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# taz.de -- René Goldstein über seinen Vater: „Uns sieht keiner“
> René Goldsteins Vater hat den Holocaust überlebt, er selbst hat eine
> geistige Behinderung. Ein Gespräch über das Erinnern, Vergessen und
> Vergessen-Werden.
Bild: René Goldstein im Kurt-Julius-Goldstein-Park in Berlin
wochentaz: Herr Goldstein, wann hat ihr Vater gelacht?
René Goldstein: Vatter hat gerne gelacht. Oft beim Skat mit mir und meinen
Brüdern oder beim Rummy mit Mutter zusammen. Und er hatte ein riesiges
Reservoir an politischen Witzen drauf. (Seufzt) Ja, Vatter. Er hat gerne
und viel gelacht, egal was.
Ihr Vater wurde als Kommunist und Jude im Juli 1942 nach Auschwitz
deportiert. Im KZ-Außenlager Jawischowitz schuftete er über zwei Jahre als
Zwangsarbeiter in einer Kohlegrube. Er überlebte. Auf dem Todesmarsch von
Auschwitz nach Buchenwald starben Tausende seiner Mitgefangenen. Er
überlebte. Wie hat er sich seine Fröhlichkeit bewahrt?
Er hat darum gekämpft, er hat wirklich darum gekämpft. Vatter war ein
Stehaufmännchen. So richtig down habe ich ihn nie erlebt. Und er hat
versucht, mir und meinen Brüdern diesen Kampfeswillen beizubringen.
Wie viel wussten Sie als Kind von dem, was Ihrem Vater widerfahren war?
Mir war klar, was Vatter passiert ist. Wir haben oft und offen darüber
gesprochen. Da wurde nie ein Blatt vor den Mund genommen. Vatter hatte
Narben am Kopf, wenn die gejuckt haben, hab ich seinen Kopf gekrault. Ich
wusste, was damals war. Vatter ist auch in der Familie gegen das Vergessen
angegangen. Alle Goldstein-Jungs haben eine gute politische Bildung, vom
Jüngsten bis zum Ältesten.
Er hat also nach vorne geblickt?
Ja! Vatter war positiv. Immer, immer. Ein rückwärtiges Denken kam für ihn
nicht infrage. Für beide nicht, Mutter und Vatter.
Was war Ihre Mutter Margot für ein Mensch?
Ein lieber, geduldiger Mensch. Meine Mutter hat immer Hausaufgaben mit mir
gemacht, als ich aus der Schule kam. Oft bis abends. Das war Muttern:
eigentlich immer für mich und meine Brüder da.
Sie war die Tochter des Kommunisten Wilhelm Wloch und mit einem Kommunisten
verheiratet. War sie auch ein politischer Mensch?
Ja. Sie war sehr aktiv in der SED bei uns im Bezirk. Ich bin oft mit dem
Fahrrad unterwegs gewesen und habe Einladungen der Partei zu Sitzungen und
in den Kegelkeller ausgeteilt. Auch sie war links, beide Eltern waren
überzeugte Kommunisten.
Und die Religion?
Der jüdische Glaube wurde im Hause Goldstein nicht gelebt. Vatter aß
Thüringer Blutwurst. Für sein Leben gerne. Also nicht koscheres Fleisch.
Von der Abstammung her war Vatter jüdisch, ja. Vom Glauben her, nein. Und
Mutter war keine Jüdin, also wir auch nicht.
Ihr Vater setzte sich ein Leben lang gegen das Vergessen ein.
Meine Eltern waren im Sommer vor Vatters Tod noch im Urlaub. Und obwohl es
ihm gesundheitlich schlecht ging, ist er noch in eine Schulklasse da oben
gegangen und hat seine Geschichte erzählt. Gegen’s Vergessen! Um Gottes
willen. Nie wieder.
Er starb 2007. Wie können wir uns erinnern, wenn die Zeitzeug*innen
nicht mehr leben?
Mich fragen! (Klopft sich auf die Brust) Ich bin das Kind eines Zeitzeugen.
Und Bücher lesen, über Menschen wie meinen Vatter! Das sind auch wichtige
Zeitzeugen.
Vergessen wir?
Es wird versucht, viel gegen das Vergessen zu tun, ob das reicht, weiß ich
nicht.
Warum?
Vatter hat vorausgesagt, dass es nach der Wende einen mächtigen Rechtsruck
geben wird. Und wenn ich mir überlege, dass eine Partei wie die AfD, die
meiner Meinung nach verboten gehört, überall in den Parlamenten sitzt und
dass der Rechtspopulismus immer stärker wird, hat er wohl recht gehabt.
Macht Ihnen das Angst?
