| # taz.de -- Simone de Beauvoir und Feminismus: Fürsorge als Teil eines guten L… | |
| > Vor etwa 70 Jahren erschien „Das andere Geschlecht“ der Philosophin | |
| > Simone de Beauvoir – mit weitreichenden Folgen. Heute ist ein | |
| > Weiterdenken nötig. | |
| Bild: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre am Strand | |
| Als „Das andere Geschlecht“ vor 70 Jahren erschien, sah Albert Camus den | |
| französischen Mann beleidigt. Kein Wunder, hatte doch die junge | |
| [1][Philosophin Simone de Beauvoir unverblümt geschildert], wie die Frauen | |
| ihrer Zeit den Bedürfnissen männlicher Sexualität unterworfen und als | |
| Hausfrauen und Mütter zu einem sinnlosen Alltagsleben gezwungen wurden. Die | |
| katholische Kirche setzte das Buch kurzerhand auf den Index. | |
| Ein Dutzend Jahre später sorgte das gleiche Buch unter den jungen | |
| Mittelschichtsfrauen der westlichen Welt für grundstürzende | |
| Leseerfahrungen. Diese Frauen durften mit einiger Selbstverständlichkeit | |
| studieren oder erhielten jedenfalls eine Berufsausbildung, ebenso | |
| selbstverständlich wurde jedoch von ihnen erwartet, dass sie sich | |
| anschließend, wie ihre Mütter vor ihnen, voll und ganz dem Wohl ihrer | |
| Familie widmeten und das berufliche Fortkommen sowie die kulturelle | |
| Repräsentation ihren Ehemännern überließen. | |
| Diese Frauen fanden im „Anderen Geschlecht“ sozialwissenschaftlich | |
| fundierte Erklärungen für ihre Unzufriedenheit mit der für sie vorgesehenen | |
| Lebensweise: abhängig vom Ehemann und weitgehend abgeschnitten von | |
| kulturellen Impulsen und persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Beauvoirs | |
| Essay machte ihnen klar, wie ihr persönliches Unglück mit den | |
| Machtstrukturen einer patriarchalischen Gesellschaft zusammenhing. | |
| Denn Frauen, so Beauvoirs zentrale Behauptung, werden nicht als Frauen | |
| geboren, sie werden von mächtigen gesellschaftlichen Kräften dazu genötigt, | |
| sich einem vorgefertigten Rollenbild anzupassen. Die Kultur, in der sie | |
| leben, hat sie als das „Andere“ des Männlichen, als „zweites Geschlecht�… | |
| konzipiert. Diese Verweisung ins Sekundäre, Marginale hindert die Frauen | |
| daran, ihr Leben einem eigenen Entwurf gemäß zu gestalten. | |
| Wie in ihrem gesamten Werk bezog sich Beauvoir auch im „Anderen Geschlecht“ | |
| ausdrücklich auf die existenzialistische Philosophie, wie sie von Jean Paul | |
| Sartre einige Jahre zuvor in „Das Sein und das Nichts“ formuliert worden | |
| war: Der Sinn des menschlichen Lebens ist nicht vorgegeben, sondern muss | |
| von der oder dem Einzelnen individuell und immer wieder neu entworfen | |
| werden, in der Auseinandersetzung mit der vorgefundenen individuellen oder | |
| gesellschaftlichen Situation. Wer einfach nur seinen Alltag bewältigen | |
| möchte oder überkommenen Lebenskonzepten folgt, lebt ein defizitäres, | |
| nichtauthentisches Leben. | |
| In dieses philosophische Konzept fügte Beauvoir nun einen neuen, | |
| sozialwissenschaftlich informierten Gedanken ein: Es muss nicht unbedingt | |
| an der eigenen Schwäche oder Unfähigkeit liegen, wenn Menschen keinen | |
| eigenen Entwurf leben; vielmehr können die äußeren Bedingungen so ungünstig | |
| sein, dass sie kaum die Möglichkeit dazu haben. | |
| Diese Konstellation sieht Beauvoir für die Frauen in patriarchalischen | |
