# taz.de -- Dokumentation über Vernichtungslager: Empathie erzeugen | |
> Darf man Auschwitz als Virtual-Reality-Erlebnis inszenieren? Die | |
> WDR-Produktion „Inside Auschwitz – VR documentary“ macht es. | |
Bild: Mit 360-Grad-Kameras und Drohnen wurde die VR-Doku aufgezeichnet. | |
Der Betrachter schwebt praktisch in zwei Metern Höhe über der von | |
Stacheldrahtzäunen gesäumten Lagerstraße entlang, umgeben von einem stillen | |
riesigen Areal, menschenleer. Der Gleitflug stoppt, und auf einmal steht | |
Walentyna Nikodem auf dem Weg: Die über 90-jährige Tochter eines polnischen | |
Widerstandskämpfers berichtet vom Schrecklichen, das sie damals hier | |
erlebte. Dann geht die Reise weiter, und plötzlich ist man in einem fast | |
fensterlosem Raum, die Wände zerkratzt. Beim Blick nach oben wird eine | |
kleine quadratische Öffnung sichtbar: Das muss die Gaskammer sein. | |
So und ähnlich kann das Publikum ab dem 27. Januar, dem Tag des Gedenkens | |
an die Opfer des Nationalsozialismus, einen virtuellen Besuch in den | |
Überresten eines Vernichtungslagers erleben. Um diese Illusion perfekt zu | |
erfahren, wird ein Smartphone und eine Virtual-Reality-Brille benötigt, wie | |
sie schon einige hunderttausend Gamer in Deutschland nutzen. Abgerufen | |
werden kann die rund zehnminütige WDR-Produktion „Inside Auschwitz – VR | |
documentary“ dann über die „Tagesschau“-[1][Facebook-Seite] oder [2][auf | |
YouTube]. | |
„Es ist eine Erfahrung im Raum für die, die nicht nach Auschwitz fahren | |
können oder wollen“, erklärt der zuständige Redakteur Maik Bialk das | |
Projekt, „oder für Lehrer, die das Ausmaß des Lagers erfahrbar machen | |
möchten.“ Die Macher glauben an eine Chance, junge Menschen, die der | |
klassischen Vermittlung möglicherweise gelangweilt gegenüberstehen, für das | |
schwere Thema zu interessieren. Im zweiten Schritt wollen sie die Inhalte | |
als „Diskussionsangebot“ an die Schulen bringen. Der Vorteil der | |
Technologie sei, dass mit ihr Empathie noch stärker erzeugt wird. | |
Aber darf man das: die Inszenierung von Auschwitz als Virtual | |
Reality-Erlebnis? „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist | |
barbarisch“, befand Theodor W. Adorno schon kurz nach Ende des Krieges. Und | |
seitdem wird auch gestritten, wie und ob das kaum fassbar Grauenhafte | |
dargestellt werden soll. Die bahnbrechende US-TV-Serie „Holocaust“ etwa | |
Ende der 1970er Jahr löste heftige Diskussionen aus: Führt Fiktion nicht in | |
die Trivialität? In den 1980er Jahren produzierte Claude Lanzmann die | |
neuneinhalbstündige Dokumentation „Shoah“, die größtenteils aus Intervie… | |
besteht: Würden sich das heute Jugendliche noch anschauen? Aber selbst als | |
zehnminütiger virtueller Besuch kann Auschwitz extrem verstörend sein. Was | |
die tatsächliche Reise zur ehemaligen Hölle bei israelischen Jugendlichen | |
auslöst, zeigt die Dokumentation „#uploading_holocaust“ (heute auf ARD | |
alpha und am 7. Februar auf 3sat). | |
Und sie offenbart noch mehr: In Israel wird der Genozid zur | |
Identitätsbildung genutzt. Es ist zwar keine Pflichtveranstaltung für die | |
15- bis 16-jährigen Schüler, aber die fünftägige Reise nach Polen in | |
Begleitung von Lehrern wird vom zuständigen Ministerium gewünscht und | |
gefördert. Über 20.000 Filme der Teilnehmer im Selfie-Stil auf YouTube | |
berichten davon im Netz. | |
## „Ihr sollt fühlen“ | |
„Einen Großteil davon haben die Autoren des Films in den letzten zwei | |
Jahren gesichtet“, wie Georg Tschurtschenthaler von der zuständigen | |
Produktionsfirma Gebrueder Beetz berichtet, „ausschließlich daraus ist dann | |
der Dokumentarfilm entstanden.“ Und es ist eine kritische Darstellung, denn | |
die Vermittlung des Holocaust für die vierte Generation der Opfer wird auch | |
politisch instrumentalisiert. | |
„Ihr sollt fühlen“, befiehlt zum Beispiel ein Begleiter den jungen | |
