# taz.de -- Bestseller-Autorin über Antisemitismus: „Das Leid der Anderen ve… | |
> Zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Erfahrungen sind | |
> besonders wichtig im Kampf gegen Antisemitismus, findet Deborah Feldman. | |
Bild: Die Autorin Deborah Feldman lebt seit einigen Jahren in Berlin | |
taz: Frau Feldman, bevor Sie Ihre chassidische Gemeinde in New York | |
verlassen haben, sind Sie in dem Glauben aufgewachsen, Hitler sei die | |
Strafe von Gott an den Juden gewesen. Ihre Großmutter hat den Holocaust | |
überlebt, Sie hat er durch all das sehr geprägt. Dennoch haben Sie sich | |
entschieden, in Berlin zu leben. Schmerzt Sie Antisemitismus in Deutschland | |
besonders? | |
Deborah Feldman: Ich denke, dass Antisemitismus einen Juden immer schmerzt. | |
Mich hat lange Deutschland als Konzept geschmerzt, aber ich habe 700 Seiten | |
gebraucht, um das aufzuschreiben, und kann es nicht wirklich kürzer | |
erläutern. | |
Welche Formen von Antisemitismus haben Sie in Deutschland erlebt? | |
Die üblichen Formen, wie überall: Verschwörungstheorien, Klischees, | |
Israelvorwürfe. | |
Was machen Vorfälle wie [1][jener im Prenzlauer Berg] in Berlin mit Ihnen, | |
wo ein junger Palästinenser einen arabischen Israeli, der eine Kippa trug, | |
mit einem Gürtel misshandelte? | |
Das hat mich überrascht, weil ich nicht geglaubt hätte, dass es | |
ausgerechnet in Prenzlauer Berg problematisch sein könnte, eine Kippa zu | |
tragen. Aber dieser Vorfall ist auch sonst außergewöhnlich: Er war ein | |
Experiment. Vielleicht hat es Provokationen gegeben, es hat womöglich eine | |
Rolle gespielt, dass ein arabisch sprechender Mensch ein Symbol getragen | |
hat, das von einigen auch als Unterstützung für Israel verstanden werden | |
könnte. Natürlich ist es furchtbar, dass jüdische Symbole als Provokationen | |
empfunden werden, dass das Wort „Jude“ als Schimpfwort auf Arabisch fällt. | |
Und dass so viele Menschen um den Platz herumgesessen und nicht reagiert | |
haben. Das berührt in mir als Jüdin ein Unsicherheitsgefühl, aber … | |
Aber? | |
Aber ich glaube, dass gerade ein verzerrtes Bild entsteht. Mein Sohn etwa | |
wurde in der Schule von einem Jungen aus einer deutschen Familie | |
antisemitisch beleidigt. Er hat ihn sich herausgepickt und gesagt, es sei | |
gut, dass Hitler alle Juden umgebracht habe. Ich fand das | |
besorgniserregend, weil ich befürchtete, dass er nun auch künftig in dieser | |
Form beleidigt werden könnte. Die Schule hat darauf extrem konstruktiv und | |
kompetent reagiert. Niemand hat versucht, vor dem Problem wegzurennen oder | |
es kleinzureden. Und mir wurde klar, dass es solche Fälle nicht in die | |
Schlagzeilen schaffen. | |
Und das ist problematisch? | |
Ja, weil wir eine realistische Wahrnehmung auf diese Weise nicht bekommen. | |
Weil alle in Panik geraten, wenn so etwas passiert, und glauben, gar nicht | |
vernünftig reagieren zu können – statt sich die Kompetenz anzueignen, sich | |
richtig zu verhalten. | |
Wie sähe diese Kompetenz konkret aus? | |
Gerade in diesem Fall war es sehr gut, dass die gesamte Klasse und viele | |
Mitglieder der Schule, auch die Eltern, direkt miteinander gesprochen | |
haben. Es geht, davon bin ich überzeugt, immer um Achtsamkeit. Wir können | |
davon ausgehen, dass derjenige, der antisemitische Gefühle hegt, sich | |