| Gesellschaften regelmäßig gegeben: Sie entwerfen sich nicht selbst, sondern | |
| sie werden entworfen. Nach Auffassung der Literaturwissenschaftlerin Toril | |
| Moi ist dieser Gedanke der wichtigste eigenständige Beitrag Beauvoirs zur | |
| Entwicklung der existenzialistischen Philosophie. | |
| ## Leben im Patriarchat auf den Punkt gebracht | |
| Anders als Frauen haben Männer in den Augen Beauvoirs die Möglichkeit | |
| autonomer Arbeit, sinnhaften Tätigwerdens seit jeher besessen; ihr | |
| Werkzeuggebrauch transzendiert das Tiersein und ermöglicht ihnen einen | |
| aktiven Zugriff auf die Welt; ihre selbst gesetzten Ziele weisen sie als | |
| Schöpfer ihres Lebens aus. So sehr Beauvoirs Diagnosen das Leben von | |
| Frauen im Patriarchat auf den Punkt gebracht haben – die männliche | |
| Lebensweise wird von ihr, gelinde gesagt, überschätzt. Wo immer sie im | |
| „Anderen Geschlecht“ männliche Aktivitäten beschreibt, ist Idealisierung … | |
| Spiel. | |
| So wird das Keule-Schwingen des Ur-Mannes zum Ausweis der Transzendenz, das | |
| Gebären eines Kindes soll hingegen als naturhafter Vorgang dem Bereich der | |
| bloßen Immanenz angehören, in dem authentisches Menschsein und Freiheit | |
| unmöglich sind. Umgekehrt nimmt Beauvoir entmenschlichende | |
| Lebensbedingungen, die auch Männer betreffen, etwa Sklaverei und | |
| Knechtschaft oder die erschöpfende Gleichförmigkeit von Fabrikarbeit, gar | |
| nicht erst in den Blick. | |
| Nach Beauvoirs Verständnis ist authentisches Menschsein vor allem durch ein | |
| beständiges Eingreifen in die äußere Welt definiert, durch das einsame | |
| Handeln und Denken isolierter Individuen. Ihr Konzept des | |
| Sich-immer-wieder-neu-Entwerfens gerät so in eine gefährliche Nähe zu | |
| bloßem Aktionismus und verrät ein eher vordergründiges Verständnis von | |
| Autonomie. | |
| Die begeisterte Rezeption des „Anderen Geschlechts“ in den 60er und 70er | |
| Jahren hatte weitreichende Folgen: Der von Beauvoir geprägte sogenannte | |
| Gleichheits- oder Gleichstellungsfeminismus hat für die Frauen in den | |
| westlichen Gesellschaften ein nie gekanntes Maß an Freiheit und | |
| Selbstbestimmung erkämpft und ihre weitgehende Integration in die | |
| Erwerbsarbeit zur Folge gehabt. Wer die marginalisierte Position eines | |
| „zweiten“ Geschlechts verlassen will, braucht ein eigenes Einkommen, ein | |
| eigenes Bankkonto und eigene Rentenansprüche – diese Einsicht haben Frauen | |
| in großer Zahl umgesetzt. | |
| ## Krise der Sorge-Arbeit | |
| Weil gleichzeitig Wasch- und Geschirrspülmaschinen, Staubsauger und | |
| Fertiggerichte unseren Alltag erobert haben, weil es Kitas und Pflegeheime | |
| gibt, ist der Anteil reproduktiver Tätigkeiten an der insgesamt geleisteten | |
| Arbeit immer geringer geworden. Unser Leben nähert sich dem Bild an, das | |
| Beauvoir im Schlussteil des „Anderen Geschlechts“ von einer idealen Zukunft | |
| entworfen hat: Die Frau taucht „im Licht der Transzendenz“ auf, Ehe und | |
| Mutterschaft sind „frei“ und die Sorge für die Kinder fällt der | |
| „Kollektivität“ zu. | |
| Aber erzeugt dieses Konzept von Transzendenz und Unabhängigkeit tatsächlich | |
| das gute Leben, das wir uns davon erhofft haben? Wollen wir uns wirklich | |
| von den Tätigkeiten und Aufgaben, die Beauvoir dem Bereich der „bloßen“ | |
