| # taz.de -- Deutsche Gedenkkultur: Privileg und Gedenken | |
| > Zwischen 8. Mai und Mbembe: Es ist Zeit, eurozentrische Geschichtsbilder | |
| > zu überwinden – gerade in Deutschland. | |
| Bild: Ein Soldat der U.S. 12. Armored Division verhaftet deutsche Soldaten im A… | |
| Zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus trugen sieben Millionen | |
| Soldaten aus den Kolonien bei, doch der Sieg war immer weiß. General de | |
| Gaulle wollte Afrikaner nicht ins befreite Paris einmarschieren sehen – das | |
| Wetter dort sei für sie nicht bekömmlich, sagte er. | |
| Bei den US-Truppen kämpfte eine Million Afroamerikaner, doch auf den Fotos | |
| von der Befreiung der Lager Buchenwald und Dachau sind die beteiligten | |
| schwarzen Soldaten nicht zu sehen. Als sie heimkamen, gab es statt | |
| Medaillen segregierte Plätze im Bus. „Die Nationen, die gegen den | |
| Nationalsozialismus gekämpft hatten, waren noch viele Jahre nach Kriegsende | |
| von der rassischen Minderwertigkeit der Schwarzen überzeugt“, notierte 1978 | |
| der jüdisch-amerikanische Historiker George L. Mosse, „und sie schienen | |
| nicht zu erkennen, dass jeglicher Rassismus – ob er nun auf Schwarze oder | |
| auf Juden zielte – aus demselben Stoff war.“ | |
| Derselbe Stoff? Über die Annahme des Emigranten, die großen Antihumanismen | |
| seien wesensähnlich, wird heute ein Muster neuer Abgrenzungen geworfen. Der | |
| Antisemitismus erstrahlt darin wie ein dunkler Solitär des Bösen, gleichsam | |
| ohne ideologische Verwandtschaft. Und es gibt ihm gegenüber nur zwei | |
| Kategorien von Menschen: Reine und Schmuddelige. Die Reinen dürfen richten. | |
| Ob ihnen dabei Rassismen unterlaufen, ist nicht von Belang, befleckt die | |
| Reinheit nicht. | |
| Als [1][Achille Mbembe] in Deutschland von etablierten Institutionen | |
| hofiert wurde, erfüllte er bereits eine Funktion: Wer einen schwarzen | |
| Philosophen ehrt, stellt sich auf modische Weise frei von Rassismus. Nun | |
| ist die Party vorbei, Mbembe wird umgekehrt funktionalisiert: das | |
| postkoloniale Denken, ab in die Schmuddelecke. Niemand nennt ihn direkt | |
| einen Antisemiten, doch der Vorwurf hängt über ihm und wird bleiben. | |
| Man muss Psychologie zu Rate ziehen, um sich die Ironie zu erklären: | |
| Während sich Intellektuelle darüber erhitzen, welche Israel-Vergleiche ein | |
| gebürtiger Kameruner ziehen darf, ziehen auf deutschen Straßen | |
| Corona-Protestler auf, die sich Judensterne anheften und Anne-Frank-Bilder | |
| hochhalten, gegen die „Hygienediktatur“. Wann wurden jüdische Opfer zuletzt | |
| so verhöhnt? | |
| Das Missverhältnis, was die Aufmerksamkeit für Gefahren betrifft, lässt | |
| sich zumindest teilweise mit einem seltsamen Besitzanspruch auf die | |
| Interpretation der Schoah erklären. Ein deutsches Phänomen, klassisch | |
| verkörpert vom Antisemitismusbeauftragten [2][Felix Klein]. Mbembe habe als | |
| „ausländischer Wissenschaftler“ „eingegriffen“ in eine Frage, die zur | |
| deutschen Identität gehöre. Bei dem „Philosophen aus Afrika“ gehe vieles | |
| durcheinander, „und hier müssen wir doch mal ganz klare Linien einziehen, | |
| um zu sehen, was ist zulässig […].“ | |
