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# taz.de -- Zeitschrift „Les Temps Modernes“: Eine Befreiung des Menschen
> Die 1945 gegründete literarisch-politische Zeitschrift „Les Temps
> Modernes“ hat ein weltweites Renommee. Jetzt wird sie in dieser Form
> eingestellt.
Bild: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre waren MitgründerInnen der „Les…
Die Geschichte der Les Temps Modernes füllt in den Regalen
wissenschaftlicher Bibliotheken rund zehn Laufmeter. Zu fragen ist: Geht
sie nun zu Ende?
Die so bedeutende wie einflussreiche Zeitschrift wurde im Oktober 1945
gegründet, von solchen Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre, Simone de
Beauvoir, Raymond Aron, Maurice Merleau-Ponty, Michel Leiris, Jean Paulhan
und Albert Ollivier. Der Titel war eine Hommage an den gleichnamigen Film
von Charlie Chaplin.
Jetzt teilte der Verlag Gallimard, in dem die Zeitschrift von 1945 bis 1949
und dann wieder von 1985 bis heute erschien, mit, dass sie in „der
bisherigen Form eingestellt“ wird und von einer Buchreihe unter gleichem
Namen abgelöst werden soll. Die weiterhin bestehende Redaktion werde
Debatten zu den Themen der Buchreihe organisieren, zunächst jedoch eine
Veranstaltung: „Adieu, Temps Modernes. Die Zukunft der Zeitschriften“.
Hoffentlich wird diese Zukunft so glanzvoll wie die Vergangenheit. Mit dem
Selbstbewusstsein einer wirklich unabhängigen, nicht dem Zeitgeist
folgenden Institution schrieb der letzte directeur [1][– der 2018
verstorbene Filmemacher Claude Lanzmann –] im Editorial zur
Jubiläumsnummer 1995: „Seit Langem schon macht die Verspätung gegenüber
dem, was man so Aktualität nennt, unsere spezifische Modernität aus.“
## Alle Ideen sind beschädigt
Das ist kein Understatement, sondern hat Tradition: Das Erscheinen der
500. Nummer der Zeitschrift war kein Thema, dafür lud die Redaktion ihre
Leser 1991 ohne kalendarischen Anlass das erste und letzte Mal zu einem
Fest ein. Bei der Gestaltung des Titelblatts, das ein schlichtes
Inhaltsverzeichnis ist, blieb es, von kleinen typografischen Änderungen
abgesehen, von Anfang an bis heute. Zur spezifischen Modernität von Les
Temps Modernes gehört ihre intellektuelle Radikalität – ob es nun um
Philosophie, Sozialwissenschaft und Politik oder Literatur, Kunst, Musik
und Film geht.
Diese Radikalität wich nur in zwei Phasen einem tagespolitischen
Konformismus: In den fünfziger Jahren, als sich Sartre zeitweise dem
Parteikommunismus näherte, und in den siebziger Jahren, als Pariser
Nachwuchsintellektuelle die Zeitschrift zuerst durch ihren groben Maoismus
und danach durch ihren seichten „Antitotalitarismus“ in Verruf brachten.
Im Editorial zur ersten Nummer fasste Sartre den Menschen als „Zentrum
nicht hintergehbarer Unbestimmtheit“ und definierte als Ziel der
Zeitschrift nicht etwa die, sondern bescheiden „eine Befreiung des
Menschen“. Maurice Merleau-Ponty, der 1953 wegen politischer Differenzen
mit Sartre aus dem Herausgeberkreis ausschied, formulierte in der vierten
Nummer (1946) das philosophisch wie politisch Modernität verbürgende Motiv
in einem haltbaren Satz: „Es gibt nur noch beschädigte Ideen.“
Bereits 1951 sahen Sartre und Merleau-Ponty im „System der Lager und der
Zwangsarbeit“ in der Sowjetunion „Fakten, die die Bedeutung des russischen
Systems total infrage stellen“. Sartre ließ sich von den Denkschablonen des
Kalten Kriegs nicht beeindrucken: „Bevor ich für die Demokratie sterbe,
möchte ich doch sicher sein, darin zu leben … Weiß ich denn, wie sie in
Algier, in Goa oder auch nur in Le Creusot funktioniert?“ (1952)
## Kolonialismus und Imperialismus
In der Zeitschrift erschien auch Merleau-Pontys epochaler, durch die
geschichtliche Erfahrung von Stalinismus und Faschismus geprägter Essay
über „Humanismus und Terror“. Er bestimmte die – altmodisch gesprochen �…
geistige Situation der Zeit präziser als die buchhalterische
Verrechnungsprosa, die nach 1989 aufkam. André Gorz, dem Les Temps Modernes
zwischen 1961 und 1983 die fundiertesten soziologischen, später auch
ökologischen Essays verdankt, bilanzierte 1970 den Pariser Mai und den
Bildungsnotstand. „Die Universität zu zerstören“ war nötig, weil keine
Reform in der Lage sei, „diese Institution lebensfähig“ zu machen. Gorz
formulierte seine Kritik am Leninismus, als die wohlfeilen Traktate der
„neuen Philosophen“ noch nicht geschrieben waren.
Die Zeitschrift kritisierte vom Dezember 1946 an den französischen
Kolonialismus in Indochina und trat für Verhandlungen mit dem Viet Minh
ein. Sie wurde dann in den fünfziger und sechziger Jahren zum wichtigsten
Forum, in dem über Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus diskutiert
wurde. Später formierte sich in diesem Organ der Protest der
Intellektuellen gegen die Kriege und die Kriegsführung in Algerien und
Vietnam sowie gegen Nationalismus und Fremdenhass.
Michel Leiris öffnete den Lesern die Augen für die Völker Afrikas, deren
Kultur und Literatur zu einem Zeitpunkt, als Eurozentrismus und
abendländischer Zivilisationsdünkel noch zur intellektuellen
Grundausstattung der Bildungsbürger Europas gehörten. Zur spezifischen
Modernität gehört auch, dass sich die Zeitschrift [2][– wesentlich dank
Simone de Beauvoir –] seit 1948 kontinuierlich mit Fragen des Feminismus
und des Sexismus befasste.
Das weltweite Renommee der Zeitschrift stand in keinem Verhältnis zur Höhe
der Auflage. Diese lag nie über 10.000 Exemplaren. Den intellektuellen und
politischen Anspruch der Zeitschrift will die Redaktion auch in der
Buchreihe aufrechterhalten.
31 May 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Rudolf Walther
## TAGS
Simone de Beauvoir
Schwerpunkt Rassismus
Jean-Paul Sartre
Feminismus
Sexismus
Kolonialismus
Imperialismus
Jean-Paul Sartre
Margaret Thatcher
Sigmund Freud
Didier Eribon
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