Nein.
Nein?
Es gibt zum Glück ein gutes politisches Gegengewicht. Sowenig ich die CDU
mag, aber auch die sind gegen die AfD. Diese Abgrenzung ist wichtig.
Ihr Vater war Träger des Bundesverdienstkreuzes, Ehrenvorsitzender des
Internationalen Auschwitz Komitees und der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes und hat sein Leben lang gegen den Faschismus gekämpft. Wie groß
sind die Fußstapfen, die Ihr Vater hinterlassen hat?
Von uns Söhnen kann die niemand ausfüllen. Auch wenn wir uns
zusammenstellen würden, könnten wir das nicht. Ich hab versucht, wenigstens
kleine Stapfen zu hinterlassen und die rote Fahne hochzuhalten. Ich bin oft
nach Heideruh (ein antifaschistischer Begegnungsort in Niedersachsen; d.
Red.) und hab da gearbeitet. Wenigstens das. Und wenn ich dort bin, sehe
ich immer noch die Eltern vom Bungalow hochkommen, in der Ecke sitzen und
mit mir zusammen Urlaub machen.
Wie halten Sie die Erinnerung hoch?
Hier (tippt aufs Herz). Auf den Friedhof gehe ich gar nicht, wenn, dann in
den Park. Ich bin oft mit Vattern und Muttern spazieren gegangen. Wir
hatten das Hundchen dabei. Mutter ist im Februar, zwei Tage vor ihrem
Geburtstag, gestorben. Wir wollten eigentlich feiern. Mein Bruder rief an:
„Die Mami ist tot.“ Das ist mit das schwerste Kapitel in meinem Leben.
Wie kann man mit Verlust umgehen?
Verlust ist Verlust. Und es tut immer weh. Und es wird nie aufhören
wehzutun. Aber man kämpft. Man kämpft und irgendwie muss das Leben
weitergehen. Aber wer sagt, es vergeht, der erzählt Schwachsinn.
In einem Interview mit der taz sagte Ihr Vater einmal, er hätte in
Auschwitz eine Art Morgen- und Abendgebet gehabt. Er sagte sich: „Mich
kriegen die verdammten Nazis nicht kaputt! Und wenn du das überlebst, dann
suchst du dir eine Frau, mit der du viele Kinder in die Welt setzt, für die
vielen, die hier umgebracht wurden.“
Hat er ja gemacht!
Ist das auch eine Bürde?
Nein. Ich hatte die besten Eltern der Welt und lasse auf sie nichts kommen.
Auch wenn nicht immer alles eitel Sonnenschein war und es auch Streitereien
gab. Ohne die Eltern wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin.
Was verdanken Sie Ihren Eltern?
Meine politischen Überzeugungen. Mein Leben. Die Möglichkeit, die Schule
vernünftig abzuschließen. Sie haben dafür gekämpft, dass ich auf der Schule
bleiben konnte. Meine erste Klassenlehrerin wollte mich auf eine
Sonderschule bringen, dagegen haben sich meine Eltern verwahrt. Ich habe
zehn Klassen, ich hab ’nen Facharbeiterbrief! Die Eltern haben immer beide
auf mich aufgepasst. Auch später, als ich nicht mehr zu Hause wohnte. Mit
23 kam ich in ein Wohnheim für Behinderte.
Was war das für ein Heim? Wie war das dort?
Erst mal gewöhnungsbedürftig. Es war ganz anders als zu Hause. Ich hatte
das Glück, in einem Haus mit Garten groß zu werden. Und in dem Wohnheim
wurden die Menschen, ich sag mal so, zusammengeschmissen. Ich lebte mit
leichtbehinderten und schwerbehinderten Menschen zusammen.
Wie lange blieben Sie dort?
Zehn Jahre. Bis zur Wende habe ich noch gearbeitet. Als Facharbeiter für
Anlagentechnik und als Gartenarbeiter. Hab dann noch ’nen Versuch in einer
Werkstatt für Menschen mit Behinderung hinter mir, der ist aus
gesundheitlichen Gründen gescheitert und dann wurde ich berentet.
Was hat das mit Ihnen gemacht? Sie waren damals erst knapp über 30 Jahre
alt.
Es hat mir schon ganz schön die Beine weggerissen. Aber so ging es vielen
mit der Wende. Viele wurden arbeitslos. Allein, was nach der Wende an
Betrieben kaputt gemacht wurde. Keiner wollte mehr DDR-Produkte haben. Auf
einmal war alles aus dem Westen besser.
Ihr Vater hat der DDR nachgetrauert. Sie auch?
