# taz.de -- Forscher über Verschwörungstheorien: „An Gottes Stelle treten V… | |
> Verschwörungstheorien sind seit der Frühen Neuzeit beliebt – und nicht | |
> ungefährlich. Warum gibt es sie überhaupt? Michael Butter forscht seit | |
> Jahren. | |
Bild: Wieso verheimlicht der Staat eigentlich, was er über UFOS weiß? | |
Eine „internationale Finanzoligarchie“ plant den „großen | |
Bevölkerungsaustausch“, Mondlandung und 11. September waren Inszenierungen | |
der US-Regierung, mangels Friedensvertrag sind die Deutschen immer noch | |
„Reichsbürger“: Michael Butter forscht seit Jahren über | |
Verschwörungstheorien, die vor allem, aber nicht nur in rechten politischen | |
Kreisen kursieren. Jetzt hat er ein Buch zu dem Thema vorgelegt: „Nichts | |
ist, wie es scheint“. | |
taz am wochenende: Herr Butter, wie definieren Sie Verschwörungstheorien? | |
Michael Butter: Verschwörungstheorien beinhalten drei Charakteristika. | |
Erstens: Nichts geschieht durch Zufall. Das heißt, es gibt angeblich eine | |
im geheimen operierende Gruppe, die Verschwörer, die alles, was geschieht, | |
geplant haben. Zweitens: Nichts ist, wie es scheint. Das heißt, man muss | |
unter die Oberfläche schauen, um die wahren Verhältnisse zu erkennen. Tut | |
man das, dann erkennt man als Drittes: Alles, oder fast alles ist | |
miteinander verbunden. Die Einführung des Euro, Gender Mainstreaming und | |
die Flüchtlingskrise erscheinen dann als Teil eines perfiden Gesamtplans. | |
Sind Verschwörungstheorien etwas historisch Neues? | |
Die ersten Verschwörungstheorien entstanden, soweit wir heute wissen, | |
irgendwann zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Denn erst da sind die | |
notwendigen Bedingungen gegeben: ein Menschenbild, das Subjekten | |
entsprechende Handlungsfähigkeit zuschreibt, eine lesende Öffentlichkeit, | |
in der solche Theorien zirkulieren können, und der Buchdruck, der es | |
erlaubt, die entsprechenden Texte zu verbreiten. Zunächst spielen in den | |
Szenarien noch Gott und der Teufel eine große Rolle, aber ab dem 18. | |
Jahrhundert finden wir die üblichen Verdächtigen, um die es auch in der | |
Gegenwart noch oft geht, zum Beispiel den Geheimbund der Illuminaten oder | |
die Freimaurer. | |
Hat die stärkere Verbreitung von Verschwörungstheorien mit dem Nachlassen | |
religiöser Bindungen zu tun? | |
Historiker begründen das so, mit der Säkularisierung. Einst glaubten die | |
Menschen an eine göttliche Instanz, die alle Fäden in der Hand hält. Das | |
fällt mit der Aufklärung zunehmend weg. Zugleich aber waren die Menschen | |
noch nicht bereit, zu akzeptieren, dass komplexe Gesellschaften Dinge | |
hervorbringen, die niemand so geplant hat. Irgendjemand muss das lenken, an | |
die Stelle von Gott treten dann die Verschwörer. | |
Sie sind Amerikanist. Gibt es in den Vereinigten Staaten eine besondere | |
Neigung zu Verschwörungstheorien? | |
Vor zehn Jahren hätte ich diese Frage noch mit eine klaren Ja beantwortet. | |
Mittlerweile wissen wir, wie wichtig Verschwörungstheorien auch in der | |
europäischen Geschichte waren und es immer noch sind. Fakt ist aber, dass | |
in den USA deutlich mehr Menschen an so etwas glauben als in Deutschland. | |
Neueren Umfrageergebnissen zufolge hängt dort jeder zweite Bürger | |
mindestens einer Verschwörungstheorie an. Wir denken vielleicht sofort an | |
die Anhänger von Donald Trump, aber das sind nicht die Einzigen. | |
