| # taz.de -- Unveröffentlichte Texte großer Autoren: Ahhhh, frische Muscheln! | |
| > In Frankreich kamen zuletzt unveröffentlichte Texte großer Autoren wie | |
| > etwa Marcel Proust auf den Markt. Was taugen die literarischen | |
| > Ausgrabungen? | |
| Bild: Undatiertes Foto von Marcel Proust (Ausschnitt) | |
| Während man sich in diesen naß-grauen Tagen auf Pariser Straßen lauthals | |
| über die Gegenwart oder besser gesagt [1][über die Zukunft streitet], | |
| greift man in den Buchhandlungen der Hauptstadt derzeit immer öfter auf die | |
| Vergangenheit zurück. Unter dem Weihnachtsbaum lagen in diesem Jahr weniger | |
| aktuelle, als vielmehr aus tiefen Schubladen und staubigen Dachböden | |
| gekramte Romane und Kurzgeschichten, also die unveröffentlichten Texte | |
| großer Autoren. | |
| Françoise Sagan zum Beispiel, deren „neuer“ Roman, zu Deutsch „Die dunkl… | |
| Winkel des Herzens“, in Frankreich schon im September für viel Aufsehen | |
| sorgte, aber auch die kürzlich erschienene Kurzgeschichten-Sammlung „Le | |
| Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites“ von Marcel Proust. | |
| Was sagt das über den französischen Buchmarkt? Erscheint die Gegenwart so | |
| matt und grau, dass man sich lieber in ein Früher rettet, in dem | |
| bekanntlich alles besser war – selbst die Autoren? Oder geht es dem Markt | |
| so schlecht, dass man es sich schlicht nicht mehr leisten kann, auf das | |
| Talent und den eventuellen Erfolg junger Autoren zu hoffen? | |
| Wie auch immer; daran, dass diese Werke so gut sind, dass man sie keinem | |
| Leser vorenthalten darf, liegt es meistens nicht. Im Fall von Françoise | |
| Sagan kann man sogar sagen, dieser Roman, den ihr Sohn in einem unbekannten | |
| Umfang „fertig geschriebenen“ hat, wäre besser in der Schublade geblieben. | |
| ## Gut für Liebhaber und Proustianer | |
| Bei Marcel Proust, der für „Im Schatten der jungen Mädchen“ vor genau | |
| hundert Jahren, im Dezember 1919, den Prix Goncourt gewann und damit einen | |
| kleinen Skandal auslöste, ist es nicht ganz so schlimm – aber auch nicht | |
| viel besser. Zumindest aus Laienperspektive. | |
| Wahre Liebhaber, eingefleischte Proustianer und solche, die sich für die | |
| literarische Entwicklungsgeschichte des großen französischen Autors, seine | |
| ersten Zeilen und somit für die Vorarbeiten für sein Mammut- und | |
| Meisterwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ interessieren, dürfte | |
| dieser kurze Band begeistern. Denn im Gegensatz zu Sagan ist hier nichts | |
| „fertig geschrieben“ oder irgendwie zusammengeflickt. | |
| Stattdessen wird jede Kurzgeschichte, und sei sie noch so kurz (teilweise | |
| zwei Seiten), von einer fast ebenso langen Einleitung und einem | |
| Einordnungstext begleitet. Für den einfachen Leser ist das teilweise | |
| mühsam. Nicht jeder hat die sieben Bände der „Recherche“ und jeden Schritt | |
| von Albertine und Co. so präsent, dass er die Bezüge zum Hauptwerk | |
| nachvollziehen kann. | |
| Im Grunde hat dieser Band, dessen Inhalt ursprünglich Teil von [2][Proust]s | |
| Erstling „Les Plaisirs et les Jours“ hätte sein sollen, dann aber | |
| aussortiert wurde, um den Fokus nicht auf die Homosexualität des Autors zu | |
| lenken, mehr etwas von einem Baustein für Wissenschaftler als einem | |
| literarischen Bonbon für die Lesermasse. | |
| Doch auch die Durchschnittsleserin findet die ein oder andere „nouvelle | |
| inédite“, die hängen bleibt. Etwa jene, die dem Buch seinen Namen gibt: „… | |
| Mystérieux Correspondant“. Dort gesteht ein „mysteriöser Korrespondent“… | |
| feinen Françoise de Lucques seine Liebe und bittet sie, ihn zu sich zu | |
| lassen, um sein Liebesleid zu lindern. | |
| ## Cremiger Käse, guter Käse | |
| Françoise, die, wie einige Figuren in diesem Buch, ein Faible fürs Militär | |
| hat, träumt schon von einem jungen Offizier, tatsächlich verbirgt sich | |
| hinter diesen Briefen aber, wie man bald erfährt, ein ganz anderer. Eine | |
| andere. Nämlich ihre Freundin Christiane, die an einer bis dahin | |
| unerklärten Melancholie zugrunde geht. | |
| Unsere Heldin steht schließlich vor einem moralischen Dilemma: Ehebruch | |
| begehen und die Freundin retten oder sie der bourgeois-religiösen Moral | |
| opfern? Den Ausgang der Geschichte ahnt man – wir sind hier schließlich bei | |
| Proust, nicht beim Marquis de Sade. | |
| Das reizendste, amüsanteste Detail an diesem Buch kommt lustigerweise gar | |
| nicht von Marcel Proust selbst, sondern von einem Concierge, einem gewissen | |
| A. Charmel, dessen Brief man in den angehängten Notizen und Entwürfen | |
| findet: Darin hat er für Herrn Proust (ob gebeten oder nicht, das weiß man | |
| nicht genau) die Schreie von Paris aufgezeichnet. | |
| Die klangen damals aufgeschrieben in etwa so: „Guter cremiger Käse, guter | |
| Käse! Frische Muscheln, ahhhh frische Muscheln! L’Intran, l’inter, die | |
| Freiheit, Paris-Sport! Amüsieren sie sich, meine Damen, hier Vergnügen!“ | |
| Das war irgendwann Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts. | |
| Heute, im 21. Jahrhundert, klingt es in den Pariser Straßen eher so: „Die | |
| Jungen haben’s schwer, die Alten haben nichts mehr … Diese Gesellschaft | |
| wollen wir nicht!“ Oder auch: „Macron, du bist hinüber, die Jugend steht | |
| auf der Straße!“ | |
| 11 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Annabelle Hirsch | |
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