# taz.de -- Anschlag auf deutsche Friedensdienstler: Das Leben nach der Bombe | |
> Vor 45 Jahren überlebte Daniel Gaede, ein Deutscher auf Friedensmission, | |
> in Israel einen Bombenanschlag. Was braucht es, um ein Trauma zu | |
> verarbeiten? | |
Bild: Daniel Gaede in seiner Wohnung in Weimar | |
Daniel Gaede führt ein Leben mit Sinn. Er hat Frau, drei Kinder, ein Haus | |
mit Garten, Hobbys. Er spielt die Querflöte im Klezmer-Orchester | |
[1][Erfurt], ist engagiert, ein Friedensaktivist seit Jahrzehnten. Manchmal | |
schaut er bei Treffen der [2][Letzten Generation] vorbei. Wenn Musikfest in | |
Weimar ist, dort lebt Gaede, und er mit seiner Frau durch die Altstadt | |
läuft, mal hier stehen bleibt für ein Gespräch, mal dort für [3][ein | |
Gläschen Wein] beim Weltladen, wirkt er wie einer, der einen festen Platz | |
in dieser Stadtgemeinschaft hat. | |
Von außen betrachtet lebt Gaede das selbstverständliche Leben eines | |
links-grünen Bildungsbürgers. Nur ist Gaedes Leben keine | |
Selbstverständlichkeit. Es ist die Entscheidung für „den Blick nach vorn“, | |
wie er selbst sagt, das Ergebnis eines erzwungenen Neuanfangs, ausgelöst | |
vor 45 Jahren, durch eine Bombe. | |
Die Bombe, die Gaedes Leben einst veränderte, wirft ein palästinensischer | |
Terrorist am 26. April 1978. Gaede, damals 22, ist Freiwilliger der Aktion | |
Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Israel, einer evangelischen | |
Organisation, die sich 1958 die Aufgabe gibt, die Schuld der | |
nationalsozialistischen Verbrechen anzuerkennen und im Dienste des Friedens | |
diese Schuld zu sühnen. 34 ASF-Freiwillige, darunter Gaede und sein Bruder | |
Christoph, sitzen an diesem Apriltag 1978 in einem Reisebus. Nach vier | |
Tagen Exkursion durch Israel wartet die Gruppe bei einem Zwischenstopp in | |
der Stadt Nablus im Westjordanland auf ihre Rückfahrt nach Jerusalem. | |
Gaede sieht sie noch, die selbst gebaute Bombe. Sie fliegt durch ein | |
geöffnetes Fenster auf den Platz hinter ihm, gefüllt mit abgesägten Nägeln. | |
Dann verschlingt ihn Dunkelheit. Wahrscheinlich, weil sich die Splitter in | |
eines seiner Augen bohren. Tagelang werden Ärzte sich darum bemühen, dass | |
der junge Mann sein Augenlicht nicht verliert. | |
Christoph Gaede, seinen Bruder, wird er nie wieder sehen. Er stirbt bei dem | |
Anschlag, mit ihm eine weitere Freiwillige, Susanne Zahn. Fünf weitere | |
Menschen aus dem Bus werden schwer verletzt. | |
Der Verlust des eigenen Bruders, die eigene körperliche, nicht ungeschehen | |
zu machende Verletzung, man könnte annehmen, dass all das Hass schürt, hart | |
macht. Aber Daniel Gaede hat es weich gemacht, zugewandt, manchmal | |
vielleicht auch etwas zurückgezogener als andere Menschen. | |
## Der Pazifist | |
Wie schafft es einer, der ein solches Trauma erlitten hat, wieder Sinn im | |
Leben zu finden? Was braucht es, um ein Trauma zu überwinden? | |
Zu einer Zeit, in der viele Deutsche von der eigenen Verstrickung in den | |
Nationalsozialismus nichts wissen wollen, bricht Gaede 1977 nach Israel | |
auf, in eine noch junge Nation, die damals erst seit 12 Jahren | |
diplomatische Beziehungen zu Deutschland unterhält. Gaede, ein junger Mann | |
aus Wetzlar in Hessen, wächst in einer christlichen Familie auf, unweit | |
einer Bundeswehrkaserne. | |
Dass Gaede den Wehrdienst verweigert, stört in seiner Familie niemanden. | |
Er, der Pazifist, will verstehen, ob nach der deutschen Judenvernichtung | |
wieder ein versöhnliches Verhältnis zwischen Juden und Christen entstehen | |
kann. | |
Vier Monate wird Gaede zunächst in einem Kibbuz in Beror Hayil im Süden des | |
Landes arbeiten. Später wechselt er nach Jerusalem, kümmert sich um | |
mehrfachbehinderte Kinder und sortiert parallel im Keller von Yad Vashem, | |
dem Archiv der israelischen Holocaust-Gedenkstätte, Nachlässe, bis er | |
letztlich in einem französischen Krankenhaus in Nazareth landet. | |
In Deutschland ist Gaede heute ein vergessener Überlebender. Dabei | |
erschütterte der Anschlag die westdeutsche Gesellschaft 1978 enorm. Die | |
