| # taz.de -- Antisemitismus in der Schule: Ausgrenzung macht das Herz krank | |
| > An Berliner Schulen kommt es oft zu antisemitischen Vorfällen. Um das zu | |
| > ändern, gehen Imame und Rabbiner gemeinsam in den Unterricht. | |
| Bild: Auf dem Tandem durch die Innenstadt: Gemeinsam gegen Antisemitismus und I… | |
| Berlin taz | Mit der Geschichte vom ungerechten Lehrer hat Joelle Spinner | |
| die Fünftklässler gepackt. Keine Wenigkeit in dieser Altersstufe. Doch als | |
| die 43-Jährige von ihrer ersten bewussten Diskriminierung in den Schweizer | |
| Bergen erzählt, ist es im Stuhlkreis still. Vielen in der 5b der | |
| Grundschule im Beerwinkel kommt das, was die Frau mit dem Schweizer Akzent | |
| in ihrem Klassenzimmer gerade erzählt, vertraut vor. | |
| 24 der 27 Kinder in der Klasse haben nichtdeutsche Eltern, mehr als die | |
| Hälfte sind Muslime. Ihre Wurzeln liegen in der Türkei, Kasachstan, Libanon | |
| oder Syrien. In ihrer Klasse treffen sie auf schwedische, kroatische, | |
| polnische MitschülerInnen. Hier in Berlin-Spandau sind, ähnlich wie in | |
| anderen Stadtteilen der Republik, solche heterogenen Klassen Normalität. | |
| Fast ebenso groß ist die Bandbreite an Beschimpfungen, die man auf vielen | |
| Schulhöfen hören kann: „Jude“, „Kartoffel“, „Schoko“, | |
| „Schweinefleischfresser“. | |
| Die Grundschule im Beerwinkel bildet da keine Ausnahme, verrät | |
| Klassenlehrer Ivan Assenov. Auch zwischen Fünftklässlern, erzählen einige | |
| aus der 5b, sind diese Wörter schon gefallen. Zunächst aber lauschen sie | |
| Spinners Kindheitserlebnis. Weil sie und die anderen jüdischen Mädchen ihr | |
| eigenes, koscheres Essen auf die Wanderung mitbrachten, schickte sie der | |
| Sportlehrer in einen Nebenraum. Wer seine eigene Verpflegung brauche, sagte | |
| er, müsse zum Essen auch in einen eigenen Raum gehen. | |
| „Wir sind ausgegrenzt worden, nur weil wir Juden anders waren. Findet ihr | |
| das okay?“ Die meisten Kinder, auch die muslimischen, schütteln energisch | |
| den Kopf. Ender Cetin, der Islam-Vertreter, der die Jüdin Joelle Spinner | |
| bei dem gemeinsamen Schulbesuch begleitet, nickt befriedigt mit dem Kopf. | |
| ## Beunruhigende Entwicklung | |
| Cetin und Spinner sind in den Unterricht gekommen, um für gegenseitigen | |
| Respekt zu werben. Zwischen den Religionen, unter Schülerinnen und | |
| Schülern. „[1][meet2respect“] heißt das Projekt, das der Berliner Senat | |
| seit 2015 fördert. In der Regel bestehen die Teams aus einem Imam und einem | |
| Rabbiner. An diesem Sonntag sind rund 25 dieser Paare je zu zweit auf | |
| Tandem-Fahrrädern durch die Berliner Innenstadt gefahren und haben so – | |
| ganz nach dem Motto der Aktion „Gemeinsam Antisemitismus und | |
| Islamfeindlichkeit entgegenlenken“ – ein Zeichen keine Intoleranz gesetzt. | |
| Ihre Botschaft: Muslime und Juden verbindet mehr, als sie trennt. | |
| Dass solche Botschaften im Jahr 2018 mehr als notwendig sind, darüber sind | |
| sich auch Ender Cetin – der islamische Theologe aus Berlin – und Joelle | |
| Spinner – die Ehefrau eines Rabbiners aus der Schweiz – einig. 1.453 | |
| antisemitische und 950 antiislamische Delikte zählte die Polizei 2017 in | |
| Deutschland. Und auch in diesem Jahr reißen die Meldungen über den | |
| zunehmend offenen Hass auf Juden im Land der Täter nicht ab. | |
