# taz.de -- Der Hausbesuch: Im Haus der Kutscherin | |
> Wie mütterlich kann Feminismus sein? Irene Stoehr hat ihr Leben der | |
> Frauenbewegung gewidmet und eckt an, wenn es denn sein muss. | |
Bild: Sie will nicht denken, was alle denken: Irene Stoehr in ihrer Wohnung in … | |
Manche Menschen sind von Überlegungen fasziniert, die, wenn sie sie | |
aussprechen, großen Widerspruch hervorrufen. Irene Stoehr hat das erlebt. | |
Zu Besuch bei einer widerspenstigen Denkerin. | |
Draußen: Ein verwilderter Garten in Berlin mit hohen Bäumen, Sträuchern und | |
Komposthaufen. Im Sommer blühen Wildblumen, im Winter verstecken sich die | |
Insekten im vertrockneten Gestrüpp. Das Haupthaus, eine Villa von 1900, | |
wirkt angenehm unrenoviert. | |
Drinnen: Von der Haustür geht es direkt in die Küche und von dort in den | |
Wohnraum mit Regalen voller Bücher, mit Bildern, Sofa und Klavier. Durch | |
zwei türgroße Fenster dringt Licht: Irene Stoehr bewohnt ein umgebautes | |
Kutscherhaus im Garten einer Hausgemeinschaft. | |
Bewegung: Beim Teemachen fällt Irene Stoehr eine Tasse auf den Boden. Sie | |
hat gerade nur eine Hand zur Verfügung. Die linke steckt in einem Verband. | |
Kürzlich nahm ihr – sie saß auf dem Fahrrad – ein rasender Krankenwagen so | |
die Vorfahrt, dass sie stürzte. Zum Glück war sie ohnehin auf dem Weg zum | |
Orthopäden. | |
Papiere: Irene Stoehr setzt sich an ihren Esstisch und schiebt Papiere zur | |
Seite. Sie möchte ihr neues Buch über die Frauenbewegung in den 1950er | |
Jahren fertig machen. Das war die Zeit, in der viele Frauen, die im Krieg | |
alles alleine machten und ab Kriegsende Trümmer wegräumen mussten, wieder | |
auf Kinder, Küche, Kirche gepolt wurden. „So zumindest die Saga“, meint | |
Stoehr. Wenn aber von Frauenbewegung in der Nachkriegszeit die Rede ist, | |
denken viele, dass es da keine Frauenrechtlerinnen gab. „Oder kennen Sie | |
eine?“, fragt sie und zählt, ohne eine Antwort abzuwarten, auf: „Marie | |
Elisabeth Lüders, Freda Wuesthoff, Gabriele Strecker.“ | |
Ein Durcheinander: Stoehrs Lebensthema ist die Geschichte der | |
Frauenbewegung – vom Kaiserreich bis heute. „Mich faszinieren vor allem die | |
Widersprüche.“ An welche sie denn da denke? Gerade fallen ihr die der | |
Frauen aus den 50er Jahren ein. „Damals, im Kalten Krieg, ging | |
Antikommunismus und Frauenrechtsbewegung zusammen“, sagt Stoehr. „Und | |
oppositionelle, also linke Frauengruppen setzten in der Zeit wiederum auch | |
auf Mütterlichkeit und machten damit Politik. Friedenspolitik.“ Das sei von | |
der nächsten Feministinnengeneration ab den 70er Jahren, zu der Stoehr | |
zählt, oft nicht verstanden worden. | |
Erstaunen: Stoehr war, sagt sie, selbst überrascht, dass es in den 50er | |
Jahren frauenpolitisch engagierte Frauen gab. Ihre Mutter war ihr dabei | |
kein Vorbild. Eher ihr Vater, der war Journalist, kannte Frauen, die aus | |
dem Privaten ausgebrochen waren, lud sie mitunter ein. | |
Großstadt: Irene Stoehr ist Berlinerin. Nicht gebürtig, aber mit vier | |
Jahren kam sie 1945 in die kaputte Hauptstadt; sie war mit Mutter, | |
Großmutter und Schwester aus Niederschlesien geflohen. „Die Flucht muss | |
gruselig gewesen sein. Zu Fuß. Mit Leiterwagen. Mit Vergewaltigungen.“ | |
Erinnerungen daran hat sie kaum. In Berlin wohnte ihre Familie im nicht so | |
