren hat sich ein Blick auf den Nationalsozialismus | |
| entwickelt, in dem er als Phase der Moderne betrachtet wird. Da ging es | |
| darum, auch Sozialpolitik unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, etwa | |
| die staatliche Sozialdisziplinierung. Das hat auch für die Gegenwart | |
| sensibilisiert und für die Ausgrenzungsprozesse, die gegenwärtig | |
| stattfinden. | |
| 17 Jun 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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