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# taz.de -- Neuer Roman von Jochen Schimmang: Trümmer, Leute, nichts als Trüm…
> Im Schlaf sucht der Held nach der verlorenen Zeit der Bonner Republik.
> Jochen Schimmangs neuer Roman „Laborschläfer“ ist voller Erinnerungen.
Bild: Woran erinnert man sich beim Aufwachen?
Preisfrage: Wer erinnert sich noch an Toast Mozart? Rumpsteak mit
Champignons und Kräuterbutter auf einer Scheibe Toast, das war vor der
Wiedervereinigung ein Klassiker in westdeutschen Speisewägen.
Einer, der sich nur allzu gut an Toast Mozart erinnert, ist Rainer Roloff,
der Ich-Erzähler in Jochen Schimmangs neuem Roman „Laborschläfer“. Für i…
ist „die bürgerliche Ausgabe eines Hamburgers“ in unserer pandemischen
Gegenwart so etwas wie [1][Marcel Prousts in Tee getunkte Madeleine,] ein
kulinarischer Schlüssel zur Vergangenheit, zumal zu jenem
„dämmrig-schwarzweißgrauen Jahrzehnt“ der 1970er Jahre.
Nicht, dass der rüstige Mittsiebziger einen solchen Schlüssel nötig hätte.
Über Altersdemenz kann sich Schimmangs Held nicht beklagen, im Gegenteil,
in ihm wuseln die „Erinnerungen wie Ratten“. Und wenn es stimmt, was Niklas
Luhmann in schöner Paradoxie behauptet hat, dass die wichtigste Funktion
des Gedächtnisses das Vergessen sei, so hat jemand mit einem
Elefantengedächtnis wie der Ich-Erzähler ein Problem. Denn in seinem Kopf
türmen sich die Erinnerungen wie jene Trümmerberge, auf denen Roloff einst
als Kind im zerbombten Nachkriegsköln spielte und die alles, aber keine
kohärente Biografie ergeben.
Zu seinem Glück hat Schimmangs Held noch eine zweite Eigenschaft, nämlich
einen ausgezeichneten Schlaf. Beides zusammen macht ihn zum perfekten
Kandidaten für eine Langzeitstudie in einem Düsseldorfer Schlaflabor, in
dem sich Roloff alle paar Wochen für ein, zwei Nächte an diverse
Überwachungsgeräte anschließen lässt.
Was ihm übrigens großes Vergnügen bereitet, und zwar nicht nur, weil er in
Sachen Schlafforschung längst ein „alter Hase“ geworden ist, sondern auch
wegen des netten Personals, etwa der aufregenden Frau Hoss, deren
abendliches Hantieren an Roloffs Anschlüssen ihm prompt eine überraschende
Erektion beschert, Anlass für einen selbstironischen Schlenker („Schäm
dich, alter weißer Mann, sage ich zu mir“).
## „Schlimme Sachen“ im Osten
Bei besagter Studie geht es um den Zusammenhang von individueller und
kollektiver Erinnerung, wie der Laborchef Dr. Meissner seinem
Lieblingsprobanden erklärt, und zwar „in den ersten zwanzig Minuten nach
dem Aufwachen … Also in der Zeit des Übergangs, wenn man in beiden
Wirklichkeiten zugleich ist.“
Was Roloff Dr. Meissner präsentiert, sind, wie gesagt,
Erinnerungsbruchstücke, nach dem Motto „Trümmer, Leute, nichts als
Trümmer!“. Wie die Erinnerung an den Fall Barschel, als die Bundesrepublik
in Sachen Skandal endlich Weltniveau erreichte, so Roloff. Oder an die
verstörende Verhaftung eines Untermieters seiner Eltern durch die
Alliierten, der „schlimme Sachen“ im Osten gemacht haben soll, was den
Ich-Erzähler früh der Welt der Erwachsenen zu misstrauen lehrte. Oder an
seine frühe Liebe Lotte, eine Kommilitonin, die später im Berlin der
Achtziger als Künstlerin reüssierte, aber mit der neuen Hauptstadt voller
Baugruben fremdelte.
