# taz.de -- Neuer Roman über die alte BRD: Separatistische Lebensläufe | |
> Nachrichten aus einer vergessenen Welt: Autor Jochen Schimmang erzählt in | |
> seinem Roman "Das Beste, was wir hatten" von der 1989 untergegangenen | |
> alten Bundesrepublik. | |
Bild: Für den Schriftsteller Jochen Schimmang "Das Beste, was wir hatten": Hel… | |
Der Titel zitiert eine der berühmtesten und traurigsten Szenen der | |
Weltliteratur, das Ende der Flaubertschen "Éducation Sentimentale". Die | |
beiden Helden dieses definitiven Bildungs- und Desillusionsromans, | |
Frederick und Deslauriers, haben sich nach einem kurzen, stürmischen und | |
letztlich erfolglosen Erwachsenenleben in der Hauptstadt des 19. | |
Jahrhunderts aufs Land zurückgezogen. Noch keine vierzig und doch schon | |
resignierte (fast alte) Männer, erzählen sie sich beim Wein gegenseitig ihr | |
Leben. Ein Sonntagvormittag taucht aus der gemeinsamen Erinnerung auf, an | |
dem sie 15 oder 16 gewesen sein mögen und beschlossen hatten, das Bordell | |
am Stadtrand zu besuchen. Sie bringen aus Schüchternheit aber nicht mehr | |
zustande, als einen unterwegs gepflückten Blumenstrauß auf der Schwelle des | |
Etablissements niederzulegen und sich aus dem Staub zu machen. Und den | |
Leser weht es kalt an, wenn die beiden nach all den Karrieren, Intrigen, | |
Salons, Affären und Revolutionen übereinstimmend und begeistert | |
feststellen, dieser Sonntagmorgen sei das Beste gewesen, was sie erlebt | |
haben. | |
Ein Kreis um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts geborener Männer und | |
Frauen im Frühpensionärsalter bildet das Personal von Jochen Schimmangs | |
Gesellschaftsroman "Das Beste, was wir hatten". Die Zentralidee des Buchs | |
ist der einfache, bei näherem Hinsehen aber anspruchsvolle Gedanke, dass | |
1990 nicht nur die DDR untergegangen ist, sondern auch die alte | |
Bundesrepublik. Sie war, so empfinden es die Figuren des Romans und so legt | |
es uns die implizite Erzählintention Schimmangs nahe, das Beste, was wir | |
hatten. Auch wenn man nicht glaubt, dass das wahr ist, folgt man der von | |
Anspielungen und Zitaten gesättigten, mit eingebauten dokumentarischen | |
Realien angereicherten, klassisch realistischen Handlungsführung Schimmangs | |
mit Spannung und Sympathie. | |
Erzählt wird, wie bei Flaubert, der Lebenslauf eines Freundespaars, das | |
gemeinsam startet, sich voneinander entfernt, sich wieder annähert. Einer | |
bleibt in der Nähe des anderen. Leo Mücks und Gregor Korff sind schon in | |
der Kindheit zusammen gewesen. Nach linksradikalen Berliner Episoden, | |
Jugendlieben, Fußballturnieren, Studentenbuden (dem Üblichen) ist Leo | |
Beamter des Verfassungsschutzes geworden und Gregor (der an der Uni über | |
Carl Schmitt gearbeitet hat) Berater, Redenschreiber, "persönlicher | |
Referent" des Kanzleramtschefs und späteren Innenministers Rudolf Seiters. | |
Die Missgeschicke häufen sich in den späten Achtzigerjahren. Leos Frau, | |
eine der seltsam gelangweilten, ziellos emanzipierten Frauengestalten, von | |
denen die Achtzigerjahre tatsächlich voll waren und die Schimmang wunderbar | |
gesehen und getroffen hat, betrügt ihn mit Gregor. Gregors Freundin Sonja, | |
eine New-Wave-Schönheit - die Schimmang sehr gelungen mit der serbischen | |
Hochstaplerin Pawla Dorotic erzählerisch engführt, der ersten Frau von Carl | |
Schmitt -, entpuppt sich als Stasi-Agentin und Mörderin. Der Beraterjob bei | |
Seiters ist folglich futsch. | |
Die Wiedervereinigung kommt. Peter Glotz, der sie im Roman als den Beginn | |
einer Re-Wilhelmisierung der Bundesrepublik prophezeit, kommt leibhaftig im | |
Roman vor. Und eine seiner bisherigen Randfiguren tritt nach vorn, der | |
