| # taz.de -- Geschichtsaufarbeitung in Deutschland: Aufarbeitung ist keine Impfu… | |
| > Die Deutschen haben in ihrer Vergangenheitsbewältigung gelernt, die | |
| > Perspektive zu wechseln. Den USA steht dies erst noch bevor. | |
| Als [1][Richard von Weizsäcker] 1985 seine berühmte Rede hielt, lebte ich | |
| schon drei Jahre in Westberlin. Obwohl ich nach Deutschland als Doktorandin | |
| für Philosophie gekommen war, waren meine Kenntnisse der jüngeren deutschen | |
| Geschichte inzwischen nicht schlecht. Kurz nach meiner Ankunft begann das | |
| stadtweite Gedenken zum 50. Jahrestag der Machtergreifung; ich habe beinahe | |
| jede Veranstaltung besucht. In den Bekanntenkreisen, in denen ich | |
| verkehrte, wurde dauernd über Vergangenheitsaufarbeitung gesprochen. | |
| Zerknirscht erzählten Freunde von ihren Nazi-Eltern; einige verrieten, dass | |
| ich sie immer an Dachau erinnerte. (Meistens war ich die erste Jüdin, der | |
| sie begegnet sind.) Und dennoch konnte ich die Aufregung über Weizsäckers | |
| Rede so gar nicht verstehen. Der Inhalt schien mir fürchterlich banal: | |
| Deutsche haben gelitten, aber andere Völker noch mehr, schließlich hat | |
| Deutschland den Krieg begonnen. Wer brauchte solche | |
| Selbstverständlichkeiten zu hören? Denn für jeden, der nicht in der | |
| Bundesrepublik aufgewachsen war, enthielt die Rede nur Binsenweisheiten. | |
| Doch damit brachte der Bundespräsident die Nation in Einklang mit der Welt. | |
| Für die war Deutschland ein Land der Täter. Selbst der renommierter | |
| Historiker Neil MacGregor, Gründungsintendant des Humboldt Forums, | |
| behauptete 2015 in einer BBC-Sendung zur deutschen Geschichte, die | |
| Trümmerfrauen hätten sich unmöglich als Opfer verstehen können – im | |
| Gegensatz zu den Bürgern von London, die ebenfalls Trümmer zu beseitigen | |
| hatten. Warum wollte es nicht in unsere Köpfe, dass sich die meisten | |
| Deutschen ausgerechnet als die größten Kriegsopfer verstanden? | |
| Zum einen erschienen es den Deutschen nicht erwähnenswert; dafür war das | |
| Gefühl zu selbstverständlich. Zum anderen war das Foto von Willy Brandt vor | |
| dem Denkmal des Warschauer Ghettos das Bild von Nachkriegsdeutschland, das | |
| die ausländische Wahrnehmung prägte. Weil die Geste der Reue uns | |
| selbstverständlich erschien, nahmen wir sie für typisch. Kaum einer wusste, | |
| wie oft Brandts Geste in der BRD kritisiert wurde, oder dass die CDU | |
| Wahlkämpfe gewann, in denen sie versuchte, Brandt seine – vom Ausland so | |
| bewunderte! – Emigration zum Verhängnis zu machen. | |
| Heute kann ich die damals als so banal empfundene Weizsäcker-Rede schätzen. | |
| Selbst wenn, wie Alexandra Senfft mit Recht betont, er die Schuld seiner | |
| eigenen Familie dabei verdrängt. Trotzdem forderte die Rede einen | |
| Perspektivwechsel, der tatsächlich historisch war. Jeder Mensch neigt dazu, | |
| sich, seine Familie, seine Nation zu idealisieren; wem das nicht gelingt, | |
| wird sich als Opfer stilisieren. Wer will schon die Scham empfinden, die | |
| unweigerlich mit der Anerkennung der eigenen Schuld verbunden ist? | |
| Insofern war [2][Björn Höckes Frage, welche andere Nation ein Denkmal der | |
| Schande im Herzen ihrer Hauptstadt errichtet hat], richtig; nur seine | |
| Schlussfolgerung war falsch. Es geht nun darum, dieses Signal als Leistung | |
| anzuerkennen, denn Deutschland ist die erste Nation, die die Perspektive | |
| vom Opfer zum Täter gewechselt hat. | |
| ## Südstaaten verstehen sich noch immer als Opfer | |
| Um diese Leistung zu verstehen, muss man vergleichen. 155 Jahre nach dem | |