| In Berlin wurden zuletzt mehrfach [2][Kippa-Träger auf offener Straße | |
| angegriffen.] Auch die Vorfälle, die aus den Schulen an die Öffentlichkeit | |
| dringen, veranlassen [3][PolitikerInnen und Verbände zu eindringlichen | |
| Mahnungen]. Vor Kurzem nahmen Eltern ihren 14-jährigen Sohn wegen | |
| antisemitischen Mobbings von einer Berliner Schule. „Wir können nicht | |
| Freunde sein, weil alle Juden Mörder sind“, soll ein Mitschüler dem | |
| Bedrohten gesagt haben. | |
| Joelle Spinner beunruhigt die Entwicklung. Ihr Großvater hat Auschwitz | |
| überlebt, andere Verwandte sind von den Nazis ermordet worden. Zwar fühlt | |
| sich Spinner, dreifache Mutter, seit 18 Jahren in Berlin, in Deutschland | |
| „sehr sicher“, wie sie sagt. Sie räumt aber auch ein, dass sie den Hass | |
| gegen Juden nicht persönlich mitbekomme. Sie und ihre Familie lebten | |
| zurückgezogen in ihrer jüdischen Gemeinde im Norden der Stadt. Ihre drei | |
| Töchter gehen auf eine jüdische Schule. | |
| ## Pauschale Brandmarkung | |
| Der Muslim Ender Cetin hingegen erlebt den Antisemitismus hautnah. Cetin, | |
| ein ruhiger Mann in legerer Kleidung, arbeitet seit Jahren mit muslimischen | |
| Jugendlichen. Als Seelsorger im Jugendknast, als Theologe in einer | |
| Moscheegemeinde – und als Toleranzbotschafter an Schulen. Bei | |
| „meet2respect“ ist er von Anfang an dabei. Cetin beobachtet, dass in den | |
| vergangenen Jahren die Hemmschwelle gesunken ist – und zwar auf allen | |
| Seiten. „Vielen muslimischen Jugendlichen fällt es schwer, beim Thema | |
| Israel zu differenzieren“, sagt Cetin. | |
| „Aus der Kritik an Israel wird oft eine pauschale Judenfeindlichkeit“. | |
| Gleichzeitig gebe es auch ein starkes Vorurteil gegenüber Muslimen. „Auch | |
| unter Lehrern“, sagt Cetin. Dieses Problem nennt auch Dervis Hizarci, | |
| Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Und | |
| das habe, sagt Hizarci, auch mit der medialen Berichterstattung zu tun. | |
| „Wir haben definitiv ein Problem mit Antisemitismus bei muslimischen | |
| Jugendlichen“, sagt der 35-Jährige, der selber Lehrer ist. | |
| „Aber so, wie in der Öffentlichkeit über Antisemitismus gesprochen wird, | |
| werden Muslime teilweise pauschal als Antisemiten gebrandmarkt. So wird die | |
| Lehrkraft zu Kollektivierung und Vorverurteilung verleitet, was wiederum | |
| ein Hindernis darstellt bei der Arbeit gegen Antisemitismus.“ | |
| Aus diesem Grund veranstaltet KIgA im Unterschied zu den | |
| „meet2respect“-OrganisatorInnen nicht nur Schulbesuche, sondern bietet auch | |
| Lehrerfortbildungen an. „Ein Lehrer, der etwa gegenüber seinen eigenen | |
| SchülerInnen nicht diskriminierungsfrei agiert, kann keinen erfolgreichen | |
| Antisemitismus-Workshop geben.“ Die mangelnde Sensibilisierung, so Hizarci, | |
| führt auch dazu, dass die Zahlen zu antisemitischen Vorfällen ohne große | |
| Aussagekraft blieben. | |
| ## Hohe Dunkelziffer | |
| Der Berliner Senatsverwaltung wurden 2017 zwölf Fälle von Antisemitismus in | |
| Schulen gemeldet. Zusammen mit den Meldungen bei der [4][Informationsstelle | |
| Antisemitismus Berlin] sind es 19. Die KIgA geht jedoch davon aus, dass die | |
| tatsächliche Zahl der Fälle um ein Vielfaches höher liegt. | |
| Wo Lehrer Hizarci dem Theologen Cetin ebenfalls recht gibt: dass Rassismus | |
| nicht zunimmt oder abnimmt, sondern sich je nach | |