Archivar Carl Schelling, in dessen Namen sich das Dezisionistische mit dem | |
Romantischen vereint. Schimmang montiert hier die antinationalistische und | |
westseparatistische Guerillabewegung in den wirklichen Verlauf der | |
historischen Ereignisse hinein, die nach 1990 vielleicht eigentlich zu | |
erwarten gewesen wäre, die es bezeichnenderweise aber nie gegeben hat. | |
Schelling plante, bevor der Verfassungsschutz zugriff, das | |
Niederwalddenkmal bei Rüdesheim in die Luft zu sprengen, dessen Inschrift | |
lautet: "Zum Andenken an die einmüthige siegreiche Erhebung des deutschen | |
Volkes und an die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches 1870-71". | |
Die Freunde befreien ihn à la Baader-Meinhof und bringen ihn in Amsterdam | |
unter, wo er glücklich, zufrieden und in vollkommener Westbindung | |
weiterlebt. Leo lässt sich frühpensionieren. Anita verdient jetzt zur | |
Abwechslung das Geld. Gregor aber unternimmt ein Farbbeutelattentat auf ein | |
Symposium mit Peter Schneider (der im Roman Paul Schuster heißt), verliert | |
durch die resultierenden Schadensansprüche den Rest seiner Ersparnisse, | |
seine Wohnung, und in der letzten Szene sehen wir ihn - ganz im Geist der | |
Helden Flauberts - mit einem 16-jährigen Pärchen in einem abgelegenen | |
Schuppen sitzen, der ihm und Leo schon in den Sechzigern als Schauplatz | |
ihrer Selbständigkeitsromantik, ihrer Zukunftsträume und ihrer ersten | |
erotischen Abenteuer gedient hat. Sie seien "Außenseiter", sagen die beiden | |
jungen Leute in einem seltsamen Soziologendeutsch, sie stünden "am Rand der | |
Gesellschaft" und planten einen "Anschlag". "Ich weiß gar nicht, ob ich das | |
tun sollte, aber ich wünsche euch viel Glück dabei", sagt der entgleiste | |
Politikberater. | |
Desillusionsromane als Gesellschaftsromane haben eine eingebaute | |
Selbstzerstörungsautomatik. Sie funktionieren nur, wenn das Scheitern und | |
die Resignation ihrer Helden dem Leser als Niedergang, Verkommenheit und | |
Nichtsverfallenheit der Gesellschaft glaubhaft gemacht werden kann, in der | |
all diese Schicksale sich abspielen und deren Scheitern das der Figuren in | |
Wirklichkeit ist. Individuelle Blödheit, Zufälle, Ungeschick, Pleiten, Pech | |
und Pannen ergeben möglicherweise eine Tragödie. Ein gelingender | |
Gesellschaftsroman dagegen ist auf ein Formelement angewiesen, das Georg | |
Lukács das Typische genannt hat. Das Typische ist eine Art innige Verlötung | |
des möglichst blutvoll gestalteten Individuellen mit abstrakten | |
Funktionsgesetzen der Gesellschaft. Je konkreter man ins volle | |
Menschenleben hineingreift, behauptet diese heute noch sehr einflussreiche | |
Realismustheorie, desto deutlicher bekommt man die Gesellschaft in den | |
Griff. | |
Schimmangs Roman, der sich versiert und selbstbewusst in eine | |
Erzähltradition stellt, die man als "rheinisch-kapitalistischer | |
Westbindungsrealismus" bezeichnen könnte (die | |
Faulkner-Wolfe-Salinger-Böll-Wellershoff-Tradition), fällt der | |
beschriebenen Selbstzerstörungsautomatik des desillusionistischen | |
Gesellschaftsromans nicht zum Opfer. Seine Figuren sind glaubwürdig nicht | |
nur in ihren Vorlieben, ihrem Innenleben, ihrer Garderobe, ihren ewigen | |
Besuchen in italienischen Restaurants. Auch ihr Niedergang ist sinnvoll zu | |
lesen als Auflösung einer Gesellschaft, die wir noch kaum begriffen haben | |
und die - anders als die DDR, die nach ihrem Untergang ein deutlich | |
umrissenes Aussehen gewonnen hat - vorerst so vergessen ist wie die Romane | |
Heinrich Bölls. | |
Was für meinen Geschmack nicht so gut funktioniert, ist die kontrafaktische | |
