| # taz.de -- 150. Geburtstag von Marcel Proust: Auf der Suche war er von Anfang … | |
| > Von Marcel Proust, Autor der „Suche nach der verlorenen Zeit“, wurden | |
| > frühe Erzählungen entdeckt. Schon sie zeigen, wie skrupulös er mit | |
| > Sprache umging. | |
| Bild: Geboren am 10. 7. 1871: Marcel Proust | |
| „Marcel Prousts Œuvre ohne die ‚Recherche‘, woraus hätte das bestanden? | |
| Aus einem kleinen Jugendwerk, ‚Les Plaisirs et les Jours‘, Ende des 19. | |
| Jahrhunderts erschienen […]. Aus Übersetzungen von Ruskin, nicht ohne | |
| Beziehungen zum kommenden Meisterwerk, weil zentriert auf die Kathedralen | |
| und das Lesen. Sonst nichts. Ein disparates Buch, ein Übersetzer und | |
| Schriftsteller.“ | |
| Diese Feststellungen trifft Luc Fraisse, seines Zeichens Literaturprofessor | |
| in Straßburg, in seiner Einleitung zu den frühen, aber spät entdeckten | |
| Erzählungen und Erzählfragmenten Prousts, die im französischen Original vor | |
| zwei Jahren erschienen sind und nun in der Übertragung von Bernd Schwibs | |
| auf Deutsch vorliegen. | |
| Das würde im ersten Moment die längst überholte Lesart stützen, der junge | |
| Mann aus reichem Hause habe seine ersten Lebensjahrzehnte damit vertändelt, | |
| in den Salons und adligen Milieus zu verkehren als der Snob, der er auch | |
| war und dem wir deshalb in der „Recherche“ uneinholbare Einsichten in | |
| [1][das Wesen des Snobismus] verdanken, bis er sich aus der Welt | |
| zurückgezogen habe, um sein Hauptwerk zu schreiben. | |
| Auf der anderen Seite zeigen gerade diese frühen Erzählungen, die zeitlich | |
| in den Umkreis von „Freuden und Tage“ (1896) gehören, dass schon der junge | |
| Marcel Proust Schriftsteller war, spätestens als 25-Jähriger, eher aber | |
| schon als 15-Jähriger und eventuell bereits im kindlichen Alter: nämlich in | |
| dem Moment, an dem die „Tage des Lesens“ begonnen hatten. | |
| Der Grund, aus dem die vorliegenden Erzählungen nicht in „Freuden und Tage“ | |
| aufgenommen wurden, wird schnell offensichtlich, denn dann wäre, wie | |
| Fraisse richtig schreibt, „die Inszenierung der Homosexualität nach und | |
| nach zum Hauptthema des Werks geworden“. Besonders deutlich wird das in der | |
| Titelerzählung, denn der geheimnisvolle Briefschreiber, der Françoise einen | |
| Liebesbrief schreibt, ist realiter eine Briefschreiberin, ihre todkranke | |
| Freundin Christiane nämlich. | |
| ## Der Autor verrät sich | |
| Der Autor Marcel Proust verrät sich indirekt durch einen Beziehungsfehler, | |
| als Françoise ihren Beichtvater befragt: „Abbé, wenn ein Mann sich in eine | |
| Liebe für eine Frau, die einer (sic!) anderen gehört, verzehrte …“ Fraisse | |
| weist im Übrigen darauf hin, dass im Proust’schen Manuskript die Namen der | |
| beiden Protagonisten ständig vertauscht und korrigiert werden. | |
| In der Erzählung „Erinnerung eines Hauptmanns“ (die 1952 schon einmal im | |
| Figaro littéraire veröffentlicht wurde) kehrt der Protagonist in die | |
| Garnisonsstadt seiner Zeit als Leutnant zurück und trifft auf seinen | |
| ehemaligen Burschen, mit dem er zehn Minuten vor dem Kasernentor plaudert, | |
| „von niemandem belauscht als von dem wachhabenden Gefreiten, der gegenüber | |
| dem niedrigen Eingang auf einem Eckstein saß und Zeitung las […] Er übte | |
| einen völlig rätselhaften Zauber auf mich aus, und ich begann, auf meine | |
| Worte und Gesten zu achten in dem Wunsch, ihm zu gefallen.“ | |
| Er registriert dann, dass auch der Gefreite ihn aufmerksam betrachtet und | |
| schließlich aufsteht und salutiert. „Selbstverständlich habe ich ihn nie | |
| wiedergesehen und werde ihn nie wiedersehen. Doch sehen Sie, inzwischen | |
| kann ich mich an das Gesicht gar nicht mehr recht erinnern, und dies kommt | |
| mir lediglich sehr schön vor an jenem warmen und hellen Ort im Abendlicht | |
| und zugleich ein wenig traurig ob seiner Rätselhaftigkeit und | |
| Unvollendetheit.“ | |
| ## Zauber des jungen Gefreiten | |
| Den rätselhaften Zauber des jungen Gefreiten und die Rätselhaftigkeit der | |
| ganzen Szene, die der Erzähler betont, weisen darauf hin, dass er sich | |
| seiner eigenen [2][homosexuellen Regungen] nicht einmal bewusst ist – sein | |
| Autor dagegen schon. | |
| Natürlich gibt es weitere Gründe, warum Proust diese Stücke nicht | |