Dass Dr. Meissner, der Schlafforscher mit dem unsteten Blick und dem
rätselhaften Notizheft, im Lauf des Romans selbst mehr und mehr ins Dunkel
gleitet, bis ihn seine Frau endlich unter den Blicken der erschütterten
Kollegen und Probanden nach Hause geleiten muss, ist dabei von schöner
Ironie. Vor allem aber ist Meissners fortschreitender Gedächtnisverlust
einer der wenigen roten Fäden des Romans, der sich ansonsten eher ziellos
mäandernd fortentwickelt.
## Markenzeichen Melancholie
Was ausdrücklich keine Kritik sein soll. Wer diesen anspielungsreichen
Roman liest, gewinnt schnell den Eindruck, dass er im Grunde ewig so
weitergehen könnte, ja, sollte. Das liegt vor allem am Protagonisten:
Rainer Roloff ist eine typische Schimmang’sche Aussteigerfigur, ein
sympathisch-skurriler Kauz mit dem „Markenzeichen Melancholie“, ein
ambitionsloser Lebenskünstler, der sich zeitlebens allen Erwartungen
erfolgreich entzogen hat („ich habe immer ziemlich genau gewusst, was ich
nicht wollte“), ganz nach dem Vorbild seiner literarischen Lieblingshelden
Bartleby und Oblomow. Und der damit seinem verschwundenen Freund Georg
Korff ähnelt, dem Protagonisten von [2][Schimmangs Romanhauptwerk „Das
Beste, was wir hatten“] (2009).
Auch der neue, wieder wunderbar erzählte Roman des 74-jährigen Autors
bietet einen Rückblick auf die untergegangene Bonner Republik. Allerdings
ist diesmal die Wehmut gemischt mit einer gehörigen Portion Ratlosigkeit.
Durchaus zufrieden verweist Schimmangs Protagonist, der sich nach einem
Soziologiestudium als selbsternannter Privatgelehrter mit Aushilfsjobs
durchs Leben schlug, im Alter auf seine „gebrochene Erwerbsbiografie“.
Die „Aliens“ der Generation Y, die heute Dreißig- oder Vierzigjährigen,
bekommt er von seiner peripheren Warte aus jedoch nicht recht in den Blick.
Wie seine neue Nachbarin, die von ihrem Kater überforderte Pressefrau eines
Kölner Verlags, die sich in einer herrlichen Szene über die notorische
Undankbarkeit ihrer Autor:innen beschwert.
## Aus der Gesellschaft fallen
Umso wichtiger ist für Schimmangs Ich-Erzähler der Aufenthalt in Dr.
Meissners Schlaflabor geworden. Die Vorstellung, es könnte geschlossen
werden, etwa wegen des Corona-Lockdowns, beschert ihm Schweißausbrüche:
„Nicht allein, dass mir mit ihm ein Stück Zuhause verlorengehen würde, ich
würde, so empfinde ich es jetzt, praktisch meine letzte deutlich definierte
Verbindung zur Gesellschaft verlieren, völlig unabhängig davon, ob es so
etwas wie eine Gesellschaft noch gibt und wie sie genau aussieht. Ich würde
endgültig aus ihr herausfallen.“
Zu seinem Glück entscheidet Dr. Meissner früh, die Forschung dürfe, Virus
hin oder her, nicht stillstehen, „wir machen weiter“. Umso irritierender
jedoch ist das weitgehende Desinteresse an der Pandemie in Schimmangs
Roman, der Anfang 2020 beginnt und Mitte letzten Jahres endet. Sicher, dass
er vom Taxifahrer plötzlich durch ein Plexiglas getrennt ist, ist
Schimmangs Ich-Erzähler genauso eine Bemerkung wert wie eine Frau, die
selbst im eigenen Treppenhaus Maske trägt.
Dass aber ein so scharfer Beobachter wie Rainer Roloff von der
gesellschaftlichen Spaltung, die sich in dieser Zeit vollzieht, nichts
mitbekommen soll oder will, wirkt wenig plausibel.
2 Apr 2022
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## AUTOREN
Oliver Pfohlmann
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