| Ende des amerikanischen Bürgerkriegs ist dieser Perspektivwechsel in den | |
| USA noch nicht vollzogen. Die Südstaaten, die einen Krieg begannen, um die | |
| Sklaverei fortzusetzen zu können, werden immer noch als Opfer verstanden, | |
| und nicht nur von den Südstaatlern selbst. (Donald Trump hat kürzlich den | |
| Film „Vom Winde verweht“ – eine reine Verklärung des KuKluxKlan – als | |
| Vorbild empfohlen.) | |
| Die Städte des Südens lagen im Schutt und Asche, die Männer waren tot, | |
| verwundet, oder in Kriegsgefangenschaften, die Frauen und Kinder haben | |
| gehungert und gelitten, fremde Truppen besetzten ihre Häuser. Und die | |
| blöden Yankees haben ihnen den letzten Rest gegeben, indem sie den | |
| Südstaatlern die Schuld gaben – bloß weil sie ihre Freiheiten und ihre | |
| Heimat zu verteidigen versuchten! | |
| Verbringen Sie einige Tage in Mississippi, dann werden Sie heute die | |
| gleichen Litaneien hören, die in der Bundesrepublik bis 1985 gang und gäbe | |
| waren. Die Opfergeschichte wird nicht nur in Tausenden von Denkmälern | |
| festgehalten, die die Soldaten der Konföderation glorifizieren, sondern in | |
| Filmen und Liedern, die in den ganzen USA präsent sind. (Kenner der | |
| amerikanischen Musik können sich etwa über Joan Baez’s Aufnahme von „The | |
| Night They Drove Old Dixie Down“ wundern.) | |
| Doch Scham tut gut, erzählte mir Bryan Stevenson, denn nur durch Scham wird | |
| etwas verändert. Stevenson ist ein afroamerikanischer Rechtsanwalt, dessen | |
| Arbeit darin besteht, Gefangene vor der Todesstrafe zu retten, und dessen | |
| Buch darüber breite Bewunderung unter fortschrittlichen Amerikanern | |
| gefunden hat. Vielleicht noch wichtiger ist sein Denkmal für die Tausende, | |
| die dem Lynchmord zum Opfer fielen. Das Denkmal ist das erste, der den | |
| Blick auf diese Schande richtet: nach der Abschaffung der Sklaverei wurden | |
| verschiedenste Wege gefunden, schwarze Amerikaner in virtueller Sklaverei | |
| zu halten, bis hin zum Mord. | |
| Das „National Memorial for Peace and Justice“ – so der offizieller Name d… | |
| Denkmals – ist atemberaubend genug, um eine Reise nach Alabama zu | |
| rechtfertigen. Die Inspiration dafür kam Stevenson, als er Deutschland | |
| besuchte. Dort war er erstaunt von der Erinnerungslandschaft, wie auch von | |
| der Bereitschaft, mit der Deutsche offen über ihre Geschichte sprachen, in | |
| der Hoffnung, die Zukunft anders zu gestalten. Das wünscht er sich auch für | |
| die USA, die teils immer noch die Sklavenhalter heroisiert. | |
| Von der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung zu lernen heißt nicht, diese | |
| Aufarbeitung zur Erfolgsgeschichte zu erklären. Vor allem können andere von | |
| den Deutschen lernen, wie schwer der Weg zu diesem Perspektivwechsel ist. | |
| Selbst bei den schwersten Verbrechen wird es Widerstand geben, die eigene | |
| Schuld zu erkennen. Es wird immer Menschen geben, die Entlastungen suchen, | |
| in dem sie auf die Sünde der anderen zeigen, um die eigene zu vergessen. | |
| Und es wird immer Menschen geben, die vor Nestbeschmutzung warnen. | |
| Die Erkenntnis, dass solche Widerstände sich durch die deutsche | |
| Nachkriegsgeschichte ziehen, ist für amerikanische KollegInnen ermutigend, | |
| denn angesichts ähnlicher Opposition kämpfen sie gelegentlich mit | |
| Resignationsgedanken. Doch jeder Fortschritt produziert Widerstand. Wer | |
| nach dem Aufstieg der AfD bereit ist, die deutsche | |
| Vergangenheitsaufarbeitung als nutzlos zu betrachten, verkennt die Natur | |
| des Fortschritts. Vergangenheitsaufarbeitung ist keine Impfung, die das | |
| Aussterben des Rassismus garantiert. | |