Zeitungen von damals schrieben vom Terror, der ausgerechnet „Boten der | |
Versöhnung“ traf. Die Bild-Zeitung druckte das durch die Bombe zerfetzte | |
Gesicht eines Überlebenden ab, schrieb darüber: „Das Gesicht eines jungen | |
Deutschen, der anderen Menschen helfen wollte.“ Über die deutschen | |
Friedensdienstler berichtete sogar die New York Times. | |
Der Schock wirkte bis nach Berlin. Noch am Abend des Anschlags versammelten | |
sich dort Mitglieder des ASF-Vorstands und Mitarbeiter. Sie beteten | |
gemeinsam, versuchten den Schrecken einzufangen. Groß blieb nicht nur der, | |
sondern auch das Verständnis für den Täter. An dieser Stelle trennen sich | |
nämlich die Wege, die die deutsche und jüdische Seite für sich wählten, in | |
der Frage: Wie umgehen mit diesem Anschlag? Eine Frage, die auch Gaede sich | |
als Überlebender später stellen wird. | |
## Gebet für Terroristen | |
Die deutschen Christen: Sie versuchen in dem Tod einen Sinn zu finden. | |
Bringen Verständnis für den Terroristen, den Mörder auf. Fragen nach den | |
Ursachen für solche Gewalt. Wenige Tage nach dem Anschlag, in einem | |
Trauergottesdienst in Jerusalem, gibt es auch eine Fürbitte für ihn, der | |
jetzt verzweifelt sei und auch Angst habe, und für seine Familie. | |
Die jüdischen Israelis: verstehen die Deutschen nicht. Für diese Verbrecher | |
Verständnis zeigen, wie es der Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek | |
damals formuliert – löst bei den Israelis Unbehagen aus. Mitgefühl haben | |
sie nur für die Ermordeten. | |
Deutsche und Israelis ringen um die Deutungshoheit dieses Anschlags. | |
Zwischen diesen beiden Seiten entsteht eine schier unüberwindbare Kluft, in | |
diese fallen Opfer wie Daniel Gaede. Wobei das Wort Opfer an dieser Stelle | |
eine Zuschreibung der Journalistin ist, Gaede selbst nutzt es gar nicht für | |
sich, denn Opfer zu sein, kann dazu führen, Verantwortung für sich selbst | |
abzulegen, sagt er. Von Opfern wird erwartet, sie sollen zerbrechlich sein, | |
bedürftig. Aber Gaede denkt damals nach dem Anschlag: „Soll ich jetzt | |
darüber traurig sein, dass ich überlebt habe?“ | |
Gaede erinnert sich an diese eine Krankenschwester, die ihn pflegte, als er | |
verwundet im Krankenhaus lag. Statt zu sagen: Du armer Kerl, was hast du | |
jetzt Schlimmes erlitten!, fragte sie: Hast du gelernt, wie du alleine ins | |
Arztzimmer kommst? Und ist es nötig, dass immer jemand nach dir schaut? | |
Diese Frau ist die erste, die ihm den Weg hinaus aus dem Opferdasein | |
aufzeigt. Erst viel später wird er erfahren, dass sie eine | |
Auschwitz-Überlebende war. | |
2. Juli 1978, Wochen nach dem Anschlag. Gaede lässt sein verwundetes Auge | |
wieder und wieder operieren. Er kann mit ihm bald wieder Schemen erkennen. | |
Das andere Auge bleibt unversehrt. Doch wenn er jetzt Brottüten knallen | |
hört, zuckt er zusammen. Er entscheidet trotzdem, in Israel zu bleiben. | |
Seiner damaligen Freundin sagt er am Telefon, sie müsse kommen, nach | |
Israel, sonst werde sie nie verstehen, was ihn bewege und verunsichere. | |
„Sonst können wir nicht zusammenbleiben.“ Sie kommt nie, die Beziehung | |
scheitert. Bald wird Gaede einen weiteren Überlebenden kennenlernen, aus | |
Buchenwald. Er wird ihm von seinen Erlebnissen im Lager erzählen, noch | |
bevor er jemals mit seiner eigenen Familie darüber gesprochen hat. | |
War die israelische Gesellschaft die richtige, um Gaede aufzufangen? Er | |
sagt: Es waren die Menschen in Israel, die Überlebenden, die ihre eigene | |
Biografie, ihr Schicksal reflektierten und mit ihm umgehen konnten. | |
## Lebenslang im Gespräch bleiben | |
Es klingt wie ein schlechter Filmplot: Da überlebt ein deutscher Christ 33 | |
Jahre nach der Shoah einen palästinensischen Terroranschlag, und findet in | |
Israel mit Hilfe von Shoah-Überlebenden zurück ins Leben. | |
Anders als die ASF-Organisation stellte sich Gaede nie die Frage nach dem | |
Warum. Auf diese bekomme man schließlich keine Antwort, sagt er. Er pochte | |
nicht auf Versöhnung und sucht trotzdem den Dialog. Er wollte verstehen, | |