Haben wir alle. Aber: So wie es war, was alles hinterher rauskam. So konnte
es nicht weitergehen. Es hat sich eine Oberschicht breit gemacht, und ein
Normalsterblicher musste sehen, wie er klarkam.
Ihr Vater arbeitete erst für die SED, war dann Chefredakteur und später
Rundfunkintendant beim DDR-Radio. Auch Sie haben sicherlich profitiert.
Ja, das stimmt natürlich. Das tue ich bis heute noch. In der ersten
Wohnungslosenunterkunft, in der ich gelebt habe, haben wir so gefroren. Wir
saßen in Jacken da. Ich habe dann eine Bundestagsabgeordnete angerufen. Was
glauben Sie, wie schnell die Heizung an war? Ich nutze die Beziehung aber
nur, wenn es nicht anders geht. Zu DDR-Zeiten hätte ich zu einer Kur nach
Israel fliegen können, nur weil mein Vatter die Beziehung hatte. Aber ich
habe gesagt: „Ich bin ein ganz normaler DDR-Bürger, nee ist nicht.“ So bin
ich nie gewesen, so werde ich nie sein.
Haben Sie das Gefühl, dass man Menschen mit Behinderung vergisst?
Ich lebe heute in einer Einrichtung für wohnungslose Menschen. Ich gehöre
eigentlich in eine Einrichtung für Behinderte! Fragen Sie mal die
Wohnungsloseneinrichtungen, wie viele Behinderte dort drinne’ sind, die da
nicht reingehören. Behindertengerechte Einrichtung gibt’s viel zu wenig.
Wir sind zu zweit in einem Zimmer, mein Kompagnon und ich. Auch er gehört
genauso wenig in eine Wohnungsloseneinrichtung. Das Zimmer ist zu einem
gewissen Grad behindertengerecht: breite Türen, Sitzdusche, erhöhte
Toiletten. Aber Privatsphäre …
… ist nicht?
Wie denn, wenn man den ganzen Tag aufeinanderhockt. Wie sagt man so schön,
die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist würdeloses Verhalten vom
Staat behinderten Menschen gegenüber. Für den ist es einfacher, uns in
Wohnungslosenunterkünfte zu stecken, als sich vernünftig darum zu kümmern,
dass Einrichtungen für Behinderte geschaffen werden. Oder betreutes Wohnen,
dass man seine eigene Hütte hat. Arbeitsplätze für Behinderte – das ist das
gleiche Problem. ’ne Firma, die dit nicht macht, zahlt ein paar Euro
Ausgleich. Werkstätten für Behinderte? Gibt es! Aber die Plätze sind
Raritätsartikel.
Und auch da gibt es ja Probleme.
Ja, das weiß ich auch aus eigener Erfahrung in einer Reha-Werkstatt. Das
Problem war damals: Man musste acht Stunden arbeiten am Tag, für null
Ouvert.
Für was?
Null Ouvert. Nie Skat gespielt? Kein Geld gekriegt. Ich hab Geld vom Amt
gekriegt, aber nicht von der Arbeit. Erst nach zwei Jahren wäre es so weit
gewesen. Aber das hat, wie gesagt, aus gesundheitlichen Gründen nicht
geklappt.
Fühlen Sie sich manchmal nicht gesehen?
Uns sieht keiner. Aber ein behinderter Mensch hat Bedürfnisse. Der möchte
arbeiten. Der möchte leben. Der möchte sein Leben so frei wie möglich
gestalten. Und überall stößt er auf Widerstände. Ich musste mein Hundchen
nach zehn Jahren abgeben, weil sie nicht mit ins Wohnungslosenheim durfte,
in dem ich einen Platz bekommen habe. Eine Riesensauerei! Aber was soll ich
machen? Ich kämpfe mich durchs Leben, so gut ich kann.
Ist das die Kämpfernatur Ihres Vaters?
Ja. Was soll ich machen? Ich muss mit meinen paar Euro, die ich habe,
hinkommen. Ich muss gucken, dass ich damit über den Monat komme. 502 Euro
sind zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Zum Glück wirtschafte ich
mit meinem Zimmernachbarn zusammen. Wir haben eine gemeinsame Kasse. Wenn
eingekauft wird, wird für beide eingekauft. Ich sag immer: Zwei Arme
ergeben einen Reichen. So kann man vernünftig einkaufen. Und ich habe das
Rauchen aufgegeben.
Ja?
Seit siebeneinhalb Jahren. Meine Eltern haben zu ihren Lebzeiten immer
gepredigt: Hör auf zu rauchen! Darauf bin ich stolz. Leider, leider haben
sie es nicht mehr erlebt. Sie hätten sich riesig gefreut.
25 Jun 2023
## AUTOREN
Oskar Paul
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