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# taz.de -- Einsturzgefahr wegen Hohlräumen: Auf bröselndem Grund gebaut
> In Hannover müssen eine Straße gesperrt und ein Mehrfamilienhaus geräumt
> werden. Ein halbes Stadtviertel wurde auf alten Asphaltstollen gebaut.
Bild: Plötzlich unbewohnbar: das Haus in Hannover-Ahlem, davor ein Fahrzeug de…
Hannover taz | Weniger als 24 Stunden hatten die vier Mietparteien, um ihre
Sachen zu packen und ihre Wohnungen zu räumen. Immerhin hatte die Stadt
Hannover Arbeiter der städtischen Betriebe vorbeigeschickt, die beim Möbel
schleppen halfen. Und die Vermieterin war in der glücklichen Lage,
Ersatzwohnungen ganz in der Nähe anzubieten. Unheimlich ist das trotzdem:
„Akute Tagebruchgefahr“ – [1][so was kennt man sonst aus dem Harz oder dem
Ruhrpott].
Der hektische Auszug in der vergangenen Woche war der vorläufige Höhepunkt
in einem Drama, dass sich nun schon [2][seit ein paar Monaten im
Hannoverschen Stadtteil Ahlem abspielt]. Rund hundert Grundstücke mit 70
Häusern liegen in der Gefahrenzone.
[3][Große Teile der Siedlung wurden in den 1950er-Jahren über alten Stollen
gebaut]. In denen wurde von 1850 bis 1925 Asphalt abgebaut – zunächst über
Tage, dann bald auch unter Tage. Das ehemalige Bauerndorf Ahlem erlebte
dadurch einen rasanten Aufschwung. Im Heimatmuseum finden sich die
verwischten Schwarz-Weiß-Bilder von Menschen mit Schubkarren, Spitzhacke
und Schaufel, geisterhafte Gestalten mit dreckverschmierten Gesichtern.
In diesen Stollen spielte allerdings auch der historische Tiefpunkt der
Dorfgeschichte: 1944 mussten hier KZ-Insassen und Zwangsarbeiter schuften,
sie sollten das alte Stollensystem nutzbar machen, um die kriegswichtige
Produktion der Continental AG und des damals hier angesiedelten
Panzerwerkes der Maschinenfabrik Niedersachsen Hannover (MNH) unter die
Erde zu verlegen.
Auch Luftschutzbunker für die Bevölkerung befanden sich in den Stollen. Bei
Bombenalarm liefen die Einwohner an den ausgemergelten Gestalten vorbei,
berichtete eine Zeitzeugin dem NDR. „Das habe nicht nur ich gesehen, dass
haben alle gesehen, die in den Bunker gegangen sind“, sagte Ruth Gröne, die
damals elf Jahre alt war.
## Notdürftig zugeschaufelt
Rund 750 KZ-Häftlinge, überwiegend polnische Juden, sollen hier umgekommen
sein, die letzten wurden noch im April 1945 auf einen Todesmarsch Richtung
Bergen-Belsen getrieben. 250 Häftlinge blieben zurück, weil sie nicht mehr
marschfähig waren. Sie wurden wenige Tage später von amerikanischen
Soldaten – unter ihnen der spätere Außenminister Henry Kissinger – befrei…
Nach Kriegsende verfuhr man hier genauso, wie man an vielen anderen Orten
in Deutschland erst einmal mit der Vergangenheit umging: Notdürftig
zuschütten und drüber bauen. Man war ja mit Überleben beschäftigt und die
Stadt wimmelte von Ausgebombten, Vertriebenen und Displaced Persons,
Wohnraum wurde dringend gebraucht.
Allerdings hatte man nur die Eingänge zugeschüttet, die Stollen selbst
wurden nicht verfüllt, dazu waren das Baumaterial und die Arbeitskraft zu
kostbar. Das rächt sich nun. Lange Jahre wiegte man sich in Sicherheit.
Wohl auch in dem Glauben, dass die Schicht zwischen den alten Stollen und
den entstehenden Häuschen doch dick genug sein müsste – immerhin baute man
hier ja keine Hochhäuser, es entstanden größtenteils bescheidene
Einfamilienhäuser und ein paar zweistöckige Mehrfamilienhäuser.
Es ist auch nicht so, dass man die alten Gruben einfach vergessen hat: Die
Straßen heißen „Am Asphaltberge“, „Stollenweg“ oder sind nach den
Direktoren der Asphaltfabriken benannt. Auch in den Bebauungsplänen finden
sich Vermerke, für größere Bauvorhaben gab es Auflagen.