(oder virtuelle) Geschichtsfiktion, die Schimmang mit der | |
Carl-Schelling-Episode aufbaut. Schimmang verlässt mit ihr das sichere und | |
von ihm gut beherrschte Terrain des realistischen Sittenbilds zugunsten | |
einer uchronischen Konstruktion: Die Geschichte jener nicht existierenden | |
Guerilla zeigt uns nicht, was gewesen ist, sondern was gewesen sein könnte. | |
Und man wird den Eindruck nicht los, dass der Autor der Ansicht ist, dass | |
es so gewesen sein sollte. Schimmang tut hier, was der Realismustheoretiker | |
Lukács seinem Lieblingsbeispiel Balzac manchmal zur Last legte: Er steuert | |
den literarischen Erfindungsprozess durch Meinungen statt durch | |
Beobachtungen. Was umso stärker ins Gewicht fällt, als jene nie wirklich | |
gewordene westdeutsche Separatistenguerilla (der Prozess gegen Carl | |
Schelling, seine Befreiung, das neue Leben des Attentäters) das | |
dramatischste und zudem das einzig utopische Element der Handlung | |
darstellt. Und in dieser künstlerischen Schwäche (oder zumindest | |
Diskussionswürdigkeit) kommt das Unterfutter einer politischen Unwahrheit | |
ans Licht (übrigens ganz wie Lukács sich das am Beispiel Balzacs | |
zurechtgelegt hatte, dessen realistische Beobachtungen sich, wie Lukács | |
nachweisen zu können glaubte, literarisch eindrucksvoll gegen seine | |
politischen Behauptungen durchsetzten). | |
Definitives über 1989 | |
Denn es ist kein Zufall, dass es nach 1990 eben keine separatistische | |
Guerilla gegeben hat. Und die alte Bundesrepublik ist auch beileibe nicht | |
das Beste gewesen, was wir hatten. Das Beste, was wir je hatten und jemals | |
kriegen werden, ist vielmehr das, was wir haben - die Berliner Republik. | |
Sie ist auch keine Wiederauflage des wilhelminischen Kaiserreichs (und auch | |
nicht eine des "Dritten Reichs", wie eine andere, inzwischen eher | |
vergessene Theorie behauptet hat). Das ist politisch eben alles gar nicht | |
wahr. Der Schluss der "Éducation Sentimentale" postuliert über die | |
Revolution von 1848 und das Kaiserreich Napoleons III. in Wirklichkeit | |
genau das Gegenteil dessen, was die Figuren Schimmangs über den alten | |
Westen denken - dass diese Zeit nämlich nicht der Rede wert war. Nicht nur | |
die von Lukács analysierten großen realistischen Romane des 19. | |
Jahrhunderts, sondern auch Schimmangs Roman, scheint es, ist an seinen | |
stärksten, seinen realistischen Stellen politisch klüger als sein Autor. | |
Es gehört aber zu den zahlreichen Stärken dieses Buchs, dass die Diskussion | |
seiner poetischen Schwächen zwanglos zu einer Diskussion wichtiger | |
politischer Fragen führt. Vielleicht ist es überhaupt das Kennzeichen | |
gelungener realistischer Gesellschaftsromane, dass man zugleich und mit | |
gleicher Berechtigung literaturkritisch wie politisch über sie diskutieren | |
kann. | |
In der letzten Zeit ist oft die Forderung nach einem definitiven Roman über | |
"1989" erhoben worden, das Datum, das sich heuer jährt. Warum könnte sich | |
die deutsche Literaturkritik zur Erfüllung dieser Forderung nicht vorläufig | |
auf Schimmangs "Das Beste, was wir hatten" einigen? Es ist ein spannender | |
und gut geschriebener Roman, das Buch hat ein relevantes zeithistorisches | |
Thema und handelt es aus einem originellen Blickwinkel ab, und es ist ein | |
Roman, in dem die Meinung des Autors seinen künstlerischen Intentionen in | |
interessanter und diskussionswürdiger Weise in die Quere kommt. Haben wir | |
in diesem Genre etwa etwas Interessanteres, etwas Besseres? | |
2 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
## TAGS | |
Literatur | |
Stasi-Vergangenheit | |
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