selbst unbewusst ausgegrenzt fühlt. Politisch bedeutet das, den Belangen | |
der Menschen, die heute beginnen, sich zum Beispiel ins rechte Spektrum zu | |
bewegen, Gehör zu schenken: Wer nicht gehört wird, wird entweder übersehen, | |
oder er wird dafür Sorge tragen, dass er nicht übersehen wird: Das löst er | |
dann meist mit Gewalt. | |
Braucht es eine besondere Kompetenz für sogenannten muslimisch-arabischen | |
Antisemitismus? | |
Ich verstehe diesen Drang in Deutschland nicht, das zu unterteilen und zu | |
sagen, dies ist der eine und das ist der andere Antisemitismus. Getrennt | |
bekämpft werden kann er nicht. Er muss als ein ganzheitliches Problem | |
begriffen und angegangen werden. Ihn in zwei Versionen oder auch von | |
anderem Rassismus zu unterscheiden kommt mir sinnlos und bürokratisch vor. | |
Wir Menschen sind einander doch sehr viel ähnlicher, als wir uns | |
eingestehen wollen. | |
Aber müssen wir, um kompetent mit Judenhass umgehen zu können, nicht | |
zumindest die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte von Antisemitismus | |
berücksichtigen? | |
Kompetenz bedeutet in diesem Fall, sich von der Starre des „Schmerzes“ zu | |
befreien, sie abzuschütteln und kühl und sachlich mit der Realität | |
umzugehen, egal wie weh es tun mag. Und ja, es tut weh! Auch mir tut es | |
weh, dass die Welt so wirr ist, dass ausgerechnet jene Menschen, die selbst | |
so viele Leiden kennen, mein Leiden nicht verstehen können oder wollen. | |
Aber ich kann meinen Schmerz beiseitelegen, um an das Wohl der Gesellschaft | |
zu denken. | |
Und was muss dann passieren? | |
Um Hass verstehen und bekämpfen zu können, müssen wir uns ernsthaft mit dem | |
Leiden der Anderen auseinandersetzen wollen. Sie oder ihre Eltern sind nach | |
Deutschland gekommen und sollen sich zum Holocaust verhalten – das geht | |
nur, wenn sie über ihre eigene Ausgrenzung nicht schweigen müssen. Wenn | |
Menschen schlimmes Leid erfahren haben, müssen sie auch die Erfahrung | |
machen, dass dieses Leid von anderen anerkannt wird, bevor sie fähig sind, | |
Empathie für Dritte zu entwickeln. | |
Ich habe einen gebildeten syrischen Freund, der mich dafür beschimpft hat, | |
dass ich eine Israelkarte an der Wand hängen habe. Hitler war ihm zwar ein | |
Begriff, doch in der Schule hatte er den Holocaust nie wirklich behandelt. | |
Derartige individuelle Auseinandersetzungen sind die Rettung. Es sind | |
genau solche Gespräche, über die es letztendlich funktionieren wird. Und | |
muss. Und nur kann. Zwischenmenschliche Beziehungen liefern andere | |
Perspektiven, bewegen Menschen und stoßen Prozesse im Kopf an. Wir können | |
nichts daran ändern, dass Menschen mit solchen Einstellungen hierherkommen, | |
das ist auch nicht schlimm. Wir können aber selbst dazu beitragen, dass | |
sie, wenn sie hier leben, viele persönliche Erfahrungen außerhalb ihrer | |
Peer Group machen, die ihnen andere Einsichten vermitteln. | |
Können wir nicht verlangen, dass alle, die in Deutschland leben möchten, | |
sich zu Israel bekennen? | |
Gedanken und Einstellungen können und sollten wir nicht auf diese Weise | |
steuern und zensieren. Jeder muss sich in der Öffentlichkeit, in der | |
Gesellschaft jüdischen Menschen und dem Staat Israel gegenüber respektvoll | |
verhalten. Verhalten. Darum geht es. Denken darf natürlich jeder, was er | |
