# taz.de -- Dokumentarfilm „Displaced“: Privileg des Vergessens | |
> Welchen Einfluss hat die Shoa auf die Enkel der Überlebenden? Regisseurin | |
> Ryba-Kahn geht dieser Frage anhand ihrer Familiengeschichte nach. | |
Bild: Vereint am Grab des Großvaters in Jerusalem: Regisseurin Sharon Ryba-Kah… | |
Konnten oder wollten die Überlebenden der [1][Shoa] oft nicht selbst über | |
ihre Erlebnisse sprechen, verbargen sie ihre Traumata und Verletzungen vor | |
ihren Kindern, waren es genau diese, die zweite Generation nach der Shoa, | |
die im Genre des Dokumentarfilms ihre Eltern als Zeitzeugen zu Wort kommen | |
ließen. Nun, da die Überlebenden nach und nach sterben, stellt sich die | |
nachfolgende Enkelgeneration, also die dritte Generation, die Frage, welche | |
Form der Erinnerung sie im Doku-Film ohne die Zeitzeug:innen finden | |
können. Und wie die Erfahrung ihrer Großeltern sie prägte. [2][Der | |
Dokumentarfilm „Displaced – verschoben, verdrängt, vertrieben“] der | |
jüdischen Regisseurin Sharon Ryba-Kahn greift diese Fragen auf. Es ist | |
Ryba-Kahns Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg. Ihr zweiter | |
Dokumentarfilm, der derzeit im ZDF zu sehen ist. | |
Anhand ihrer komplizierten Beziehung zu ihrem Vater erzählt sie prozesshaft | |
welche Themen, Gefühle und Fragen sie als Enkelkind begleiten. Der Vater, | |
1947 in München geboren, wuchs als Sohn des Auschwitz-Überlebenden Chaim | |
Ryba auf. Die Vater-Sohn-Beziehung beschreibt er im Gespräch mit seiner | |
Tochter so: „Wie er war und wie er ist, das muss man akzeptieren. Man darf | |
einfach nicht zu viel erwarten. Ich darf ihm nichts vorwerfen. Wer die Shoa | |
erlebt hat, dem darf man nichts vorwerfen. Im Gegenteil.“ | |
Diese Erläuterung ist ein erster Anknüpfungspunkt, um zu verstehen, warum | |
es für den Vater schwierig zu sein scheint, Nähe zu seiner Tochter | |
herzustellen. Das eigene Erleben mit seinem Vater hat in Sharon Ryba-Kahns | |
Vater wiederum zu einer gewissen Unfähigkeit geführt, über die | |
Vergangenheit zu sprechen. Auch aus diesem Grund hatten Vater und Tochter | |
über Jahre keinen Kontakt. Erst durch die Realisation des Dokumentarfilms | |
baut sich dieser langsam wieder auf. | |
## Verbindungspunkt Deutschland | |
Sharon Ryba-Kahn konfrontiert ihren Vater mit Fragen. Diese Gespräche haben | |
eine befreiende Schwere. Die Regisseurin hält in ihren Aufnahmen, in denen | |
sie die Kamera direkt auf den Vater richtet, fest, wie dieser innerlich mit | |
sich kämpft, Dinge zum ersten Mal auszusprechen und mit seiner Tochter zu | |
teilen. Es gelingt ihr im Laufe des Films die Distanziertheit, die ihr | |
Vater ausstrahlt und die wie eine dicke, über Jahre aufgebaute Mauer wirkt, | |
langsam und mühsam, ein Stück weit abzubauen und sich so ihrem Vater | |
anzunähern. Es gehe ihr um das Verstehen, um das Warum, erklärt die | |
Regisseurin ihrem Vater im Film. Nach und nach lässt sich nachvollziehen, | |
wie die Shoa über Familiengenerationen nachwirkt. | |
Der Verbindungspunkt zwischen allem sei Deutschland, hört man Ryba-Kahn an | |
einer Stelle aus dem Off sagen. Deutschland ist das Land, das ihr Vater | |
verließ, um nach Israel zu gehen, weil er nicht mehr aushielt, in einem | |
Land zu leben, das seinem Vater Auschwitz angetan hat. Er gab auch aus | |
diesem Grund 2017 seinen deutschen Pass ab. Die Heimatlosigkeit, die der | |
Vater dadurch empfindet, hat er an seine Tochter weitergegeben. | |
Deutschland ist auch für die Regisseurin ein Land, mit dem sie hadert. Dass | |
sie allen Grund dafür hat, wird in weiteren Gesprächen deutlich, die sie | |
führt. Denn Ryba-Kahn befragt nicht nur den eigenen Vater, sondern auch die | |
Außenwelt, die anderen, also: die Nachfahren der Täter. | |
„Für mich hat die Tatsache, dass du Jüdin bist, nie eine Rolle gespielt“, | |
offenbart eine alte Schulfreundin der Regisseurin und verrät sich damit | |
selbst. Wenn es eine Rolle gespielt hätte, so hätte sie selbst sich mit | |
ihrer Familiengeschichte auseinander setzen müssen. Sie hätte sich damit | |
konfrontieren müssen, Nachfahrin von Tätern zu sein. | |
Es folgen weitere Gespräche mit noch anderen deutschen Freundinnen. All | |
diese Aufnahmen zeigen eindrücklich, wie stark die Verdrängung in der | |
dritten Generation der Täternachfahren vorherrscht. Das Privileg, die | |
Vergangenheit zu verdrängen, haben Jüdinnen und Juden nicht. | |
„Ich habe nie den Mut aufgebracht, deutschen Freunden zu sagen: ‚Es | |
schmerzt mich, dass du nicht wahrhaben willst, dass deine Familie meine | |
Familie umgebracht haben könnte‘“, hört man Sharon Ryba-Kahn am Ende ihres | |
Films erneut aus dem Off sagen. | |
Zuletzt richtet sie die Kamera auf den Rückspiegel ihres fahrenden Autos. | |
Sharon Ryba-Kahn schaut zurück und zwingt die Zuschauer:innen, ja, vor | |
allem die deutschen unter ihnen, sich selbst in den Fokus zu rücken. Nicht | |
mehr, wie so oft, auf die Jüdin zu blicken, sondern jetzt auf sich selbst. | |
17 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Shoa/!t5028483 | |
[2] https://www.zdf.de/filme/das-kleine-fernsehspiel/displaced---verschoben-ver… | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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