# taz.de -- Knutschen in der Literatur: Ein Kuss? Eine Katastrophe! | |
> Ob Wilde, ob Proust, ob Duras: Der literarische Kuss führt uns ohne | |
> Umwege in das Fegefeuer der Liebe. Denn jedem Anfang wohnt schon das Ende | |
> inne. | |
Bild: Immer Drama, immer gefährlich: Der Kuss in der Literatur | |
Die Quintessenz des literarischen Kusses findet sich in einem Satz, in | |
einer Strophe, in einem Nicht-Kuss von Oscar Wilde. Er hat ihn irgendwann | |
zwischen 1894 und 1898 in einem britischen Gefängnis formuliert. Wilde | |
hatte Frau und Kinder, Kontakt zu männlichen Prostituierten, einen | |
Liebhaber und wurde wegen homosexueller Praktiken zu zwei Jahren Zuchthaus | |
mit schwerer körperlicher Zwangsarbeit verurteilt. | |
Im Gefängnis schrieb er einen Brief und eine Ballade über die | |
philisterhaft-viktorianisch-britische Gesellschaft mit ihren verlogenen | |
Moralvorstellungen. Jener Brief war zugleich auch eine Abrechnung mit | |
seinem Liebhaber Lord Alfred Bruce Douglas, der ihn intrigant und | |
verabscheuungswürdig verraten hatte. Er schrieb: „Du hast mich mürbe | |
gemacht. Es war der Triumph der kleineren über die größere Natur. Es war | |
ein Fall jener Tyrannei des Schwachen über den Starken.“ | |
Doch Oscar Wilde wäre nicht Oscar Wilde, wenn er seine eigene Schuld am | |
Niedergang der Liebe, wenn er seinen eigenen Narzissmus nicht mit | |
reflektiert hätte. In der allerletzten Strophe seiner Ballade vom Zuchthaus | |
zu Reading schreibt er: „Doch jeder mordet, was er liebt, sei jeder das | |
belehrt, mit schmeichelndem Wort, mit bitterem Blick, nach jedes Art und | |
Wert; Der Feige mordet mit einem Kuss, der Tapfere mit einem Schwert.“ | |
## Der Verrat, der frei macht | |
Weshalb mordet man, was man liebt? In jedem ersten Kuss, in der | |
Schwellenüberschreitung, im Verschlingen des Partners, im | |
Ineinander-Aufgehen mit dem Anderen, im Mythos der ewig romantischen Liebe | |
ist der letzte Kuss des Überdrusses, Betruges, Hasses oder gar Tötens | |
bereits enthalten. Es gibt, laut Wilde, kein Entkommen: Die Feigen morden, | |
sobald die Liebe abgestumpft ist, mit blutleeren Küssen und die Tapferen | |
mit einem Schwert, um im leidenschaftlichen Kuss mit einem Anderen doch | |
noch eine Art von Erlösung in diesem jämmerlichen Dasein zu erhaschen. | |
Der literarische Kuss führt uns direkt ins Fegefeuer der Liebe. Milan | |
Kundera schreibt in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins: „Beide waren | |
sie berauscht von einem Verrat, der sie frei machte. Franz ritt auf Sabina | |
und verriet seine Frau. Sabina ritt auf Franz und verriet Franz.“ | |
Proust schreibt in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: „Ich liebte sie, | |
ich bedauerte, dass ich weder Zeit noch Einfallsvermögen genug gehabt | |
hatte, um sie zu beleidigen, ihr Böses zuzufügen, ihr die Erinnerung an | |
mich aufzuzwingen. Ich fand sie schön, dass ich gern noch einmal umgekehrt | |
wäre und ihr achselzuckend zugerufen hätte: ‚Ich finde Sie hässlich, | |
grotesk, Sie widern mich an!‘“ | |
Und Marguerite Duras schreibt in Im Sommer abends um halb elf: „Allein an | |
seiner Stimme hätte sie es erraten können, seiner zitternden, veränderten | |
Stimme, die ihrerseits vom Verlangen nach dieser Frau erfüllt war.“ | |
## Höchste und niederträchtigste Wirklichkeit zugleich | |
Der literarische Kuss ist ein Betrug, eine Katastrophe, ein zentraler | |
Wendepunkt, ist ein erotisches und dramatisches Ereignis. Flauberts Madame | |
Bovary sehnt sich nach dem lebenseröffnenden Kuss eines Fremden und begeht | |
schließlich Suizid. Fontanes Effi Briest beginnt eine flüchtige Liebschaft | |
mit einem Offizier, der später von ihrem Ehemann ermordet wird. Der | |
literarische Kuss ist gefährlich, geheimnisumwittert, offenbart | |
gesellschaftliche Konventionen, ist die höchste und niederträchtigste | |
Wirklichkeit zugleich. Nabokovs Humbert Humbert will den unschuldigen und | |
reinen Kuss Lolitas auf seinen Lippen verspüren, und Martha und George | |
führen in Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? einen bösartigen, | |
qualvollen Ehekrieg. | |
Der literarische Kuss ist eine Amour fou, ist perfide, heilend, ist der | |
Anfang der Tragödie, ist dreckig, leidenschaftlich, liebevoll, zornig, | |
anmutig, diabolisch, verrückt, obsessiv und mörderisch. Mit den Worten | |
Oscar Wildes im Original: „Yet each man kills the thing he loves, By each | |
let this be heard, Some do it with a bitter look, Some with a flattering | |
word, The coward does it with a kiss, The brave man with a sword!“ | |
29 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Alem Grabovac | |
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