KZ-Besuchern, die zugleich Hinweise darauf erhalten, dass sie bald den | |
Wehrdienst ableisten müssen und nun wüssten, warum: Denn auch heute seien | |
die Juden einer ähnlichen Gefahr wie damals ausgesetzt. Und immer wieder | |
kommt es vor, dass Jugendliche angesichts der Mordfabriken in Tränen | |
ausbrechen. | |
„Diese Dokumentation ist auch für deutsche Jugendliche gedacht“, sagt | |
Tschurtschenthaler, „sie bemerken, dass ihre Altersgenossen aus Israel so | |
sind wie sie selbst – die Youtube- Kultur und -Mentalität ist bekannt, und | |
darüber erhalten sie auch einen besseren Zugang zu diesem Thema.“ | |
Das gleichnamige Webprojekt zur Doku macht übrigens klar: Für junge | |
Deutsche spielt die Frage nach der Schuld keine große Rolle. Aber den | |
Holocaust sehen sie als wichtiges historisches Ereignis. Parallel dazu wird | |
auch das Interesse an der eigenen Familiengeschichte größer. | |
27 Jan 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/tagesschau/?fref=ts | |
[2] https://www.youtube.com/user/tagesschau | |
## AUTOREN | |
Wilfried Urbe | |
## TAGS | |
Holocaust-Gedenktag | |
Auschwitz | |
Virtual Reality | |
NS-Gedenken | |
WDR | |
Shoa | |
Filme | |
Streaming | |
Claude Lanzmann | |
Shoa | |
Frankfurt am Main | |
Vernichtungslager | |
Holocaust-Gedenktag | |
Holocaust-Gedenktag | |
Arte | |
Virtual Reality | |
Virtual Reality | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Dokumentarfilm „Displaced“: Privileg des Vergessens | |
Welchen Einfluss hat die Shoa auf die Enkel der Überlebenden? Regisseurin | |
Ryba-Kahn geht dieser Frage anhand ihrer Familiengeschichte nach. | |
Doku über Heimkino im NS: Einfach mal laufen lassen | |
In der ZDF-Doku „Privatfilme aus der NS-Zeit“ schimmert Stoff durch, der | |
enormes Potenzial hat. Doch die Präsentation fällt dürftig aus. Schade. | |
Unübersichtliche Mediatheken: Gute Inhalte, gut versteckt | |
Beim Streamen von „Holocaust“ zeigt sich ein Dilemma des | |
öffentlich-rechtlichen Online-Angebots: Es ignoriert moderne | |
Sehgewohnheiten. | |
Regisseur Claude Lanzmann ist gestorben: Mittendrin und außerhalb | |
Mit „Shoah“ ist Claude Lanzmann ein Einschnitt in die Filmgeschichte | |
gelungen. Zum Tod des französischen Filmemachers. | |
Buch zu Motiven der Shoah: Logiken des Massenmords | |
Ein neues Buch untersucht die Verfolgung und Ermordung der Juden während | |
des Zweiten Weltkriegs – von Norwegen bis nach Griechenland. | |
Gisela von Wysockis Frankfurt-Buch: Der erotische Adorno | |
Gisela von Wysocki studiert bei Adorno und lernt ihn als irgendwie | |
dämonisch kennen. „Wiesengrund“ ist fabelhaft erzählt – aber kein Roman. | |
Vernichtungslager Sobibór: Das gefundene Amulett | |
Wo das Vernichtungslager Sobibór stand, wurde ein Anhänger entdeckt. Unser | |
Autor hat dessen Geschichte recherchiert: Er gehörte Karolina Cohn. | |
Mahnmal für Opfer von Nazi-Schergen: Der Waldkircher Hitler | |
Nach 30 Jahren Diskussion wurde im südbadischen Waldkirch ein Mahnmal | |
gebaut. Die Initiative ging von den Bürgern aus. | |
Kommentar Holocaust-Gedenktag: Warum wir heute gedenken | |
Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten bleibt | |
notwendig. So versichert man sich, wo man selbst steht. | |
Zeitzeuge über Judenverfolgung: „Ein Gefühl der Mitverantwortlichkeit“ | |
Die Dokumentation „Stille Retter“ zeigt die Zivilcourage bei der | |
Judenverfolgung in Frankreich. Ein Gespräch mit dem Zeitzeugen Alfred | |
Grosser. | |
Virtual-Reality-TV: Komplett neue Art der Fiktion | |
Bisher bedient Virtual Reality vor allem die Bereiche Porno, Sport und | |
Naturdokus. Eine erzählerische Anwendung erfordert komplett neue Formate. | |
Virtual Reality: Der totale Film | |
Wie verhält sich die VR-Technik zum Realismusgebot des Kinos? Neue Filme | |
zeigen die Möglichkeiten des Kinos – und die Grenzen. |