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# taz.de -- Roman von Andrea Scrima: Die Kraft der Anziehung
> Literarisch raffiniert schreibt Andrea Scrima im Roman „Kreisläufe“ vom
> Verstehen einer schwierigen Familienkonstellation.
Bild: Die Autorin Andrea Scrima
Ein Ich muss sich retten. Muss weg von zu Hause. Über London, den
Ärmelkanal, über die Transitstrecke der DDR nach Westberlin, hinein in
einen Winter, der nach Kohlenstaub riecht und in den Lungen wehtut. Ein
furioser erster Absatz genügt für die Flucht, ein einziger Atemzug. Man
könnte auch sagen, der Text atmet ein.
Er tut das, um sich zu erinnern. Aus Liebe, aus Angst, aus Gründen, die
tief sind und sich nicht summieren lassen, deren Dringlichkeit in der Prosa
der New Yorker Schriftstellerin und Künstlerin Andrea Scrima aber von
Anfang an außer Frage steht.
Leidenschaftlich. Diese Eigenschaft schreibt sich die Ich-Erzählerin als
etwas zu, das sie wiederfinden möchte; „gutgläubig“ nannte sie ein Freund
aus dem Kunststudium. Sie nehme die Dinge zu ernst. Micha, der Vater ihres
Kindes, fand, dass sie manches noch immer nicht richtig verstehe,
insbesondere in Bezug auf die Familie und das Verhalten ihrer Mutter, die
er nicht mag.
Zuschreibungen können treffen oder nicht; meistens aber machen sie
melancholisch, und den Weg der Erinnerung verkürzen sie nicht. Zwei
historische Anläufe, zwei Teile braucht es, damit sich der Roman
„Kreisläufe“ als die Geschichte eines Verstehens rundet: Eine Rückkehr na…
New York, der ersten Einzelausstellung der Ich-Erzählerin wegen.
## Erzählung trifft auf Träume und Beobachtungen
15 Jahre später ist es die intensive Beschäftigung mit den
Kalendereintragungen des Vaters, die den Ton und den Rhythmus des Textes
bestimmt. Die Zeitebenen, die Handlungslinien verweben sich in dem einen
wie in dem anderen Teil. Ein Gruppe von Freunden kommt ins Bild.
Geschwister. New York. Ein Baum, auf dem ein kleiner Junge sehr weit nach
oben klettert. Das Elternhaus.
Die Welt und das eigene Leben spielen dieser Ich-Erzählerin die Szenen zu,
und das jeweils auf ihren gefährlichen Graden. Als Momente der
Entscheidung, der Eskalation, als stille und nicht ungefährliche
Betrachtung. Das Ich malt eine Linie über die Leinwand und spürt den
Überschuss der Farbe; Spuren im Schnee schmelzen, gefrieren wieder und
verschwinden.
Zur Wahrheit gehören hier immer auch Träume, Beobachtungen, die in eine
„Parallelwelt“ und über den Umweg zu neuen Erkenntnissen führen. Virtuos
ist es, wie der Text dabei seine Schlüssigkeit wahrt. Wie leicht und
zugleich fest dieses Ich den Erzählfaden in den Händen hält.
Es beginnt mit dem Besuch in New York. Nach dem Tod des Vaters lebt die
Mutter noch im alten Haus auf Staten Island. Das Geschirr stapelt sich in
der Spüle. Das Telefon klingelt, eine Freundin aus dem Chor ruft an. Die
Mutter klingt plötzlich wie ein junges Mädchen. Unberechenbar, intelligent,
rätselhaft ist sie, bedrohlich. Die Tochter nimmt sich vor, den alten
Gefühlen zu widerstehen. Doch wer kann das schon.
## Keine Autofiktion und doch autobiografische Züge
Es gibt Wahrnehmungen, gegen die man sich nicht verschließen kann. Die
ruhigen Augen des sterbenden Vaters. Seine Handschrift. Das sehnsüchtige
Hoffen, ein Freund möge zur Tür eines Cafés hineinkommen, in dem man gerade
einen Kaffee trinkt. Die Lust der Berührung. Die Mutter, die vor vielen
Jahren im Dunkeln lauerte, um die Tochter beim Sex zu erwischen. Das
Geschrei.
In jeder Familie, schreibt die Ich-Erzählerin, sei eine Geometrie am Werk,
ein Zusammenwirken von Geheimnissen und Tabus. Im Laufe der Lektüre wird
deutlich, wie viel dieses „gutgläubige“ Ich weiß, wie viel in ihren
Wahrnehmungen verborgen liegt.
Scrima, die zusammen mit Christian von der Goltz auch übersetzte, hat neben
fiktivem auch mit autobiografischem Material gearbeitet. Sie kommt wie das
Ich ihres Romans aus New York, lebt wie dieses in Berlin, hat ebenfalls
einen Sohn. Einige ihrer Kunstwerke schenkt sie ihrer Erzählerin. Vieles
von den Figuren der Eltern. Den Begriff der Autofiktion aber lehnt Scrima
entschieden ab.
Die Bezeichnung verleite dazu, die Bedeutung der Form zu übersehen, sie für
zu gering zu schätzen, schreibt sie per Mail und man möchte antworten, dass
es schwer vorstellbar sei, die formale Finesse dieses Romans nicht zu
bewundern. Die feinen Übergänge zwischen den grammatischen Formen der
Gegenwart und Vergangenheit zum Beispiel, auf denen man wie über flache
Stufen fast unmerklich die Zeiten und Räume wechselt.
In Wahrheit unterscheiden die „Kreisläufe“ die Schichten der Erfahrung
äußerst präzise. So genau, dass man den Roman als einen poetischen
Forschungstext lesen kann, als eine Geschichte, die sich vom Ende einer
Depression her erzählt und es auf die eigene verletzte und, ja,
leidenschaftliche Weise mit dem Bann der Wiederholung aufnimmt. Es
geschieht viel in diesem schönen und klugen Buch, und alles ohne das
geringste Ausrufungszeichen. Die Kraft seiner Anziehung ist nur umso
stärker.
21 Apr 2022
## AUTOREN
Elisabeth Wagner
## TAGS
Roman
New York
Buch
Familiengeschichte
Emigranten
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Roman
Literatur
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