# taz.de -- Regisseur Claude Lanzmann ist gestorben: Mittendrin und außerhalb | |
> Mit „Shoah“ ist Claude Lanzmann ein Einschnitt in die Filmgeschichte | |
> gelungen. Zum Tod des französischen Filmemachers. | |
Bild: Claude Lanzmann bei den Filmfestspielen in Berlin 2002 | |
Claude Lanzmann, am 27. November 1925 in der Nähe von Paris geboren, ist am | |
5. Juli in Paris gestorben. Er war ein äußerst streitbarer Intellektueller | |
und ein großartiger Filmemacher, der in seinen Schriften, Filmen und | |
politischen Aktionen einen Intellektuellentypus des 20. Jahrhunderts | |
verkörperte, den man bereits am Beginn des 21. Jahrhunderts schmerzlich | |
vermisste. | |
Als sehr junger Mann war er in der Résistance engagiert, kurz nach | |
Kriegsende unterrichtete er als Dozent an der neu gegründeten Freien | |
Universität Berlin. In Paris schloss er sich dem Kreis um Jean-Paul Sartre | |
an und zählte bald zur Redaktion der Zeitschrift Les Temps Modernes. | |
In einem Interview, das ich 1987 mit Lanzmann in Paris zu Sartres | |
„Überlegungen zur Judenfrage“ und deren Bedeutung für seine intellektuelle | |
Identität als Jude in Frankreich führte, sagt Lanzmann: „Ich hätte niemals | |
„Shoah“ drehen können, wenn ich ein ‚positiver‘ Jude gewesen wäre. In | |
gewisser Weise war es notwendig, ein Jude der Vernichtung zu sein, der zur | |
gleichen Zeit mittendrin und außerhalb steht.“ In dieser Position wird auch | |
noch einmal die Differenz deutlich zu den neueren, gegenüber Lanzmann | |
durchaus kritischen Gruppierungen jüngerer Juden, die jüdische Identität | |
und die Vielfalt jüdischer Stimmen ins Zentrum rücken und damit eine | |
„positive“ Bestimmung, aus der nicht zufällig eine diskursive Wende | |
entstanden ist, weg von der Shoah als dem Zentralereignis des 20. | |
Jahrhunderts, und nach vorne in eine lebbare Zukunft. Zwischen dem | |
Festhalten am historischen „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) der | |
Vernichtung, der Treue zu den Toten und dem Gedenken an sie und dem | |
Selbstbehauptungswunsch der späteren Generationen, die sich nicht über die | |
Geschichte bestimmen lassen wollen, sondern andere narrative | |
Selbstdeutungen aus einer erneuerten Tradition gewinnen wollen, besteht | |
eine Diskrepanz, die vor der Kulisse eines vom Zerfall bedrohten Europas im | |
Moment von Lanzmanns Tod übermächtig hervortritt. | |
Insofern ist Lanzmanns „Shoah“ (fertiggestellt 1985) zum reflexiven | |
Monument des 20. Jahrhunderts geworden, dieses selbst aber wird zunehmend | |
in die Historisierung gerückt, die an Stelle des Gedenkens getreten ist. Es | |
gehört zu den bitteren Ironien der Geschichte, dass Lanzmann zu einem | |
historischen Zeitpunkt stirbt, der deutliche Spuren trägt, die zurück in | |
die Geschichte führen und die gefühlte Positivität schal erscheinen lassen. | |
Vermutlich haben viele der Jüngeren „Shoah“ noch nie gesehen, aber erlebt, | |
wie am Berliner Holocaust-Mahnmal Touristen Picknick machen. Ein Happy End | |
der Geschichte, das Lanzmann nie akzeptiert hätte – auch da, wo ihm viele | |
Kritiker vorwerfen, selbst affirmativ zu werden, wie etwa in seinem Film | |
über die israelische Armee „Tsahal“, bleibt bei genauerem Hinsehen Lanzmann | |
selbst „mittendrin und außerhalb“, eine Positionsbestimmung, die letztlich | |
noch nicht einmal schlecht auf das Gemeinwesen Israel selbst zu passen | |
scheint: mittendrin im Nahen Osten und doch im Außerhalb auch Europas. | |
## Eine neue Form finden | |
„Mittendrin und außerhalb“ zu stehen ist nicht nur die Selbstdefinition | |
eines Juden, der sich nicht mehr in eine Tradition gestellt sieht, die für | |
ihn und in der er spricht, sondern sich eine eigene Stimme, einen eigenen | |
Text in der Auseinandersetzung mit der Faktizität der Geschichte machen | |
muss. Es ist auch die Position, die viele europäische Juden des 20. | |
Jahrhunderts eingenommen haben, wie etwa Siegfried Kracauer, der die eigene | |
Positionierung zur Geschichte durch die „Exterritorialität“ bestimmte, das | |
eigene Fremdsein. | |
