# taz.de -- Buch über Antisemitismus vor 1933: Jüdische Badegäste unerwünsc… | |
> „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“ erzählt von der Vertreibung | |
> jüdischer Gäste an der Ostsee. Geliebte Urlaubsziele rücken in ein | |
> anderes Licht. | |
Bild: Badeanordnung an einem Strand an der Ostsee 1937 | |
Ein gigantisches Relikt nationalsozialistischer Massenintegration befindet | |
sich auf Rügen. [1][Ab 1936 wurde in Prora ein monströses Feriendomizil für | |
bis zu 20.000 UrlauberInnen gebaut]. In der DDR und kurz auch in der BRD | |
als Kaserne genutzt, war das Seebad lange dem Verfall ausgesetzt. | |
Inzwischen sind weite Teile wieder für Urlaubsgäste geöffnet – „Traumstr… | |
trifft Geschichte“, fasst der Tourismusverband Rügen kurz und knapp | |
zusammen. | |
Das Verschwinden und Überformen von Spuren ist ein zentrales Thema des neu | |
erschienenen Buches zur Vertreibung der jüdischen Badegäste an der Ostsee. | |
Die Journalistin Kristine von Soden stützt sich auf historische Quellen, | |
Tagebuchnotizen, Reiseberichte und Briefe, auch von prominenten Reisenden | |
wie Victor Klemperer und Else Lasker-Schüler. | |
„Ob die Möwen manchmal an mich denken?“ ist aber keine klassische | |
wissenschaftliche Arbeit. Das Buch zeichnet sich aus durch assoziative | |
Sprünge, biographische Vignetten und einen über weite Strecken | |
literarischen Stil. Dazu kommt ein Fotoessay, der von der schleichenden | |
Zerstörung der vielen Heimatidyllen und Ruhepole an der Ostsee erzählt. | |
Die meisten Destinationen waren erst im Wilhelminischen Kaiserreich zu | |
Touristenmagneten geworden. Zeitgleich mit dem Aufstieg der Seebäder | |
etablierte sich vor Ort auch eine massive Judenfeindschaft. | |
## Bäderantisemitismus | |
Der sogenannte Bäderantisemitismus umfasste Schmierereien in | |
Umkleidekabinen, abschätzige Bildpostkarten, diskriminierende | |
Werbeanzeigen, verbale Beleidigungen oder physische Übergriffe. Bereits vor | |
1933 war die Parole „Judenrein!“ vielerorts Wirklichkeit geworden. Dagegen | |
wehrte sich besonders lautstark der Centralverein deutscher Bürger | |
jüdischen Glaubens. | |
1893 als Abwehrverein gegen Antisemitismus gegründet, trat der CV für | |
gesellschaftliche Gleichstellung als deutsche Bürger ein. Neben einer | |
Rechtsberatungstelle in Berlin betrieb der CV vor allem eine umfängliche | |
Öffentlichkeitsarbeit, die sich nicht nur an Jüdinnen und Juden richtete, | |
sondern auch stark auf die Sensibilisierung und Aufklärung der | |
Gesamtgesellschaft zielte. | |
Der jüdische Umgang mit dem Bäderantisemitismus ist ebenfalls ein zentrales | |
Thema von „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“. Von Soden zeigt, wie | |
viel Platz die CV-Monatszeitung, das Israelitische Familienblatt oder auch | |
die zionistische Jüdische Rundschau persönlichen Erfahrungsberichten, | |
Annoncen für jüdische Hotels und Pensionen sowie Verzeichnissen mit | |
No-go-Areas einräumten. | |
## „Nur für deutsche Volksgenossen“ | |
Den Bruch mit den geliebten Urlaubszielen verdeutlicht eine berührende | |
Vignette aus dem Sommer 1938. Nach einer antisemitischen Denunziation | |
wurden drei junge Mädchen zusammen mit ihrer Erzieherin aus Prerow | |
verwiesen. Der Strand sei „nur für deutsche Volksgenossen“ zugänglich, hi… | |
es im amtlichen Schreiben des Bürgermeisters. | |
In der Mitte des Buches bewahrt eine verschwommene Fotografie die | |
Erinnerung an die drei ausgelassen tanzenden Mädchen. 1943 wurden Irma, | |
Mirjam und Sonja Sonnenschein in Auschwitz ermordet. | |
17 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Till Schmidt | |
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