| # taz.de -- Ausstellung im Jüdischen Museum: Der Zukunft zugewandt | |
| > Auch Jüdinnen und Juden wollten einst den Sozialismus aufbauen. In Berlin | |
| > blickt eine Sonderausstellung auf ein selten betrachtetes Thema. | |
| Bild: Alice Zadek mit Tochter Ruth und Neffe David Hopp auf der Stalinallee (Ka… | |
| Da steht dieser braune Koffer mitten im Raum. Was für ein Trumm! Oben drauf | |
| sind drei Städtenamen in heller Farbe geschrieben: London, Brüssel, Berlin. | |
| Es ist dies der Rückreisekoffer, mit dem Josef und Lizzi Zimmering aus dem | |
| britischen Exil heimkehrten. Die Enkelin Esther Zimmering berichtet: „Meine | |
| Großeltern waren als kommunistische Remigranten überzeugt, dass die DDR | |
| jener deutsche Staat sei, in dem Antisemitismus keinen Platz hat.“ | |
| Es war keine Massenbewegung, die sich da aufmachte. Die allermeisten | |
| überlebenden deutschen Jüdinnen und Juden zogen nach der Schoah ein Leben | |
| außerhalb Deutschlands vor. Ein kleiner Teil blieb in der Bundesrepublik, | |
| später verstärkt durch Osteuropäer und Remigranten aus Israel. Ein noch | |
| kleinerer, ja winziger Teil entschied sich für die DDR. Sie – meist | |
| Kommunisten – wollten dort ein besseres Deutschland aufbauen. Mit der | |
| jüdischen Religion hatten viele von ihnen nicht sehr viel zu tun. | |
| „Jüdisch in der DDR“ heißt die Sonderausstellung im [1][Jüdischen Museum… | |
| Berlin]. Dieses behandelt damit ein eher selten dargestelltes Kapitel | |
| jüdischer und deutscher Geschichte. Beim Rundgang durch die 800 | |
| Quadratmeter messende Schau wird schnell deutlich, dass es die eine | |
| jüdische Sicht im anderen deutschen Staat nicht gab. | |
| Die Blicke unterschieden sich aufgrund der Herkunft der Menschen. Wer einem | |
| Vernichtungslager entronnen war, hatte möglicherweise einen anderen Blick | |
| als jemand, der im Moskauer Exil überlebt hatte. Wer den Sozialismus | |
| aufzubauen gedachte, sah das Land mit anderen Augen als ein religiös | |
| geprägter Mensch. Und wer etwa 1948 aus dem Exil gekommen war, dachte | |
| anders als der, der 1976 als junger Mensch die [2][Ausbürgerung Wolf | |
| Biermanns] miterlebte. | |
| ## Ami-Spion, West-Agent, vielleicht gar Zionist | |
| Josef Zimmering wurde also Diplomat der DDR, seine Frau war ebenso vom | |
| neuen Staat überzeugt. Doch die Jahre nach 1949 waren nicht nur die des | |
| Aufbaus, sondern auch des Hasses. Der Stalinismus triumphierte, und mit ihm | |
| ein staatlicher Antisemitismus, der jeden und alles verdächtig machte. | |
| Kontakte nach Israel? Ein West-Agent, vielleicht gar Zionist! Hilfspakete | |
| aus den USA empfangen? Gewiss ein Ami-Spion. | |
| In der Ausstellung hängen ein paar Skier an der Wand. Sie gehörten einmal | |
| Werner Kussy, der mehrere Konzentrationslager überlebt hatte und sich nun | |
| bei der jüdischen Gemeinde in Dresden engagierte. Die Sportgeräte waren | |
| 1953 seine Tarnung. Angeblich befand er sich in den Winterferien in | |
| Thüringen, tatsächlich flüchtete er nach West-Berlin. Er hatte Angst vor | |
| der zweiten Verfolgung. | |
| Hunderte Jüdinnen und Juden flohen damals zur Zeit der Slansky-Prozesse aus | |
| der DDR in den Westen. Jüdische SED-Mitglieder beschuldigten andere Juden | |
| bei der Stasi aufgrund von Nichtigkeiten „verbrecherischer Verbindungen“ zu | |
| Imperialisten, wohl wissend, welche furchtbaren Folgen dies haben konnte. | |
| Man kann das heute alles in Stasi-Akten nachlesen. | |
| ## Jüdisches Leben als permanenter Verdachtsfall für die Stasi | |
| An diesem Punkt wirkt die Berliner Ausstellung ein wenig weichgespült. | |
| Tatsächlich galt jüdisches Leben in der DDR auch als ein permanenter | |
| Verdachtsfall für die Staatssicherheit, die die wenigen Gemeinden und ihre | |
| Mitglieder durchleuchtete. Selbstverständlich konnte von einer freien | |
| Meinungsäußerung in diesem Land keine Rede sein. Entschädigungen für | |
| erlittenes NS-Unrecht wurde nicht gezahlt. Und auch die Freiheit des | |
| religiösen Bekenntnisses unterlag gewissen Einschränkungen. | |
| In einer der Vitrinen liegt ein eigentlich unspektakuläres Stück, eine | |
| Halskette mit Davidstern. Sie gehört Cathy Gelbin, die sie in den 1970ern | |
| erhielt. Sie erzählt: „Als ich mit 14 Jahren Jugendweihe hatte, habe ich | |