kaputten Zehlendorf, „da war die Welt dann relativ heil“. | |
Bildung: Nach dem Abitur studierte sie Soziologie an der Freien Universität | |
in Berlin. Sie interessiert sich für offenere Schulformen und forscht dazu. | |
Anfang der 1970er Jahre wird sie Professorin an der Fachhochschule für | |
Sozialarbeit in Hildesheim. Alles sieht nach gradliniger Biografie aus. | |
Verheiratet war sie auch. In Hildesheim aber entstehen in der Zeit viele | |
feministische Frauengruppen, erzählt sie, „und ich war nicht unbeteiligt | |
daran“. Auch privat verschiebt sich der Fokus. Sie verliebt sich in eine | |
Frau. | |
Inhalte statt Karriere: 1977 tauscht sie ihre Hochschullehrerinnenposition | |
in Hildesheim gegen eine befristete Assistentinnenstelle für „Frauenarbeit | |
und Frauenbewegung“ am Otto-Suhr-Institut, „dem Osi“ der FU. In Hildesheim | |
habe sie nur gelehrt, sie wollte aber forschen. Ein weiterer Grund für den | |
Wechsel: die Liebe. „Fürs Lesbische hatte man in Hildesheim noch nicht so | |
viel Toleranz wie in Berlin.“ Sie und ihre Freundin waren aus einer edlen | |
Weinstube rausgeschmissen worden, als sie sich küssten. | |
Forschen und Denken: In Berlin gehört sie zur Gruppe, die die erste | |
Frauensommeruni, 1976 war die, vorbereitet. 5.000 Frauen kamen. „Ein | |
Marktplatz des Denkens, Redens und Debattierens war es, und alle, die | |
sprachen, dachten und debattierten, waren Frauen.“ Das habe man damals | |
gebraucht, dass Frauen unter sich diskutieren, ohne männliches | |
Dominanzgehabe. „Das war Selbstermächtigung und keine Männerfeindlichkeit, | |
was uns immer vorgeworfen wurde.“ | |
Neues machen: Zeitgleich mit der Zeitschrift Emma entstand die | |
[1][feministische Zeitschrift Courage]. Die eine von Anfang an hierarchisch | |
auf die Meinung von Alice Schwarzer zugeschnitten, die andere „zumindest | |
vom Anspruch her offen, experimentell, plural und relativ | |
basisdemokratisch“. Zwei Jahre war Stoehr Redaktionsmitglied. Die Courage | |
wurde 1984 eingestellt, der ewige Geldmangel war nicht mehr zu verkraften. | |
Später übernahm Stoehr mit der Courage-Kollegin Eva-Maria Epple die | |
Zeitschrift Frauen und Schule. Umbenannt in Unterschiede, richtete sie sich | |
an „Lehrerinnen und Gelehrte, Mütter und Töchter, Gleich- und | |
Weichenstellerinnen, Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art“, sagt | |
Stoehr. | |
„Aller Art“ – wie prophetisch. „Aller Art“, das sei cis, trans, bi, q… | |
inter, weiblich, männlich in einem. „Bloß dass Großmütter nicht genannt | |
wurden, das wurde ziemlich bald moniert.“ | |
Neue Erkenntnis: Bei Vorträgen auf der ersten Frauensommeruni wird Stoehr | |
auf ein Thema gestoßen, das sie fortan nicht mehr loslässt: die Entstehung | |
der unbezahlten Hausarbeit im Kapitalismus. Wie Schuppen von den Augen sei | |
es ihr gefallen, dass die Kleinfamilie mit allen bekannten Folgen der | |
Frauenunterdrückung, „die wir auch bei unseren Müttern erlebt haben“, ein | |
Phänomen ist, „das für die Aufrechterhaltung des von uns so bekämpften | |
Kapitalismus wichtiger ist als die Lohnarbeit der Männer.“ Warum das? „Weil | |
die Arbeit der Frauen nicht bezahlt ist, aber dem Kapital zugute kommt“, | |
antwortet sie. | |
Stoehr folgerte, dass es in feministischen Diskursen nicht ausreiche, | |
