# taz.de -- Protest gegen Nazis: Die mutigen Frauen der Rosenstraße | |
> Tausende jüdische Zwangsarbeiter wurden bei der „Fabrik-Aktion“ der Nazis | |
> verhaftet. Frauen und Kinder protestierten. Eine Zeitzeugin erinnert | |
> sich. | |
Bild: Gedenktafel am einstigen Sammellager in der Rosenstraße in Berlin | |
Die Litfaßsäule direkt vor der Rosenstraße 2-4 wurde ihr Stammplatz. Von | |
dort hatte Ruth gute Sicht auf die Fenster des Gebäudes der Jüdischen | |
Gemeinde. Eine Woche lang kam die damals 11-Jährige mit ihrer Mutter und | |
dem zwei Jahre älteren Bruder Georg hierher, um den Vater zu sehen. | |
Der Fotograf Abraham Pisarek war in der Rosenstraße zusammen mit rund 2.000 | |
anderen in „Mischehe“ lebenden Juden inhaftiert worden, vor allem Männern. | |
Hunderte Ehefrauen, Kinder, Verwandte kamen darauf Tag für Tag in die | |
kleine Straße nahe dem Hackeschen Markt. | |
Ruth Gross, geborene Pisarek, ist heute 86 Jahre alt und erinnert sich: | |
„Man ging auf und ab und guckte immer auf die Fenster, den Eingang. Dann | |
kamen Polizisten, haben gesagt, gehen Sie weiter, Sie dürfen hier nicht | |
stehen bleiben. Ich bin um meine Litfaßsäule herum. Die anderen sind in | |
Seitenstraßen gegangen und später wiedergekommen.“ | |
Vor 75 Jahren, am 27. Februar 1943, begann die Gestapo eine großangelegte, | |
reichsweite Verhaftungswelle, von den Opfern später „Fabrik-Aktion“ | |
genannt. Damals lebten von ursprünglich 500.000 jüdischen Deutschen nicht | |
einmal mehr 75.000 im Reich, zwei Drittel von ihnen in Berlin. Ein Großteil | |
von ihnen war bis dahin nicht deportiert worden, weil man sie als | |
Zwangsarbeiter missbrauchte. Nun sollten sie auf Hitlers Geheiß durch | |
ausländische Zwangsarbeiter ersetzt werden. | |
## Rund 9.000 Juden wurden an diesem Tag verhaftet | |
In Berlin umstellte die Gestapo am frühen Morgen über 100 Fabriken. Rund | |
9.000 Juden wurden an diesem und den folgenden Tagen verhaftet und in | |
verschiedene Sammellager gebracht: ins Konzerthaus Clou in der Mauerstraße, | |
in zwei Kasernen in Reinickendorf und Moabit, in die Synagoge in der | |
Levetzowstraße in Moabit, ins jüdische Altersheim in der Großen Hamburger | |
Straße. | |
In das Gebäude der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße brachte die | |
Gestapo die, die in „Mischehe“ lebten, also mit einer „Arierin“ oder ei… | |
„Arier“ verheiratet waren – was ihnen einen gewissen Schutz gab, zumindest | |
bis dahin. | |
Ruth Gross, deren Mutter Ostpreußin aus St. Petersburg war, erzählt: | |
„Natürlich hatten wir wahnsinnige Angst. Man wusste ja damals schon, wo die | |
Deportationszüge hingingen und dass die Leute nicht zurückkommen würden. | |
Aber wir dachten, wenn wir jetzt immer in die Rosenstraße gehen, dass wir | |
irgendwie aufpassen könnten.“ Ruth hatte ihren Vater schon am zweiten Tag | |
an einem Fenster im dritten Stock entdeckt. „Er winkte mit dem Briefchen, | |
das wir in das Stullenpaket hineingelegt hatten.“ Zum Glück waren die | |
Ordner an der Tür jüdische Männer, und manche ließen sich überreden, | |
Päckchen zu überbringen. | |
## Nur die Juden aus „Mischehen“ wurden entlassen | |
Rund 7.000 Verhaftete wurden in den kommenden Tagen nach Auschwitz | |
deportiert, nur die Juden aus „Mischehen“ wurden nach und nach entlassen. | |
Wegen des Protests ihrer Angehörigen? | |
Vermutlich nicht, sagen heute die meisten Historiker. Wahrscheinlicher ist, | |
dass sie ohnehin nicht deportiert werden sollten, um die „arische“ | |
Verwandtschaft zu schonen. Ihre Verhaftung diente nach dieser Lesart | |
schlicht der Überprüfung ihres Status. | |
Die Bedeutung des Frauenprotests schmälert das keineswegs, schreibt der | |
geschäftsführende Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, Andreas | |
Nachama, im Vorwort zum Buch „Gedenkort Rosenstraße 2–4“. „Der | |
Frauenprotest war singulär und ist deshalb von größter Bedeutung. Selbst | |
wenn der Protest gescheitert wäre und die Verhafteten deportiert worden | |
wären, gibt es in der zwölfjährigen NS-Geschichte kein vergleichbares | |
Ereignis zivilen Protests einer größeren Gruppe in der Öffentlichkeit über | |
mehrere Tage.“ | |
## Frauen, die sich was trauten | |
So sieht es auch Ruth Gross. „Die Frauen waren schon mutig. Man hätte ja | |
sagen können, nein, da traue ich mich nicht hin. Aber diesen Gedanken gab | |
es gar nicht. Das ist ja auch normal, dass man für seine Kinder durchs | |
Feuer geht oder für den Ehemann. Insofern war das keine politische Aktion, | |
das war eine Aktion von normalem Verhalten.“ | |
Eine Woche nach seiner Verhaftung kam der Vater zurück nach Hause. „Am 6. | |
März, Sonnabend früh, ist er entlassen worden, daran erinnere ich mich | |
genau. Er kam nach Hause, war ganz elend, hat erst mal gegessen, gebadet | |
und geschlafen. Dann ist er am frühen Nachmittag gleich zur Polizei, um | |
sich zu melden. Er war so besorgt, dass sie ihm sonst einen Strick daraus | |
drehen.“ | |
Abraham Pisarek überlebte als Zwangsarbeiter als einer von wenigen tausend | |
Juden in Berlin. Er musste sich jeden Dienstag bei einer Polizeiwache in | |
der Hannoverschen Straße melden. Nach dem Krieg arbeitete er sofort wieder | |
als Fotograf. Über die Sowjets fand er sogar zufällig sein von den Nazis | |
beschlagnahmtes Fotoarchiv wieder. Einen Teil davon bewahrt Tochter Ruth | |
zusammen mit geretteten Zeitdokumenten, etwa der polizeilichen Meldeliste, | |
in ihrem Haus in Zehlendorf auf. | |
Über ihr Überleben im Nationalsozialismus spricht Ruth Gross dagegen bis | |
heute nur selten. „Ich bin kein ‚lebender Zeitzeuge‘“, sagt sie. „Ich… | |
zwar einer, aber keiner, der herumgeht und erzählt. Ich habe hier genug zu | |
tun mit den Fotos meines Vaters. Und das Erinnern ist mir kein Vergnügen. | |
Es packt und verfolgt einen immer wieder und man kann einfach nicht | |
begreifen, wie das alles möglich war.“ | |
27 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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