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# taz.de -- Teil 2 von Schimmangs BRD-Chronologie: Früher war es so, dann war …
> In „Altes Zollhaus, Staatsgrenze West“ zieht Jochen Schimmangs
> siebzigjähriger Held Korff Bilanz. Er reist nach Amsterdam und deutet
> Träume.
Bild: Protagonist Korff war nicht in Stasi-Haft, aber bespitzelt wurde auch er …
Georg Korff ist älter geworden. In Jochen Schimmangs vorletztem Roman „Das
Beste, was wir hatten“ (2009) lebte Korff noch im Bonn der 1980er Jahre und
war eher zufällig zum Berater des Innenministers avanciert. Er blickte auf
seine Kindheit und auf die Zeit Anfang der 1970er Jahre zurück, als er in
Berlin in linken Kreisen aktiv gewesen war. Seine Zeit am Rande der Macht
endete, als herauskam, dass seine plötzlich verschwundene Freundin Sonja
von der Stasi auf ihn angesetzt gewesen war. In „Das Beste, was wir hatten“
wurde die BRD als utopischer Ort beschrieben, wobei die Glücksmomente in
der Jugend lagen.
„Altes Zollhaus, Staatsgrenze West“, Jochen Schimmangs neuer Roman, spielt
etwa zwanzig Jahre später. Dadurch, dass Schimmang ihn aus der
Ich-Perspektive erzählt, zieht er den Leser noch mehr in den Bann. Georg
Korff ist inzwischen noch ein Stückchen weiter in den Westen gezogen, in
das Dorf Granderath direkt an der holländischen Grenze. Hier hat er sich,
inzwischen um die siebzig, 2006 ein altes Zollhaus gekauft und sich als
Privatier zur Ruhe gesetzt.
Das Geld für seinen Lebensabend hat er mit einem „Das Sonja-Komplott“
betitelten Buch verdient. Er hatte die Sonja-Geschichte einem Journalisten
erzählt, und der hatte daraus einen achthundert Seiten langen Politthriller
gemacht, der unter Korffs Namen erschien und später in dreizehn Teilen fürs
Fernsehen verfilmt wurde.
Das Buch beginnt mit dem schönen Satz: „Jetzt habe ich es geschafft; jetzt
bin ich der alte Spinner vom Zollhaus.“ Beim Einkaufen hatte Korff gehört,
dass so von ihm gesprochen wurde. Er nimmt diesen Satz nicht als
Beleidigung, sondern als Kompliment, mit dem man ihm, dem Zugereisten, der
seit zehn Jahren am Rande wohnt, Zugehörigkeit signalisiert.
Er ist gern allein. Alleinsein zu können, ist eins seiner Talente. Es gibt
alte Freunde, die er manchmal sieht und die man teils schon aus „Das Beste“
kennt. Andere kommen hinzu: Martin Taubert, neunzig Jahre alt, der früher
als Zollbeamter in seinem Haus gearbeitet hat. Hanno, ein junger Mann, der
bei den Grünen engagiert ist, und Korff, den ehemaligen Schmitt-Experten
aufsucht, weil er über Carl Schmitt eine Arbeit schreibt, und seine
Freundin Uma.
## Erinnerungen an den Deutschen Herbst
Den Finanzberater Manuel, hat er zufällig in einer Kneipe in Ostende kennen
gelernt. Und Herr Groeneveld, ein Mann in den Achtzigern, der als
BND-Mitarbeiter auch für die Stasi gearbeitet hatte, als
Arno-Schmidt-Verehrer heimlich schreibt und Korff zu seinem literarischen
Nachlassverwalter ernennt. Alle Personen in diesem Buch wirken glaubhaft
und stimmig.
Mal begleitet man Korff nach Ostende, Amsterdam oder in die Vergangenheit.
Da gibt es kleine, komische Passagen. Verdichtete Erinnerungen an den
Deutschen Herbst: „Die Hubschrauber haben einen wirklich genervt.“
Fahrradtouren. Kinobesuche. Zwei verloren gegangene Kinder aus Serbien,
„Hand in Hand, jedes mit einem kleinen Rucksack“, die bei Korff übernachten
und zum Frühstück wieder verschwunden sind.
Mal berichtet er von seltsamen Träumen. Diese Berichte sind surrealistische
Kunstwerke, selten länger als eine Seite, in denen er etwa im „ICE 317 Uwe
Barschel“ von Kiel nach Genf fährt oder in Paris Sonja begegnet. Als er
kurz davor ist, die Verräterin zu vergewaltigen, taucht Julien Carl auf,
den er zunächst für Sigmund Freud hält. Er sagt langsam und ruhig: „Das
dürfen Sie nicht, das verstößt gegen die Genfer Konvention. Also lassen Sie
das.“
Es ist vor allem die schöne Komposition, die Melodie des Buchs, die das
Lesen zu einer großen Freude macht. Die wiederkehrenden, sich ergänzenden
oder spiegelnden Motive und Konstellationen, die wunderbaren
Kapitelüberschriften: „Früher war es so, dann war es so“. Dass die anfangs
nur in einem Halbsatz erwähnten und nie benutzten Tischtennisschläger am
Ende wichtig werden.
Irgendwann sagt Korff: „Es ist doch gut, wenn man festhält an den wenigen
wichtigen Sachen, die einem im Leben passieren. Den Bildern, den Kadenzen.
Sonst wäre es doch gar nicht auszuhalten.“ Zu diesen Dingen zählt die
Scheune, in der sich außenseiterische Kinder treffen. Oder der Traumpass,
den sein Freund in seiner Jugend schlug: „Ich erinnerte mich, dass er
einmal gesagt hatte, seine eigene bedeutendste Lebensleistung sei der
Vierzigmeterpass am Nachmittag des 24. Juli 1971 gewesen, der so präzise
war, dass vorn der heranstürmende Dieter, der Fernmeldetechniker mit der
Afromatte, nur noch den Fuß hinhalten musste, um ein Tor daraus zu machen.“
Am Dienstag, 15. August, liest Jochen Schimmang in der Düsseldorfer
Zentralbibliothek aus seinem Roman.
2 Jul 2017
## AUTOREN
Detlef Kuhlbrodt
## TAGS
Stasi-Vergangenheit
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Roman
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