Sie haben ein EU-Projekt zu dem Thema mit angestoßen, in dem über hundert | |
Forscher aus 39 Ländern kooperieren. Wo liegen die Unterschiede innerhalb | |
Europas? | |
In Mittel-, West- und Nordeuropa sind Verschwörungstheorien seit den 1950er | |
Jahren stigmatisiert. Sie sind zwar weiterhin für viele attraktiv, aber | |
sozial nicht akzeptiert. In Ost- und Teilen von Südeuropa ist das anders, | |
dort verbreiten fast alle Politiker und große Teile der Medien ständig | |
Verschwörungstheorien. Denken Sie nur an die ungarische Regierung unter | |
Viktor Orbán, die behauptet, der US-Finanzinvestor George Soros wolle | |
Millionen Migranten in Europa ansiedeln, um die „nationale und christliche | |
Identität“ des Kontinents auszulöschen. Die Theorie vom Weltenlenker Soros | |
knüpft ganz offen an alte antisemitische Hetzkampagnen an – der | |
Angegriffene ist ja ein in Ungarn geborener Jude. | |
Das Internet gilt als eine Art Brandbeschleuniger für einfache | |
Welterklärungen. Sind Verschwörungstheorien vor allem ein Netzphänomen? | |
Nein. Das Internet hat Verschwörungstheorien nur wieder sichtbarer gemacht | |
und dadurch auch zu einer Zunahme der „Gläubigen“ geführt. Die ist aber | |
nicht so rapide, wie es uns manchmal vorkommt. Verglichen mit der Zeit vor | |
hundert oder zweihundert Jahren, glauben heute sogar eher weniger Menschen | |
an Verschwörungstheorien. Deren Verbreitung reicht allerdings bis weit in | |
die Mitte der Gesellschaft hinein. | |
Schaut man auf Netzeinträge etwa zum 11. September 2001, fällt auf, dass | |
überwiegend Männer dazu posten. Sind diese besonders anfällig für abstruse | |
Gedankenkonstrukte? | |
In der Gegenwart auf jeden Fall. Das liegt daran, dass | |
Verschwörungstheorien einem erklären, warum die Dinge falsch laufen. Und | |
die männliche Identität ist in den letzten Jahrzehnten deutlich heftiger | |
erschüttert worden als die weibliche. Daher neigen momentan insbesondere | |
diejenigen zu Verschwörungstheorien, die Verlustängste spüren und daher | |
auch die populistischen Bewegungen der Gegenwart tragen: weiße Männer über | |
40. Das ist genau jene demografische Gruppe, die Trump ins Amt gebracht hat | |
und bei Pegida mitmarschiert. | |
Führt verschwörungstheoretisches Denken zu Gewalt? Ein [1][„Reichsbürger�… | |
der staatliche Autoritäten nicht anerkennt, hat 2016 bei einer | |
Hausdurchsuchung aus dem Hinterhalt einen Polizisten erschossen. | |
Das ist tragisch, aber man darf hier nicht vorschnell verallgemeinern. | |
Viele Verschwörungstheoretiker sind harmlos. Aber wir reden halt häufiger | |
über die, die es nicht sind. Generell sind Theorien, die sich gegen | |
Schwache und Ausgegrenzte richten, gefährlicher als solche, die Eliten | |
beschuldigen. Und natürlich sind alle rassistischen oder antisemitischen | |
Theorien problematisch. Also: Solche Deutungen können zu Gewalt führen, tun | |
dies aber nicht zwangsläufig. | |
Beeinflussen Verschwörungstheorien die Politik? | |
In Gesellschaften, in denen Verschwörungstheorien als legitimes Wissen | |
gelten, tun sie das ganz massiv. Sowohl der US-amerikanische | |
Unabhängigkeitskrieg als auch der spätere Bürgerkrieg wurden zu einem | |
beträchtlichen Teil von solchen Theorien mitverursacht. Für die | |
puritanischen Siedler zum Beispiel waren alle, die sich ihnen | |
entgegenstellten, Teil eines teuflischen Komplotts; das galt für die | |
