| # taz.de -- Tristan Garcias Roman „Das Siebte“: Das erste Leben ist das bes… | |
| > Der französische Philosoph und Autor betrachtet die praktischen Folgen | |
| > der Unsterblichkeit. Und stellt ein interessantes Gedankenexperiment an. | |
| Bild: Tristan Garcia: „Das Siebte“ knüpft an die Tradition der Thesenroman… | |
| Unsere entzauberte Zeit überlässt das ewige Leben den Religionen. Und die | |
| Frage, welche Konsequenzen der Sieg über den Tod letztlich hat, wurde | |
| literarisch wohl das letzte Mal 1946 von [1][Simone de Beauvoir] | |
| verhandelt. In ihrem Roman „Alle Menschen sind sterblich“ lässt sie ihren | |
| Helden Raimondo Fosca im 13. Jahrhundert eine geheimnisvolle Flüssigkeit | |
| trinken, die ihn unsterblich macht. | |
| Das Ergebnis ihres Gedankenexperiments ist ernüchternd: geliebte Menschen, | |
| Verwandte und Freunde von Fosca sterben, und was die äußere Welt betrifft, | |
| so scheitern alle seine Bemühungen, sie zum Positiven zu verändern. Der | |
| 1981 geborenen [2][französische Philosoph und Autor Tristan Garcia] wagt | |
| sich mit seinem Roman „Das Siebte“ noch einmal an die praktischen Folgen | |
| der Unsterblichkeit. | |
| Wobei dem Leser gleich am Anfang des Buches vom namenlosen Ich-Erzähler | |
| mitgeteilt wird, dass nach seinem siebten Leben Schluss ist. Er weiß das so | |
| genau, weil sich seine Wiedergeburt mit einem Zeichen ankündigt: Im Alter | |
| von sieben Jahren beginnt er, aus der Nase zu bluten. Im siebten Leben | |
| jedoch wartet er vergeblich darauf. | |
| Der wichtigste Unterschied zu Simone de Beauvoir besteht bei Garcia darin, | |
| dass sein Held nicht einfach weiterlebt, sondern nach seinem Tod immer | |
| wieder in der gleichen Biografie landet. Er weiß, dass er bereits gelebt | |
| hat und kann sich an viele Details seiner vorherigen Leben erinnern. Er | |
| könnte sich mit diesem Wissen also anders entscheiden, begangene Fehler | |
| vermeiden. Aber so einfach ist das nicht. | |
| ## In fast jedem Leben | |
| Da ist zum Beispiel die Liebe seines Lebens. Sie heißt Hardy, und der | |
| Erzähler lernt sie in fast jedem Leben als Siebzehnjährige im Parc de la | |
| Villette in Paris kennen. Gleich in seinem zweiten Leben versucht er, ihr | |
| gegenüber ein Verhalten an den Tag zu legen, von dem er aus dem vorherigen | |
| Leben weiß, dass sie es mag. | |
| Er schenkt ihr Musik, die sie geliebt hat, und geht mit ihr in Filme, die | |
| sie im Leben zuvor mochte. Doch das alles kommt nicht gut an. „Du weißt zu | |
| viel“, sagt sie, „du bist ein Snob. Das wird böse enden.“ Außerdem land… | |
| er ihr gegenüber aufgrund seines Wissensvorsprungs in der Vaterrolle. „Aber | |
| ich wollte nicht als Vater herhalten.“ | |
| Auch seine Ambitionen, die Gesellschaft zu verändern und gerechter zu | |
| machen, enden zweideutig. In seinem dritten Leben bricht in Frankreich ein | |
| mörderischer Bürgerkrieg aus. Der Erzähler wird zum Warlord. Erfolgreich | |
| ist er in dieser Rolle vor allem, weil er keinerlei Angst hat. Er weiß ja, | |
| dass er nach seinem Tod wiedergeboren wird. Er überlebt den Krieg, wird | |
| aber von den Siegern ins Gefängnis geworfen. Nach seiner Entlassung stellt | |
| er erstaunt fest, dass sich in Frankreich vieles zum Besseren verändert | |
| hat. | |
| Aber waren es die vielen Toten wert? Wie „Alle Menschen sind sterblich“ ist | |
| auch „Das Siebte“ ein pessimistisches Buch. Die Unsterblichkeit ist wie das | |
| Paradies letztlich nur als Utopie erträglich. Bei Beauvoir leidet Fosca, | |
| der alle immer wieder überlebt, unter dem Tod seiner Freunde; Garcias | |
| Erzähler trifft sie zwar in jedem Leben wieder, hat sogar die Chance, alles | |
| besser zu machen, aber das gelingt ihm nicht wirklich – macht ihn vor allem | |
| nicht glücklicher. | |
| ## Knüpft an die Thesenromane von Beauvoir und Sartre an | |
| Auch ein rücksichtslos hedonistisches Leben unter den Reichen und Schönen | |
| vermag dies nicht zu erreichen. Er kann danach nur feststellen, dass das | |
| erste Leben, in dem er noch nicht an seine Unsterblichkeit geglaubt hat, | |
| „das beste war“. | |
| Tristan Garcia knüpft mit „Das Siebte“ an die Tradition der Thesenromane | |
| von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir an. Im dritten Leben, bevor er | |
| sich radikalisiert und Warlord wird, werden der Erzähler und Hardy sogar | |
| wie Sartre und Beauvoir zu intellektuellen Popstars inklusive | |
| unkonventioneller Liebesbeziehung. | |
| Aber überall in der Erzählung schimmern die philosophische Fragen durch. | |
| Sie strukturieren den Text, weshalb er seltsam dürr wirkt, wenig | |
| atmosphärisch und dadurch auch wenig literarisch. Tristan Garcias Roman ist | |
| zwar ein interessantes und gut zu lesendes Gedankenexperiment; aber es gibt | |
| wenig Unaufgelöstes, wenig unbeantwortete Fragen, die doch gerade den Reiz | |
| von Literatur ausmachen. | |
| 9 Jan 2020 | |
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| Fokke Joel | |
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