| mir einen Davidstern gewünscht, der in der DDR nicht zu kaufen war. Meine | |
| Mutter ist zu einem Juwelier gegangen. Der Juwelier hat Angst bekommen und | |
| abgelehnt. Freunde aus Westberlin haben dann eine Kette mit Davidstern | |
| mitgebracht. An meiner neuen Schule trug ich die Kette immer. Ich wurde | |
| angehalten und gefragt, was sie bedeutet und warum ich sie trage.“ | |
| Die Ausstellung nähert sich ihrem Thema biografisch an. Nicht nur Cathy | |
| Gelbin spricht dort oder das anfangs erwähnte Ehepaar Zimmering. Da werden | |
| Dutzende kleine und große Geschichten erzählt. Sie zeugen von der Enge | |
| (nicht nur) für Juden in diesem Land, aber auch von den Versuchen eines | |
| Ausbruchs, womit in diesem Fall nicht unbedingt die Ausreise in den Westen | |
| gemeint ist. Und von der Vielfalt der jüdischen Stimmen. | |
| ## Überalterung und Ausreise | |
| In den 1950er und 1960er Jahren wuchs eine neue Generation heran. Sie | |
| teilte nicht unbedingt die hochfliegenden Pläne der Exilanten aus den | |
| 1940ern. Aber es waren auch keine geborenen Staatsfeinde. Viele Menschen, | |
| die zu Beginn der DDR als Kommunisten in das Land gekommen waren, hatten | |
| ihre Mitgliedschaft in den Gemeinden gekündigt, nichts unterschied sie im | |
| Alltag von nichtjüdischen Genossen. Die Kinder stellten Fragen: Sind wir | |
| Juden? Und was bedeutet das? | |
| Aus der Familie von [3][André Herzberg], Jahrgang 1955, stammt ein | |
| Sederteller. Herzberg berichtet, die Mutter sei zu einem „geheimnisvollen | |
| Laden“ gefahren und habe dort ein bräunliches Paket in Empfang genommen, | |
| darin – Matze, also ungesäuertes Brot. Es war zu groß für den Sederteller. | |
| Also kam die Matze auf ein Holzbrett, dazu gab es Butter, aber keine | |
| Auszugsgeschichte und keine Pessachfeier. | |
| Wie die Jüdischen Gemeinden im Westen Deutschlands, so litten auch die nur | |
| acht Gemeinden in der DDR an einer wachsenden Überalterung. Hinzu kam bei | |
| ihnen der dauernde Schwund durch diejenigen, die sich für den Westen | |
| entschieden und ausreisten. Der 1945 noch im Exil geborene | |
| [4][Schriftsteller Thomas Brasch] gehörte zu ihnen. Er verließ das Land | |
| 1976 kurz nach der Biermann-Ausbürgerung. Sein Gedicht „Was ich habe, will | |
| ich nicht verlieren“ steht ganz am Anfang der Ausstellung: | |
| „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin, will ich nicht | |
| bleiben / aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber / die ich | |
| kenne, will ich nicht mehr sehen aber / wo ich lebe, da will ich nicht | |
| sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, | |
| wo ich nie gewesen bin“ | |
| ## Kämpfer und Opfer des Faschismus | |
| Und doch entwickelte sich jüdisches Leben in der DDR, vielfach in eine | |
| Nische gedrängt. Renate Kirchner baute in der Berliner Gemeinde eine für | |
| das Land einzigartige Bibliothek auf, die gar von [5][Gershom Scholem] | |
| gewürdigt wurde. Fotos und eine Postkarte erinnern an das jüdische | |
| Kinderferienlager an der Ostsee. Fehlende Ritualgegenstände für den | |
| Gottesdienst wurden aus dem Westen importiert. Die Berliner Synagoge in der | |
| Rykestraße konnte renoviert werden. Auch davon zeugt diese feine | |
| Ausstellung. | |
| Jüdische Erinnerung und jüdischer Widerstand im Nationalsozialismus waren | |
| in der DDR bestenfalls als zweitklassig zugelassen, hoch oben stand der | |
| heroische Kampf der Kommunisten. Es gab „Kämpfer gegen den Faschismus“ | |
| (erstklassig) und „Opfer des Faschismus“ (zweitklassig). | |
| Israel war imperialistisch, mit dem anständige Juden nichts gemein haben | |
| sollten, Arafat dagegen ein Friedensfreund, so die Staatsdoktrin. Beim | |
| Sechstagekrieg 1967 nötigte man den Juden eine Art Bekenntnis im Neuen | |
| Deutschland ab, in der diese behaupten sollten, in der DDR sei der | |
| Antisemitismus „ausgerottet“. Israel hingegen wäre ein Bündnis mit dem | |
| Imperialismus eingegangen. Da verweigerte so mancher seine Unterschrift. | |
| Der Text im SED-Blatt aber hängt als Dokument der Propaganda nun im | |
| Jüdischen Museum. | |
| 12 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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