| International erleben wir gerade eine Welle von Fremdenfeindlichkeit, die | |
| von Texas über England bis Myanmar reicht; die Auseinandersetzung mit | |
| seiner Vergangenheit hat Deutschland vor den schlimmsten Folgen bisher | |
| bewahrt, die in Nachbarländern wie Polen und Frankreich präsent sind. Nun | |
| geht es darum, die Auseinandersetzungen zu erneuern. | |
| ## Es gibt Opfer und Täter, aber auch Helden | |
| Das wird aber nur möglich, wenn wir die Leistungen anerkennen, die schon | |
| erreicht sind, zusammen mit den Fehlern, die auf dem Weg gemacht worden | |
| sind. Kein Volk kann sich auf Dauer nur als Tätervolk verstehen; es muss | |
| ein differenzierter Blick auf die eigene Geschichte entstehen, der neben | |
| Opfern und Tätern auch Helden erlaubt. | |
| Weizsäckers Rede brachte die Bundesrepublik nicht nur in Einklang mit dem | |
| Ausland, sondern auch – für kürzeste Zeit – mit der DDR, die den 8. Mai | |
| immer als Tag der Befreiung gefeiert hat. Friedrich Schorlemmer etwa | |
| erzählte mir, dass er die Rede auch als eine Rede über die [3][deutsche | |
| Einheit] erlebte. Doch der Einklang hielt nicht an; nirgendwo sind die | |
| Klüfte zwischen Ost- und Westdeutschen tiefer als bei Fragen zur | |
| Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. | |
| Wer den Blick auf die Antifaschisten lenken will, riskiert westdeutsche | |
| Häme; wird er nicht als Stalinist verdächtigt, wird er bestenfalls als | |
| Naivling bezeichnet. (Hier schreibt eine, die das ständig erlebt). Doch den | |
| Vorwurf, der [4][Antifaschismus der DDR] sei verordnet gewesen, habe ich | |
| nie verstanden. War es nicht richtig, nach dreizehn Jahren Faschismus den | |
| Antifaschismus zu verordnen? Ist es nicht die Abwesenheit jeglicher | |
| Verordnung, die immer wieder an der Adenauer-Regierung kritisiert wird? | |
| Die Zahlen belegen es: In der DDR wurden mehr Prozesse gegen Nazis geführt, | |
| weniger Nazis im Amt gelassen, mehr Schulunterricht über die Naziverbrechen | |
| angeboten, mehr Gedenkstätten gepflegt. Im Lauf meiner Forschung habe ich | |
| mit vielen ehemaligen DDR-Bürgern gesprochen, die fast alles an dem Staat | |
| kritisierten – bis auf den Antifaschismus. Sicherlich wurde dort der | |
| Antifaschismus auch missbraucht, auf absurde Art und Weise; man denke an | |
| den „antifaschistischen Schutzwall,“ der beide Staaten trennte. Und es gab | |
| Ostdeutsche, die meinten, ihre Väter hätten auf der richtigen Seite der | |
| Geschichte gestanden, während die Faschisten nur in der BRD lebten. | |
| Immerhin aber war ein Teil Deutschlands wenigstens in der Lage zu erkennen, | |
| welche Seite der Geschichte die richtige war, während der andere Teil in | |
| Ressentiments, Ambivalenzen und Trauer blieb, bis ein Bundespräsident ihm | |
| erklärte, dass es befreiend sein kann, sich mit der Vergangenheit | |
| auseinanderzusetzen. | |
| Den Antifaschismus der DDR zu würdigen heißt überhaupt nicht, seine | |
| Widersprüche zu übersehen. Aber bis Ost und West bereit sind, sowohl die | |
| Leistungen wie auch das Fehlschlagen ihrer jeweiligen Auseinandersetzungen | |
| mit der Nazizeit ernsthaft zu diskutieren, wird keine vollkommene | |
| Wiedervereinigung möglich sein. Der Vorschlag, den 8. Mai zum | |
| Nationalfeiertag zu erklären, wäre dann wirklich sinnvoll, wenn der | |
| Feiertag solche Diskussionen ermöglicht. | |
| 10 May 2020 | |
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| [3] /Gespraech-ueber-Kriegsende-vor-75-Jahren/!5680857 | |
| [4] /Umgang-mit-Zweitem-Weltkrieg-in-der-DDR/!5679500 | |
| ## AUTOREN | |
| Susan Neiman | |
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