Frauen nur als historische Opfer oder Benachteiligte zu betrachten, sondern | |
dass auch politische Systemfragen gestellt werden müssen. | |
Nichts indes ist einfach: Denn nicht erst heute ist die Frauenbewegung | |
zersplittert, auch Ende des 19. Jahrhunderts, als der Kapitalismus mit der | |
Industrialisierung richtig Fahrt aufnahm, war die Frauenbewegung in | |
Deutschland in drei Flügel gespalten: in den proletarisch-sozialistischen | |
mit Clara Zetkin, in den radikal-bürgerlichen, Anita Augspurg spielt da | |
eine Rolle, auch Hedwig Dohm, und in den bürgerlich-gemäßigten Flügel, wo | |
Helene Lange wichtig war. „Die würde ich gerne mal reden hören, aber es | |
gibt, so viel ich weiß, keine Aufnahmen von ihr.“ | |
Mainstream: Die Feministinnen der 70er Jahre, also die, aus denen Stoehr | |
kam, fühlten sich dem radikalen Flügel der alten Frauenbewegung verbunden. | |
Denen ging es, wie den Frauen in den 70ern, um eine Politik der | |
Gleichberechtigung auf gesetzlicher Grundlage. Bei ihren Forschungen gerät | |
Stoehr indes der gemäßigte Flügel der alten Frauenbewegung in den Blick. | |
Die wollten eine menschliche Gesellschaft auch auf gleichberechtigter | |
Basis, glaubten aber, dass Frauen andere Kompetenzen haben, um das zu | |
verwirklichen, und brachten den Begriff „Mütterlichkeit“ ins Spiel. | |
„Mütterlichkeit galt ihnen als Synonym für Menschlichkeit, war also nicht | |
an Mutterschaft gebunden, sondern wurde als ein Potenzial aller Frauen | |
gesehen.“ Stoehr verteidigte damals diesen Ansatz, kam aber nicht gut an. | |
Streit: Zum fünfzigsten Jahrestag der Machtergreifung der | |
Nationalsozialisten 1983 hatte sie für die Courage den Artikel | |
„Machtergriffen?“ geschrieben. Sie betonte darin den Unterschied zwischen | |
nationalsozialistisch-rassistischer Gebärpolitik und dem Konzept der | |
„organisierten Mütterlichkeit“ des gemäßigten Flügels der Frauenbewegung | |
jener Zeit. Das indes wurde von Feministinnen in den 70er Jahren als | |
biologistische Argumentation wahrgenommen. Bei der öffentlichen Diskussion | |
des Artikels in den überfüllten Redaktionsräumen ist die Empörung groß. | |
Irene Stoehr wird als angebliche Vertreterin des NS-Mutterkults in der Luft | |
zerrissen. Da zog sie sich erst einmal zurück und spendierte sich eine | |
Fastenwanderung. „Ich streife sehr gerne allein durch still bewegte Wälder, | |
hab mich aber auch schon oft verirrt.“ | |
Das Alte neu denken: Stoehr forschte weiter, veröffentlichte, lebte mal von | |
Forschungs- oder Honoraraufträgen, mal von Arbeitslosengeld, jetzt auch von | |
Rente. Stoehr sucht in der Geschichte nicht so sehr Vorbildliches, aus dem | |
angeblich gelernt werden kann, sondern Merkwürdigkeiten, schwer | |
Verständliches, Verschrobenes und das, was in der Geschichtsschreibung | |
nicht auftaucht. Stoehr ist eine streitbare Frau. Aber nicht immer könne | |
sie es aushalten, wenn sie mit ihrer Meinung aneckt. „Das denken, was alle | |
denken, will ich allerdings auch nicht.“ | |
13 Sep 2019 | |
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[1] /Geschichte-linker-Medien-im-Ueberblick/!5412732/ | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Meyer-Renschhausen | |
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