## Feilschen um die Kosten
Dummerweise ist es nun so, dass solche unterirdischen Hohlräume mit den
Jahren nicht stabiler werden, im Gegenteil. Theoretisch, als „latente“
Gefahr, war das jedem bekannt, auch der Stadt. Kleinere Absackungen soll es
immer wieder gegeben haben. Schon 2013 erklärte ein Gutachter, dass
dringend weitere Erkundungsbohrungen vorgenommen werden müssten. Doch das
scheiterte an ungeklärten Zuständigkeiten, wie die Hannoversche Allgemeine
Zeitung (HAZ) minutiös nachgezeichnet hat.
Die Stadt ging davon aus, dass hier das Landesamt für Bergbau, Energie und
Geologie (LBEG) zuständig sein müsste – wie für alle anderen Altlasten des
Bergbaus auch. Doch das weigerte sich. Der Asphaltabbau sei nie unter das
Bergrecht gefallen, bei dem Ausbau für die Kriegsproduktion oder als
Luftschutzbunker ist das mindestens strittig. Das übergeordnete
Wirtschaftsministerium stützt diese Interpretation.
Die Stadt versuchte sogar, dies vor dem Verwaltungsgericht klären zu lassen
– das ließ das Verfahren aber ruhen, weil es der Meinung war, das erst das
Innenministerium als Dienstaufsicht über den Streit zu entscheiden habe.
Dabei blieb es erst einmal. „Bis heute liegt uns keine Antwort vor“, sagte
der aktuelle Stadtbaurat Thomas Vielhaber der HAZ. Er hatte das Verfahren
von seinem Vorgänger geerbt und muss jetzt sehr schnell aktiv werden.
Im Sommer 2021 schlug eine eindeutige Alarmmeldung vom LBEG bei der Stadt
auf: Eine ähnliche Grube in Südniedersachsen hatte sich als
einsturzgefährdet erwiesen, man sollte die alten Asphaltstollen in Ahlem
nun dringend einer weiteren Prüfung unterziehen. Auch der Umweltminister
Olaf Lies (SPD), dessen Haus man als oberste Baubehörde eingeschaltet
hatte, drängte darauf, dass hier nun erst einmal die Gefahrenabwehr zu
geschehen habe, während Land, Region und Stadt weiter um Kostenübernahme
und Zuständigkeiten feilschen.
Das ist keine Kleinigkeit: Auf über zehn Millionen schätzt man die Kosten
für die Verfüllung der alten Stollen bisher. Erst einmal musste die Stadt
allerdings ein Spezialunternehmen damit beauftragen, in die Archive
abzutauchen und herauszufinden, wo die Erkundungsbohrungen überhaupt
angesetzt werden müssten. Schon das historische Kartenmaterial aus den
Asphaltzeiten ist teilweise widersprüchlich – die Erweiterungen aus den
Kriegszeiten sind gar nicht dokumentiert.
## Verfüllung dauert Jahre
Kurz vor Ostern begannen dann die ersten Probebohrungen – und sofort
häuften sich die Alarmmeldungen, weil die eingelassenen Kameras nicht
kartierte Hohlräume erfassten. Quasi über Nacht mussten Teile der
Heisterbergallee gesperrt werden – einer wichtigen Verbindungsstraße, neben
der auch die Straßenbahnstrecke verläuft. Auch die durfte zwei Wochen lang
nicht mehr fahren, erst als die Üstra ein eigenes Gutachten in Auftrag gab,
dass die Erschütterungen bei Schritttempo gering genug seien, konnte sie
die Wendeschleife hier vorsichtig wieder in Betrieb nehmen. Die beiden
Supermärkte an der Straße sind nach wie vor nur über einen
Zickzack-Parcours erreichbar und von Bauzäunen umstellt.
Bald soll die Begutachtung so weit abgeschlossen sein, dass die Stadt in
einer weiteren Bürgerversammlung am 24. Mai über die Ergebnisse informieren
und erste Sanierungspläne präsentieren kann. Mit dem Verfüllen wird man
aber sicher noch ein paar Jahre beschäftigt sein, deutete der Bauamtschef
auf einer Pressekonferenz schon einmal vorsichtig an.
Stadtbaurat Thomas Vielhaber wird allerdings nicht müde zu betonen, dass
die Anwohner keinesfalls zur Kasse gebeten werden sollen. Die Kosten würden
unter Stadt, Region und Land aufgeteilt – wie genau, darum wird weiter
gefeilscht.
9 May 2022
## LINKS
[1] /Bergbauschaeden-in-NRW/!5468823
[2] https://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-Hannover/Verwaltungen-Kommunen/…
[3] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hallo_niedersachsen/Die-Geschichte-d…
## AUTOREN
Nadine Conti
## TAGS
Straßen
Hannover
Zwangsarbeit
Schwerpunkt Nationalsozialismus
NS-Forschung
Bergbau
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