# taz.de -- Ausstellung über jüdische Zwangsarbeit: Lücken in der Firmengesc… | |
> Anne Allex erforscht die Geschichte der jüdischen Zwangsarbeiter*innen in | |
> Berlin. Eine Ausstellung zeigt erste Ergebnisse für Betriebe in | |
> Friedrichshain-Kreuzberg. | |
Bild: Die ehemalige Zwangsarbeiterin Vera Friedländer im Februar 2018 | |
Der Dienstverpflichtungsbescheid kam an ihrem 14. Geburtstag. Ab diesem | |
Tag, dem 9. September 1942, musste die 1928 geborene Ruth Winkelmann | |
Zwangsarbeit leisten. Zusammen mit anderen Mädchen sollte sie in einem | |
Unternehmen in Kreuzberg die Uniformen von toten Soldaten ausbessern, damit | |
sie danach weiterverwendet werden konnten. | |
Noch als Erwachsene erinnert sich Ruth Winkelmann daran, wie sehr die | |
Kleider stanken. Sie waren vorher nur grob mit Wasser gereinigt worden, | |
von Blut, Schweiß und Dreck, in einigen Taschen fanden die Mädchen noch | |
benutzte Kondome. | |
Auch die Schriftstellerin Vera Friedländer, ebenfalls 1928 geboren, musste | |
als junges Mädchen Zwangsarbeit leisten. Sie wurde in einer Schuhfabrik in | |
der Köpenicker Straße eingesetzt. Dort sortierte sie Schuhpaare. Sie | |
wunderte sich, wem diese Schuhe – ganz ohne Markierung oder Zettel – wohl | |
gehören mochten. | |
Erst später fand sie heraus, dass die Schuhe aus Auschwitz und Buchenwald | |
kamen, von den Menschen, die die Nazis dort vergast hatten. Sortiert und | |
ausgebessert, waren sie für die Berliner Bevölkerung bestimmt. | |
## Mehr Lager als bekannt | |
Aktuelle Schuhmodelle der Firma, bei der Friedländer Zwangsarbeit leisten | |
musste, gibt es auch heute noch in vielen Schuhläden zu kaufen. „Diese | |
Firma hatte weit mehr Lager und Stützpunkte in Berlin als bisher | |
behauptet“, sagt Anne Allex. „Es gab mindestens zwei solcher Stellen, an | |
denen Schuhe sortiert wurden. Bekannt war bisher nur die eine, die Vera | |
Friedländer beschrieben hat. Außerdem hatte die Firma fünf Lager“, erklärt | |
sie. | |
Insgesamt neun Adressen hat Anne Allex auf dem entsprechenden Plakat für | |
die Ausstellung „Zwangsarbeit der als Juden verfolgten Berliner | |
Bürger*innen zwischen 1939–1943“ in privaten Unternehmen in Friedrichshain | |
und Kreuzberg“ aufgelistet. Die Wirtschaftshistorikerin forscht seit | |
eineinhalb Jahren privat über Zwangsarbeit in Berlin. | |
Unterstützt wird sie von den Vereinen extramural und Fontanepromenade 15. | |
Dafür hat Allex vor allem Quellen aus Bibliotheken und dem Internet | |
ausgewertet. Biografien, Firmengeschichten, Listen. | |
„Das, was ich bisher gefunden habe, ist nur ein kleiner Ausschnitt“, sagt | |
sie. Als nächster Schritt stünde an, auch in die entsprechenden Archive zu | |
gehen. Doch dafür fehlte ihr bisher noch das Geld. Erste Erkenntnisse hat | |
Allex aber aus dem untersuchten Material bereits gewonnen. „Bisher war im | |
Berliner Bewusstsein, dass Siemens mit rund 3.300 Zwangsarbeiter*innen | |
herausragte“, sagt sie. „Ich habe aber schon jetzt mehrere Firmen gefunden, | |
die vergleichbar viele Zwangsarbeiter*innen beschäftigt haben.“ | |
## Vertraute Firmennamen | |
Ein Glühlampenproduzent, der unter anderem in der Oudenarder Straße und | |
am Warschauer Platz ansässig war, beschäftigte 2.600 Zwangsarbeiter*innen, | |
eine andere Beleuchtungsfirma aus der Andreasstraße in Friedrichshain hatte | |
3.000; die meisten waren Jüdinnen und Juden. | |
Ein Neuköllner Fahrzeugfabrikant mit einer weiteren Niederlassung in der | |
Lobeckstraße hatte 2.500 Zwangsarbeiter*innen. Dieses Unternehmen stellte | |
später auch Gaswagen her: Mit luftdichten Aufsätzen und einer Vorrichtung, | |
über die die Autoabgase in den hinteren Teil des Autos geleitet wurden, | |
baute die Firma die Lkws aus der eigenen Produktion zu Mordmaschinen um – | |
mithilfe der Zwangsarbeiter*innen, vermutet Allex. | |
„Schließlich gab es auch Unternehmen, die ohne jüdische | |
Zwangsarbeiter*innen gar nicht existiert hätten. Zum Beispiel eine | |
Schneiderei, die aus einem Geschäftsführer und 96 Zwangsarbeiter*innen | |
bestand“, sagt Allex. | |
Ein paar dieser Firmen gibt es heute nicht mehr oder nicht mehr an den | |
damaligen Adressen. Doch es sind nicht nur vertraute Straßennamen, sondern | |
auch vertraute Firmennamen, die Allex auf den Plakaten einer ersten | |
Ausstellung ihrer Forschungsergebnisse zusammengestellt hat, Osram etwa | |
oder Salamander. Firmen, deren Glühbirnen, Halogenlampen und Schuhe auch | |
heute noch gekauft werden. | |
## Wenig Auseinandersetzung | |
Viele der Unternehmen, die es auch heute – ob unter altem oder neuem Namen | |
– noch gibt, haben sich laut Anne Allex selbst bisher nur selten damit | |
auseinandergesetzt, dass sie in der Nazi-Zeit Zwangsarbeiter*innen | |
eingesetzt haben. Oft gebe es in den Betriebsgeschichten eine Lücke | |
zwischen 1930 und 1947, sagt Allex – so, als habe diese Zeit gar nicht | |
existiert. | |
„Unsere Forschung kann die Unternehmen vielleicht anregen, ihre Geschichte | |
aufzuarbeiten“, meint sie. „Ich denke auch, dass sich Firmen, bei denen | |
Menschen Zwangsarbeit leisten mussten, finanziell an der Erinnerungskultur | |
Berlins beteiligen oder in den Zwangsarbeiterfonds einzahlen sollten, weil | |
sie damals davon profitiert haben.“ | |
24 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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