Indianer genauso wie für die Quäker oder die französischen Katholiken in | |
Kanada. US-Präsident Abraham Lincoln zeigte sich Mitte des 19. Jahrhunderts | |
in einer berühmten Rede überzeugt, seine politischen Gegner wollten die | |
Sklaverei nicht nur im Süden der USA beibehalten, sondern diese auf das | |
ganze Land ausdehnen. In der US-amerikanischen Kultur galten | |
Verschwörungstheorien noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg als völlig | |
legitim. Die Mehrzahl der US-Präsidenten glaubte daran, von Washington bis | |
Eisenhower. Aber selbst bei uns, wo diese spätestens seit den Erfahrungen | |
im Nationalsozialismus stigmatisiert sind, bleiben sie nicht ohne Effekt. | |
Die Verschwörungstheorien, die unter vielen Pegida- oder AfD-Anhängern | |
verbreitet sind, beeinflussen, wie diese Bewegungen Politik machen und | |
somit indirekt auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs. | |
Gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und | |
rechtem Populismus? | |
Ja. Verschwörungstheorien und Populismus haben viele strukturelle | |
Gemeinsamkeiten. Beide vereinfachen das politische Feld durch Aufteilung | |
in zwei Gruppen: Volk und Elite oder Opfer der Verschwörung und | |
Verschwörer. Letztendlich liefern Verschwörungstheorien nur eine | |
spezifische Erklärung für das Verhalten der Eliten, das der Populismus | |
allgemeiner kritisiert. Die Eliten sind dann nicht nur abgehoben oder | |
individuell korrupt, sondern gleich Teil eines Komplotts. Entsprechend | |
können populistische Bewegungen Verschwörungstheoretiker wunderbar | |
integrieren. Diese stimmen mit den Nichtverschwörungstheoretikern in fast | |
allem überein. | |
Gibt es auch [2][linke Verschwörungstheoretiker?] | |
Nicht so ausgeprägt wie im rechten politischen Spektrum. Doch in | |
kommunistischen Regimen wie der Sowjetunion und China wimmelt es im 20. | |
Jahrhundert von Verschwörungstheorien. Mal geht es um subversive Kräfte | |
aus dem Aus- und Inland, mal um eine Verschwörung des Großkapitals. Oder | |
diskutieren Sie mal hier im linksintellektuellen Tübingen auf Spielplätzen | |
über die Notwendigkeit von Impfungen! Da schlägt einem ein völlig | |
überzogenes Misstrauen gegen Ärzteschaft und Pharmaindustrie entgegen. Mit | |
einer grünen Impfgegnerin zu sprechen kann genauso anstrengend sein, wie | |
einem AfD-Anhänger ausreden zu wollen, Merkel werde direkt aus Washington | |
gesteuert. | |
„Alternativen Fakten“ aus dubiosen Blogs oder Foren schenken manche mehr | |
Glauben als den Recherchen seriöser Medien, die als „Lügenpresse“ | |
beschimpft werden. Was kann man tun gegen Verschwörungstheorien? | |
Empirische Experimente zeigen: Wenn man überzeugte | |
Verschwörungstheoretiker mit schlüssigen Gegenargumenten konfrontiert, | |
halten sie noch fester an ihrem Gedankengebäude fest. Es ist schwer, an | |
„Gläubige“ heranzukommen. Wenn man überhaupt diskutieren will, sollte man | |
niedrigschwellig und eher emotional einsteigen. Oft geht es um Anerkennung, | |
darum, überhaupt ernst genommen zu werden. Gleichzeitig muss man ansetzen | |
bei den Zweiflern, die nicht vollständig von solchen Theorien überzeugt | |
sind, und für eine gute Bildung sorgen: Wissen darüber, wie moderne | |
Gesellschaften funktionieren, und Medienkompetenz sind das Allerwichtigste. | |
24 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Gesterkamp | |
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