| Reproduktion zuschlägt, vollständig befreien, indem wir sie umstandslos an | |
| Kita, Altenheim, die polnische Putzfrau und den Lieferservice delegieren? | |
| Ist das überhaupt möglich? | |
| Die Rede ist von der in die Krise geratenen Sorge-Arbeit, die mehr ist als | |
| „nur“ Reproduktion, weil in ihr ein großer Teil dessen stattfindet, was zur | |
| Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens gehört. Diese Sinnhaftigkeit geht | |
| verloren, wenn berufstätige Eltern ihre einjährigen Kinder zu | |
| Neunstundentagen in die Kita schicken und sich das gemeinsame Leben junger | |
| Familien auf ein hastiges Abspulen von Alltagsroutinen beschränkt. Wenn | |
| Pausen der Besinnung, der Neuorientierung, ja auch solche der schieren | |
| Verwirrung im durchgetakteten Leben keinen Raum mehr haben. Schließlich: Wo | |
| bleibt das Bewusstsein davon, dass Fürsorge für andere, die Widrigkeiten | |
| und das Glück des Zusammenlebens unabdingbarer Teil eines guten Lebens | |
| sind? | |
| Die mutigen Analysen des „Anderen Geschlechts“ bewahren ihre Leserinnen | |
| glücklicherweise vor der Illusion, dass sich eine Besserung etwa durch eine | |
| Rückkehr zu den alten Zuständen erreichen ließe. Diese alten Zustände waren | |
| nicht gut. Aber sie ließen Raum für diejenigen Aspekte der menschlichen | |
| Verfasstheit, die in der schönen neuen Lebenswelt verloren zu gehen drohen. | |
| Das hat auch Beauvoir zu wenig bedacht. Ihre Ideen zur Verwirklichung | |
| eines authentischen Menschseins reduzieren sich weitgehend auf den Raum von | |
| Politik, Moral und produktiver Arbeit, und sie beruhen auf der Annahme, | |
| dass Menschen pausenlos auf der Höhe ihrer Kräfte agieren. | |
| ## Erwachsene Menschen mit unerschöpflicher Energie | |
| In Beauvoirs kulturellem Kosmos sind erwachsene Menschen, die offenbar | |
| über unerschöpfliche Energien verfügen, unentwegt damit beschäftigt, | |
| moralische Konflikte oder Möglichkeiten politischen Widerstands auszuloten. | |
| Sie tragen schwarze Rollkragenpullover, halten sich gern in Nachtclubs auf | |
| und verbringen ihre Tage schreibend an Kaffeehaustischen, wo sie ihr Leben | |
| in mehr oder weniger autobiografischen Schriften objektivieren. | |
| Wäre aber nicht auch ein authentisches Subjekt vorstellbar, das sich beim | |
| Klötzchenspielen mit einem Kleinkind neu entwirft? Das im Sichkümmern um | |
| die alte Nachbarin unbekannte Aspekte seiner selbst und nicht zuletzt das | |
| Angewiesensein der Menschen auf Fürsorge erfährt? | |
| Nicht die Grundannahmen des „Anderen Geschlechts“ stehen einem solchen | |
| Konzept entgegen, sondern vor allem die mit dem französischen | |
| Existenzialismus verbundenen Bilder, an deren Herstellung Beauvoir | |
| allerdings maßgeblich beteiligt war. Niemand zwingt uns, diese Bilder zu | |
| übernehmen, wenn wir die Verdienste des „Anderen Geschlechts“ wertschätzen | |
| wollen. Gute Traditionen bewähren sich darin, dass wir sie weiterentwickeln | |
| und für unser Lebend passend machen. Wie das im Einzelnen aussehen könnte, | |
| dazu sollten Feministinnen von heute eigene Ideen haben: Ideen, die ohne | |
| die bahnbrechenden Einsichten des „Anderen Geschlechts“ nicht möglich wär… | |
| und die zugleich notwendigerweise darüber hinausgehen. | |
| 27 Jul 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Renate Kraft | |
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