Mit seinem vielstündigem Film „Shoah“ ist Lanzmann der entscheidende | |
Einschnitt in die Filmgeschichte der Shoah-Repräsentation gelungen. Er | |
lässt sich nicht mit den Gattungen des klassischen Dokumentarfilms fassen | |
wie Zeitzeugeninterviews, Topografien von Orten, historische | |
Dokumentationen, Archivmaterial et cetera. Stattdessen erweist sich „Shoah“ | |
als eine eigenwillige Aufkündigung der Gattungen und als ein Versuch, eine | |
neue Form zu finden, in der das Geschehene, der planmäßige, gewaltsame Tod | |
von Millionen europäischer Juden in den Vernichtungslagern der Nazis | |
aufscheint. | |
Der Film basiert auf sich verschränkenden Montagen von Interviews, die an | |
verschiedenen Orten, in Israel, Deutschland, den USA, Polen, der Schweiz, | |
Italien und anderen Ländern aufgenommen wurden, und Einstellungen, die | |
direkt an den Tatorten der Vernichtung entstanden. Bewusst wurde kein | |
Material aus Archiven eingeschnitten. Die Zeit der Einstellungen des Films | |
bleibt ganz in der Gegenwart – die Vergangenheit wird ausschließlich durch | |
die Erzählungen der Interviewten und die Einstellungen an den historischen | |
Orten vergegenwärtigt. | |
Der gesprochenen Sprache, den Stimmen kommt eine besondere Bedeutung zu. | |
Die Sprache der Sprecher bleibt immer im Originalton erhalten, ob nun | |
Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Polnisch oder Französisch gesprochen wird, | |
das Gesagte taucht dadurch oft sowohl als Gesprochenes wie auch als | |
schriftlicher Untertitel auf. Die Beziehung zwischen Bild und Ton ist nicht | |
abstrakt, sondern es geht um das Sprechen als eine körperliche | |
Ausdrucksbewegung, die etwas anderes evoziert, als es die gedruckte Sprache | |
könnte, es ist die körperliche Komponente von Stimme und Sprechen, die | |
„Shoah“ zu einem intensiven visuellen Film macht, der etwas zeigt und nicht | |
einfach etwas behauptet. | |
Der Bauplan des Films, der 9 ½ Stunden dauert, basiert auf der | |
konzentrischen Anordnung dieser Einstellungen, die von den Schauplätzen der | |
Geschichte zur globalen Ausstrahlung des Geschehens über die Kontinente | |
hinweg führen. „Shoah“ wird als Film zur Mise en abyme, zur narrativen | |
Sollbruchstelle, in der die Shoah und die Geschichte Europas und des 20. | |
Jahrhunderts sich ineinander spiegeln. | |
## Lanzmann schreibt sich in die Geschichte | |
Claude Lanzmann beginnt seine Erinnerungen „Der patagonische Hase“ mit den | |
Schreckensträumen des Kindes, das sich guillotiniert, gar der Länge nach | |
zersägt in seinen Träumen wiederfindet, nachdem er einmal während eines | |
heimlichen Kinobesuchs auf der Leinwand die Guillotine in Aktion gesehen | |
hatte. Diese Träume werden dann überblendet mit Bildern der | |
sprichwörtlichen Vernichtungszüge, die Teil und Vollstrecker der Shoah | |
waren. So schreibt sich Lanzmann selbst in die Geschichte, in ihre | |
Phantasmagorien und ihre gespenstische Blutspur ein: ein Kind, das das 20. | |
Jahrhundert träumt im Medium eines Films, der eine öffentliche | |
Guillotinierung zeigt. | |
In „Shoah“ erweist sich diese Urszene als gigantisches Spektakel der | |
Vernichtung, das nicht öffentlich vorgeführt wird; sie wird zum Gegenstand | |
eines Verfahrens, in dem die Opfer in den Stimmen der wenigen Überlebenden, | |
die von ihnen berichten, Platz nehmen und die Henker endgültig der | |
öffentlichen Legitimierung entkleidet werden. Die widerborstige Stimme, die | |
sich lieber des „Letzten der Ungerechten“, so der Titel eines seiner | |
letzten Filme, annahm, als Heilige und Helden einer historischen Geschichte | |
zu erfinden, die tröstlich auf das „Positive“ verweisen, das der Mensch zu | |
vollbringen vermag. Der einzige Trost bei diesem traurigen Todesfall ist | |
die Tatsache, dass die Filme und Bücher keines biologischen Todes sterben | |
können. Sie bleiben „mittendrin und außerhalb“ des Lebens des Autors. | |
5 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Gertrud Koch | |
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