| gesellschaftlich-politischer Lage nur mehr oder weniger offen zeige. „Was | |
| vorher unter der Oberfläche blieb, kommt nun immer stärker an die | |
| Oberfläche“, so Hizarci. Cetin formuliert es ähnlich. Zu einer Zeit, in der | |
| der Fraktionschef einer Bundestagspartei die NS-Zeit als „Vogelschiss“ der | |
| deutschen Geschichte bezeichne und in der der Palästinenserkonflikt blutig | |
| ausgetragen werde, sei es nicht verwunderlich, dass sich das im | |
| Schülerverhalten widerspiegle. „Da eröffnet Trump eine Botschaft in | |
| Jerusalem und schon kommen bei ganzen Familien traumatische Erlebnisse | |
| hoch.“ | |
| Auch in der 5b haben er und Joelle Spinner den Nahostkonflikt angesprochen. | |
| „Hat jemand, der in Berlin lebt, Schuld an dem, was in Jerusalem | |
| passiert?“, fragen sie etwa. Vor allem wiederholen die beiden aber eine | |
| Kernbotschaft: Respekt gegenüber den anderen ist das A und O. So stehe es | |
| auch im Koran und in der Thora. Muslimische Kinder seien bei Fragen des | |
| Glaubens sehr wissbegierig, schildert Cetin seine Erfahrungen. „Ich sage | |
| den Kindern, dass der Islam ein gesundes Herz verlangt. Andere auszugrenzen | |
| aber macht das Herz krank“, sagt Cetin. | |
| In der Grundschule am Beerwinkel scheint er Gehör zu finden. Als die | |
| Fünftklässler ihre eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung erzählen, sagt | |
| Cem plötzlich: „Ich finde es toll, dass Sie beide Freunde sind.“ Und Adam, | |
| der sehr engagiert bei der Sache ist, ergänzt: „Ich finde gut, dass Sie | |
| über Ausgrenzung gesprochen haben. Ich verstehe nämlich nicht, warum man | |
| andere ausgrenzt.“ | |
| ## Beratung und Bildung | |
| Und ein weiteres Ziel scheint der Schulbesuch erreicht zu haben. Nach der | |
| Doppelstunde wissen die SchülerInnen der 5b: Muslime und Juden können | |
| zusammen koscher essen und dürfen auch gemeinsam beten. Sie teilen sich den | |
| Stammvater Abraham und den Propheten Moses, Jerusalem als Heilige Stadt und | |
| selbst Wörter wie das arabische Wort „sadaqa“ und das hebräische „zedak… | |
| die in beiden Religionen so viel wie Wohltätigkeit bedeuten. | |
| Aus Sicht von Dervis Hizarci können Begegnungen wie interreligiöse | |
| Schulbesuche jedoch nur begleitende Schritte im Kampf gegen Diskriminierung | |
| an der Schule sein. Sein Träger, die KIGA, setzt neben Begegnung vor allem | |
| auf die Säulen Bildung und Beratung. Bei Lehrern, fordert Hizarci, müsse | |
| das Thema Umgang mit und Reflexion von Diskriminierung zu einem | |
| verbindlichen Teil der Lehramtsausbildung werden. | |
| Und auch bei den Unterrichtsmaterialien müsse sich etwas ändern. In vielen | |
| seien Muslime und Juden auf eine bestimmte Sache reduziert dargestellt – | |
| anstatt als selbstverständlicher Teil einer diversen Gesellschaft. | |
| Selbst [5][stereotype Darstellungen in Schulbüchern] haben Juden und | |
| Muslime in Deutschland gemein. | |
| 25 Jun 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://meet2respect.de/ | |
| [2] /Prozess-wegen-antisemitischem-Uebergriff/!5514784 | |
| [3] /Diskriminierung-an-Schulen/!5492871 | |
| [4] https://report-antisemitism.de/#/home | |
| [5] /Was-Kinder-ueber-Migration-lernen/!5280851 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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