welche Umstände einen Menschen dazu bringen, eine Bombe zu werfen. | |
Dieser Wunsch, zu verstehen, im Gespräch zu bleiben, zieht sich durch | |
Gaedes Leben, es zeigt sich in seinem Engagement als Friedensaktivist: Wenn | |
er bei Ostermärschen von einer Welt ohne Waffen spricht, wenn er Texte über | |
Dialog schreibt. Es sind Appelle, die angesichts des Krieges, den Russland | |
gegen die Menschen in der Ukraine führt, nicht nachvollziehbar sind, nicht | |
für die Autorin dieses Textes. Aber blickt man auf Gaedes Leben, auf seine | |
Erfahrung als Überlebender eines Terroranschlags, folgt seine Entwicklung | |
einer gewissen Logik. | |
Auf jede Konfrontation, auf jede Nachfrage, hat Gaede eine Antwort, die | |
klingt wie der Teil einer christlichen Predigt. Er sagt Sätze wie: „Ich | |
kann die Welt nicht retten. Aber es wäre fatal, wenn es keine | |
pazifistischen Vertreter gibt.“ Oder: „Ich habe auch keine Antwort. Keine, | |
die alle zufrieden stellt.“ Er meine das wörtlich: zu Frieden. | |
Ob er nicht verstehen kann, dass sich die Ukrainer mit Waffen verteidigen | |
müssen? Nein, sagt Gaede. „Am Ende werden Waffen dazu führen, dass vieles | |
von dem, wofür man kämpft, verloren geht.“ Und dann sagt er etwas, das | |
ungewöhnlich ist für einen Friedensaktivisten. „Wenn es aber ums Überleben | |
geht, muss man das Leben schützen. Es ist nicht richtig, jemanden sterben | |
zu lassen.“ Er wisse nur, er könnte das nicht, eine Waffe in die Hand | |
nehmen. | |
1995 wird Gaede, er lebt längst wieder in Deutschland, pädagogischer Leiter | |
der Gedenkstätte Buchenwald. Er glaube zwar nicht, dass es für die Arbeit | |
in einer Gedenkstätte notwendig sei, eine solche Erfahrung gemacht zu haben | |
wie er. Aber: Für ihn war es nützlich, sagte er. | |
Natürlich gab es auch in Israel Überlebende, die mit dem unbeschreiblichen | |
Leid, das ihnen die Deutschen angetan haben, nie fertig wurden. Es gab | |
wütende Juden, welche, die nie wieder deutschen Boden betraten oder Deutsch | |
sprechen wollten, die die Versöhnungswünsche der Deutschen nicht | |
interessierten, die sich vielleicht gar Rache wünschten. | |
Es gibt nicht den einen richtigen Weg, ein Trauma zu bewältigen. Aber all | |
diese verschiedenen Reaktionsweisen, die müssten respektiert werden. Das | |
ist es, was Gaede sich wünscht. | |
20 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Rechtsextreme-Drogenhaendler-in-Thueringen/!5958844 | |
[2] /Fuenf-Jahre-globaler-Klimastreik/!5956857 | |
[3] /Alkoholfreier-Januar/!5906658 | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Israel | |
Palästina | |
Friedensmission | |
Terroranschlag | |
IG | |
Kirche | |
Gaza | |
Israel | |
Judentum | |
Jüdisches Leben | |
Antisemitismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wieder Messer-Angriff in Australien: Verletzte in Kirche bei Sydney | |
In einer assyrisch-orthodoxen Kirche nahe Sydney wurde der Bischof | |
niedergestochen. Es ist der zweite Messerangriff in Australien innerhalb | |
von Tagen. | |
Nahost-Konflikt: Razzien, Proteste, Tote, Tränengas | |
Am Wochenende knirscht es in Nahost an verschiedenen Orten: zwischen Israel | |
und Palästinensern, aber auch mit dem nördlichen Nachbarn Libanon. | |
Israelische Militäreinsätze: Sechs Palästinenser getötet | |
In den palästinensischen Gebieten hat Israels Armee mehrere Menschen | |
getötet. In Jericho hätten Palästinenser Soldaten mit Sprengsätzen | |
beworfen. | |
Daniel Rapoport über das Jüdischsein: „Jude sein ist kein Beruf“ | |
Der Naturwissenschaftler Daniel Rapoport entstammt einer bekannten | |
jüdischen Familie aus der DDR. Ein Gespräch über Herkünfte und Schubladen. | |
Ausstellung im Jüdischen Museum: Der Zukunft zugewandt | |
Auch Jüdinnen und Juden wollten einst den Sozialismus aufbauen. In Berlin | |
blickt eine Sonderausstellung auf ein selten betrachtetes Thema. | |
Bestseller-Autorin über Antisemitismus: „Das Leid der Anderen verstehen“ | |
Zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Erfahrungen sind besonders | |
wichtig im Kampf gegen Antisemitismus, findet Deborah Feldman. |