# taz.de -- Essays von Jochen Schimmang: Dissidenz des Schweigens | |
> Jochen Schimmang schätzt die Freiheit, seine Meinung für sich zu | |
> behalten. Jetzt sind neue Essays erschienen: „Abschied von den | |
> Diskursteilnehmern“. | |
Bild: Das Versteck wird hier zum idealen Ort für Schriftsteller: Jochen Schimm… | |
Neben Romanen und Erzählungen widmet sich [1][Jochen Schimmang] immer mal | |
wieder dem „Essai“ – zur poetologischen und auch gesellschaftspolitischen | |
Standortbestimmung. Die Schreibweise ist bei ihm keine geschmäcklerische | |
Marotte, sondern markiert die Schule, die ihn schriftstellerisch offenbar | |
am meisten geprägt hat. | |
Es ist die französische Tradition des gelehrten Umherschweifens, des | |
asystematischen, flaneurhaften, auch das scheinbar banale und biografische | |
Detail in den Blick nehmende Schreiben, das sich zwischen Erzählung und | |
Reflexion nicht entscheiden mag. | |
„Geländegänge“ ist seine Privatterminologie für solche Texte. Er folgt | |
darin der Methode seines [2][Hausheiligen Roland Barthes,] der die | |
Wissenschaft immer wieder literarisch hinter sich gelassen hat. Das kann | |
man auch von Schimmang sagen. Er referiert und zitiert akkurat, hat seinen | |
Büchner, Freud, Foucault parat, aber anstelle einer sachgemäßen Analyse | |
lässt er lieber seiner aphoristische Fantasie freien Lauf und kommt dabei | |
in zwei, drei Gedankensprüngen vom Kleinsten auf das große Ganze. | |
Etwa wenn er den Internationalismus seiner Generation, der 68er, geradezu | |
als sozialpsychologische Strategie deutet, sich nicht mit der | |
„Aufarbeitung“ der deutschen Vergangenheit beschäftigen zu müssen, und das | |
unselige Demo-Spruchband „USA – SA – SS“ als genialen Transferversuch | |
liest, die deutsche Schuld durch die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam zu | |
tilgen: „nicht der Pappi war’s (mochte er auch in der SA gewesen sein und | |
sein Kollege in der Stadtverwaltung sogar in der SS), sondern der böse | |
(Jude) Kissinger.“ | |
Oder wenn er die „Talkshow genannten Debattierklubs im Fernsehen“ in den | |
Blick nimmt und die Gefahr der hier vorgeführten Meinungsfreude bemerkt, | |
wenn sie sich nämlich diktatorisch gebärdet und dem Gegenüber eine | |
Positionierung abnötigt. „Niemand,muss' aber eine Meinung haben“, hält er | |
dem entgegen, „und das Recht auf Meinungsfreiheit wird nicht dadurch | |
gefährdet, dass jemand davon keinen Gebrauch macht.“ Umgekehrt wird ein | |
Schuh draus. | |
In Anlehnung an Barthes gehört für ihn der Bekenntniszwang zum | |
faschistischen Komplex, „denn Faschismus“, zitiert er Barthes | |
Antrittsvorlesung am Collège de France, „heißt nicht am Sagen hindern“, | |
sondern „zum Sagen zwingen“. Freiheit ist für Schimmang also zunächst | |
einmal die Freiheit, mit seiner Meinung auch hinter den Berg halten zu | |
dürfen. | |
Sein Interesse an der Dissidenz des Schweigens hängt auch zusammen mit | |
seinem ambivalenten Verhältnis zur Öffentlichkeit, das er gleich in | |
mehreren Prosastücken skizziert. Als soziales Wesen braucht er die | |
Gemeinschaft. | |
Allerdings kennt er auch die „Schrecken der Geselligkeit“, das Fremdeln in | |
einer größeren Gruppe, wenn er sich dort exponieren muss, und die Ermüdung, | |
die ihn stets überfällt, wenn er sich zusammenreißt und um geistvolle | |
Konversation bemüht. Diese psychische Konstitution gehört vermutlich zum | |
gar nicht so seltenen Phänotyp des Schriftstellers, der auch deshalb Texte | |
produziert, weil sie ihm Öffentlichkeit erlauben, ohne sich ihr direkt | |
aussetzen zu müssen. | |
Eine andere Konsequenz daraus ist seine [3][Faszination für „Verstecke“.] | |
Schon in „Grenzen Ränder Niemandsländer“, dem ersten Band mit | |
„Geländegängen“, sind diese Rückzugsräume mitten in der Welt, zu denen … | |
öffentliche Einrichtungen wie das Museum, die Bibliothek, der Flughafen | |
oder das Hotelzimmer gehören können, seine immer wieder illuminierten | |
Sehnsuchtsorte. | |
In seinem neuen Buch „Abschied von den Diskursteilnehmern“ beschreibt er | |
sie als „Stützpunkte, von denen aus man die Dinge unter Umständen besser | |
sieht“, und als „besondere Eingangspforten in die laufenden Diskurse“. Sie | |
ermöglichen einen anderen Zugang, der Phänomene bemerkt, die sonst | |
womöglich unausgesprochen blieben. Das Versteck wird hier zum idealen Ort | |
für Schriftsteller. | |
Das Erfreuliche an Schimmangs neuen, immer wieder luziden und elegant | |
formulierten „Geländegängen“ ist: Man kann Spaß an ihnen haben, ohne ihm | |
unbedingt zustimmen zu müssen. Und man kann anderer Meinung sein, ohne es | |
ihm besonders übel zu nehmen. Das liegt an der Konzilianz, die er | |
Meinungsäußerungen grundsätzlich entgegenbringt, auch seinen eigenen. Das | |
bekannte Duldsamkeits-Gebot von H. G. Wells, „Die Welt ist groß genug, dass | |
wir beide darin Unrecht haben können“, scheint hier stets mitzuschwingen. | |
Zumal er sich längst auf verlorenen Posten befindet, der Titel des Buches | |
macht daraus keinen Hehl. Schimmangs Welt verschwindet schneller als er | |
selbst, seine Ansichten und Meinungen werden langsam obsolet, weil die | |
Erfahrungswirklichkeit der meisten „Diskursteilnehmer“ mittlerweile anders | |
aussieht. | |
Die daraus resultierenden „Ängste und Orientierungsschwierigkeiten“ machen | |
aus ihm aber keinen wütenden, alten Mann, der verbal um sich schlägt. Man | |
hat eher den Eindruck, dass er einfach nur ein weiteres Versteck gefunden | |
hat, das es ihm erlaubt, andere Dinge oder die Dinge etwas anders zu | |
sehen. | |
25 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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