will. Ich kann diese Meinung zwar verachten, aber ich muss akzeptieren, | |
dass Menschen nicht perfekt sind, dann bin ich schon ein ganzes Stück | |
weiter. | |
Und wenn ich mich an diesen Gedanken gewöhnt habe? | |
Alle, die in diesem Land leben, sind gleichermaßen dafür verantwortlich, | |
wie sie miteinander leben. Auch ich als Jüdin muss dazu beitragen, dass die | |
Gesellschaft vorankommt, genauso wie mein muslimischer Mitbürger. Sonst | |
kann ich mich letztlich auch nicht darüber beschweren, wenn Dinge | |
passieren, die mir nicht gefallen. Es ist nicht produktiv, sich | |
zurückzulehnen. Eine Gesellschaft muss pluralistisch sein, um funktionieren | |
zu können. Also muss sie auch ihre Probleme pluralistisch lösen. | |
Passiert es Ihnen oft, dass Sie, obwohl Sie US-amerikanische Jüdin sind, | |
automatisch mit Israel in Verbindung gebracht werden? | |
Absolut. Neulich habe ich jemanden kennengelernt, der den gleichen | |
Nachnamen wie ich trägt, Feldman. Ich machte ihn darauf aufmerksam, seine | |
Reaktion aber war: „Ja, aber wir sind nicht verwandt, weil ich keinen Bezug | |
zu Israel habe.“ Den habe ich natürlich auch nicht! Ich weiß, dass er sich | |
nichts Böses dabei dachte, dass er kein Antisemit war. Und dennoch hat er | |
überhaupt nicht verstanden, dass wir beide gleich wenig Bezug zu Israel | |
haben. Ich bin eine US-amerikanische und deutsche Staatsbürgerin, die in | |
Berlin lebt. | |
Die Gemeinde, aus der Sie kommen, hat Israel verachtet. Wie stehen Sie | |
jetzt dazu? | |
Als ich meine antizionistische Gemeinde verlassen habe, wollte ich mich mit | |
der Frage auseinandersetzen, warum sie, warum alle, die mir nahestanden, | |
antizionistisch waren. Ich wollte wissen, wo ich stehe, welche Meinung ich | |
zu Israel habe. Und selbst wenn ich nicht gewollt hätte, musste ich mir | |
eine Meinung bilden, weil mich alle nach einer fragen, weil ich jüdisch | |
bin. Nach all den Büchern, die ich dazu gelesen habe, bin ich zu dem | |
Schluss gelangt, dass es schlicht keine klare Position zu diesem Thema | |
geben kann, weil die Situation über alle Maßen kompliziert ist. | |
Sie waren mittlerweile einmal in Israel zu Besuch, hat das etwas an dieser | |
Haltung geändert? | |
Natürlich gibt es an Israel Dinge, die schön sind, und solche, die | |
schrecklich sind. Für mich herrschen dort Extremismus und Theokratie vor. | |
Dass ich das sage und denke, hat natürlich dazu geführt, dass ich für die | |
hiesige jüdische Gemeinde mittlerweile eine Persona non grata bin. Wenn du | |
als Jüdin nicht voll und ganz hinter Israel stehst, bekommst du das zu | |
spüren. Dann gehörst du nicht dazu. | |
Kennen Sie viele, die nicht mehr dazugehören? | |
Es gibt eine wachsende Zahl linker Israelis in Berlin, die nicht mehr dort | |
leben wollen, weil sie es mit ihren politischen Vorstellungen nicht länger | |
vereinbaren können und weil sie es nicht mehr ausgehalten haben, wie sie | |
angefeindet werden. Das ist natürlich traurig, denn gerade sie sollten das | |
Land nicht verlassen, um eine Opposition lebendig zu halten. Es sind vor | |
allem Menschen aus meiner Generation, die jetzt sagen, Schluss, damit kann | |
ich mein Gewissen nicht mehr vereinbaren. | |
30 May 2018 | |
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## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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