| veröffentlicht und einige davon abgebrochen hat. Sie mögen mehrheitlich | |
| seinen eigenen ästhetischen Ansprüchen nicht genügt haben. Einige | |
| Faksimiles im Band zeigen den manischen Streicher, Korrekteur und Ergänzer | |
| Proust, der später bekanntlich mit seinen Korrekturen die Setzer zum | |
| Wahnsinn getrieben hat. In den Texten selbst sind sämtliche Varianten und | |
| interlineare Einfügungen wiedergegeben, die zeigen, dass Proust – und schon | |
| der frühe Proust – in der Suche nach dem mot juste Flaubert in nichts | |
| nachstand. | |
| An die Erzählungen schließt sich der von Luc Fraisse verfasste Teil „An den | |
| Quellen von ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ “ an, der sich mit | |
| Nachlassdokumenten und Manuskripten aus den ersten Jahren der Entstehung | |
| der „Recherche“ beschäftigt. | |
| ## Gesetze der Nachahmung | |
| Interessant ist hier vor allem der erste Text mit dem Titel „Proust kannte | |
| den Soziologen Gabriel Tarde“. Tarde (1843–1904), der Rechtswissenschaft | |
| studiert hatte, war in seinen letzten sechs Lebensjahren Professor für | |
| Philosophie am Collège de France, hatte sein soziologisches Hauptwerk „Die | |
| Gesetze der Nachahmung“ aber schon in seiner Zeit als Richter in seiner | |
| Heimatstadt Sarlat geschrieben. | |
| Zwei neu entdeckte Dokumente zeigen nun, dass er einerseits zum Umkreis von | |
| Prousts Vater gehörte, dass andererseits dessen Sohn Marcel am 7. Januar | |
| 1896 die Eröffnung einer Vorlesungsreihe an der École libre des sciences | |
| politiques als einer von 50 Zuhörern gehört und darüber voller Enthusiasmus | |
| eine handschriftliche Seite verfasst hat, die bei Fraisse wiedergegeben | |
| wird. Tardes Theorie beruhte auf den Begriffen „innovation“ und | |
| „imitation“. | |
| In der „Recherche“ tritt das Phänomen erstmals deutlich im „kleinen Krei… | |
| von Madame Verdurin auf, wo alle Zugehörigen darum bemüht sind, den Habitus | |
| der Gastgeberin, der patronne nachzuahmen, was öfters zu hochkomischen | |
| Missverständnissen führt und uns daran erinnert, dass Proust ein ausgeprägt | |
| komischer Autor war. | |
| ## Eibe frühe Influencerin | |
| Auf einer gesellschaftlich höheren Ebene „kann sich die Duchesse de | |
| Guermantes, die ihrerseits den Ton im Faubourg Saint-Germain angibt, das | |
| erlauben, was der Soziologe eine „Gegen-Nachahmung“ nennt, das heißt, sich | |
| von den Gesetzen der Soziabilität, die man selbst angeregt hat, | |
| auszunehmen“, schreibt Fraisse. Ins Heute übersetzt, könnte man die | |
| Herzogin also als eine frühe und sehr erfolgreiche Influencerin | |
| betrachten, die ihrerseits weiter ist als ihre Follower. | |
| „Es steht außer Zweifel, dass das gesamte Personal der ‚Recherche‘ und | |
| selbst noch die ästhetische Anschauung des Erzählers in unendlichen | |
| Variationen von dieser Theorie geprägt ist“, so Fraisse. Dem würde ich | |
| sofort zustimmen, denn fast jede Seite der „Recherche“ zeigt dem Leser, | |
| dass der junge Mann aus reichem Hause nicht verträumt in der Welt | |
| herumgetrödelt ist, sondern von Beginn an den soziologischen, den | |
| analytischen Blick hatte, der sich später in der „Recherche“ in der | |
| ironischen Grundstruktur und als großer Maskenball niederschlagen wird, | |
| konzentriert in der Matinee der Herzogin von Guermantes am Ende, deren | |
| Schilderung fast 200 Seiten umfasst. | |
| Andere Kapitel aus Fraisse’ Quellenstudium heißen etwa „Chronik der Familie | |
| Swann“, „Die männlichen Vorbilder von Gilberte“, „Im Schatten junger | |
| Männerblüte“, „Die Geographie von Balbec“ und „Die Rufe in den Straß… | |
| Paris“. Denn Proust hat sich in seiner kurzen Zeit in der Rue | |
| Laurent-Pichat 1919 vom Concierge A. Charmel (einer der Diener von Charlus | |
| wird in der „Recherche“ so heißen) die Rufe der Straßenhändler notieren … | |
| aufschreiben lassen. | |
| Ein Eldorado also für Proustianer. Das heißt zugleich aber: als Einstieg in | |
| das Werk von Marcel Proust völlig ungeeignet und nachgerade abschreckend. | |
| Dafür gibt es nur einen Weg, und das ist die Lektüre von „Auf der Suche | |
| nach der verlorenen Zeit“, wenigstens einmal, und wenn das Leben lange | |
| genug währt, auch zwei- oder dreimal. | |
| 10 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jochen Schimmang | |
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