| Finger weg von unserer Schoah! Welch eine Schulmeisterei. Worin wurzelt der | |
| Glaube, sich das leisten zu können? In der exklusiven Beziehung zu Israel. | |
| Stramm an Israels Seite zu stehen, was immer dessen Staat und Regierung | |
| unternehmen, ist ein mächtiger Quell der Entlastung. Die meisten Deutschen | |
| sind heute überzeugt, es habe in der eigenen Familie keine TäterInnen | |
| gegeben. Die einstige Schuld hat sich abstrahiert, und für dieses Abstrakte | |
| gibt es die Beziehung zu Israel. Eine vergleichbare Identifikation mit den | |
| Opfern hat sich beim Kolonialismus nicht entwickelt. Wo kein massenhaftes | |
| Schuldgefühl entstand, ist auch keine Schuldabwehr nötig. | |
| Es gibt gute Gründe, die Schoah wegen des Ausmaßes und des Charakters der | |
| Vernichtung als einzigartig zu betrachten. Aber die Singularität taugt | |
| nicht als Waffe, um anders gelagerten Schmerz in die zweite Reihe zu | |
| verweisen – und schon gar nicht darf sie Waffe in der Hand von Deutschen | |
| sein. Warum fällt es so schwer zu dulden, dass Menschen, die nicht unsere | |
| Tätergeschichte teilen, einen anderen Blick auf Israel haben? Für die | |
| Nachfahren von Kolonisierten, die seit Jahren ein deutsches Mahnmal für | |
| koloniales Unrecht fordern, ist es ein weißes Privileg, ausschließlich des | |
| Holocausts zu gedenken. | |
| Bezüge zu anderen Verbrechen herzustellen, mindert das Gewicht der Schoah | |
| nicht. Hannah Arendt hat bereits beschrieben, wie frühkoloniale Vorgänge im | |
| südlichen Afrika die Entstehung eines modernen „Rassenantisemitismus“ | |
| förderten; den Buren sei jeder Jude wie ein „weißer Neger“ erschienen. | |
| Heute stehen wir an einer Gabelung: zwischen einem verengten Gedenken, das | |
| alles auf den Fixpunkt Israel setzt, und einer neuen Weise, [3][die Schoah] | |
| in Beziehung zu setzen zu anderen epochalen Verlusten an Humanität. In der | |
| Einwanderungsgesellschaft treibt manche dazu auch ein Gefühl eigener | |
| Gefährdung. Gleichzeitig erzwingen Forderungen aus dem globalen Süden, | |
| verdrängtes Unrecht anzusehen. Die Niederlande, 1945 eben erst befreit, | |
| konnten ein freies Indonesien nicht ertragen, kämpften mit Massakern um die | |
| Kolonie. Kürzlich sprach ein Gericht in Den Haag Hinterbliebenen eine | |
| Entschädigung zu, der Staat hatte sich lange gewehrt. Europa lernt mühsam, | |
| seine außereuropäischen Opfer zu respektieren. | |
| Was die Schoah betrifft, so wird sie womöglich weniger deutsch, ohne dass | |
| dies von den Deutschen die Verantwortung nähme. Vorstellbar ist das nur als | |
| tastender Prozess. Aber warum könnten, wenn es um Erziehung zur Empathie | |
| geht, künftig nicht Nachfahren von Überlebenden der Schoah und des | |
| namibischen Genozids gemeinsam in deutschen Schulklassen sitzen? | |
| Das Münchner NS-Dokumentationszentrum bat internationale Künstler, in einen | |
| Dialog um Erinnerung einzutreten; unter anderem ist dort nun zu sehen, wie | |
| ein indigener Maler Kanadas weiße Mythen dekonstruiert. Die Kunstwerke | |
| sollen, nach einer Formulierung von James Baldwin, „Fragen offenlegen, die | |
| bisher durch Antworten verborgen wurden“. | |
| 13 May 2020 | |
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