Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Historiker zu Antisemitismus in Schulen: „Stärker über Ideologi…
> Eine neue Website informiert Jugendliche über Antisemitismus.
> Projektleiter Malte Holler über Leerstellen im Unterricht und
> Fehlannahmen der Politik.
Bild: Scherben überall: Am Tag nach der Reichspogromnacht in Berlin
taz: Herr Holler, am Donnerstag jährt sich die Reichspogromnacht zum 85.
Mal. Wie verbreitet der Hass auf Jüdinnen und Juden in Deutschland auch
heute ist, hat der [1][Angriff der Hamas auf Israel] sichtbar gemacht. Wird
die deutsche Gesellschaft ihrer besonderen Verantwortung gerecht?
Malte Holler: Diese Frage lässt sich nicht mit einem klaren Ja oder Nein
beantworten. Zunächst müssen wir feststellen, dass antisemitische
Einstellungen in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet sind. Die
politische Elite des Landes bekundet immer wieder, dass sie sich der
historischen Verantwortung bewusst sei. Nun kommt es aber darauf an, daraus
auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Denn neben dem Erinnern an die
Schrecken der NS-Zeit und dem Schutz von jüdischem Leben braucht es auch
eine nachhaltige Demokratieförderung. Davon sind wir momentan weit
entfernt.
Aktuell klingt es bei Politiker:innen so, als trügen auch die Schulen
Schuld an den antisemitischen Vorfällen. Familienministerin Lisa Paus
(Grüne) etwa kritisierte, das Thema Antisemitismus werde im Unterricht
nicht genügend behandelt. Stimmen Sie zu?
Ich stimme zu, dass die Institution Schule momentan nicht in die Lage
versetzt wird, dem Thema Antisemitismus den Raum zu widmen, den er
einnehmen müsste. Dafür sind die Curricula zu eng und die Personalnot zu
groß. In der Praxis sehen wir doch, dass es an vielen Schulen oft nur zu
einem Projekttag mit einem externen Bildungsträger kommt und das war’s. Im
regulären Unterricht kommen Themen wie Antisemitismus oder Rassismus dann
häufig zu kurz. Dazu kommt, dass nicht alle Lehrkräfte den Anforderungen,
wie man beispielsweise jetzt gut über den Nahostkonflikt reden sollte,
gerecht werden.
Woran liegt das?
Über die fehlenden Ressourcen haben wir schon gesprochen. An manchen
Schulen stimmen die Bedingungen, an anderen nicht. Aber es gibt noch andere
Gründe. Viele Pädagog:innen denken, dass die Beschäftigung mit der Shoah
den Antisemitismus beseitigen könnte. Meiner Erfahrung nach gehört das zu
den am weitesten verbreiteten Missverständnissen. Tatsächlich wird
Judenhass dann oft auf seine Folgen verkürzt. Es ist aber wichtig, dass im
Unterricht auch stärker über die Grundstrukturen antisemitischer Ideologie
gesprochen wird. Dadurch bietet sich viel eher der Raum, die eigenen
Vorurteile kritisch zu hinterfragen. Zum Glück gibt es aber auch einzelne
Lehrkräfte und Schulleitungen, die hier sehr gute Arbeit leisten.
Sie haben vor drei Jahren rund 400 Schüler:innen zu Antisemitismus
befragt. Viele hatten Probleme, subtilere Formen von Judenhass zu erkennen.
Wie erklären Sie sich das?
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass den meisten Menschen in Deutschland
jüdisches Leben im Alltag nicht begegnet. Dazu kommt, dass Antisemitismus
an Schulen meist nur historisch betrachtet wird, im Zusammenhang mit der
Judenverfolgung in der NS-Zeit. Für junge Menschen bleibt Antisemitismus
deshalb sehr abstrakt. Uns ist beispielsweise aufgefallen, dass Jugendliche
antisemitische Aussagen verteidigen, wenn sie glauben, das sei ja nicht
wirklich so gemeint.
Die [2][aktuelle Memo-Jugendstudie] zeigt, dass 16- bis 25-Jährige heute
sensibler für Diskriminierung sind als ihre Eltern und sich auch mehr für
die NS-Zeit interessieren. Wie passt das zu Ihren Befunden?
Es gibt eine subtile Konkurrenz zwischen den verschiedenen
Ausgrenzungsdynamiken. Ich habe viele Jahre Antisemitismus-Projekte an
Berliner Schulen begleitet. Dabei habe ich oft gehört: „Warum reden wir
heute über Antisemitismus? Warum reden wir nicht über unsere Probleme?“ Das
liegt natürlich an den eigenen Ausgrenzungs- oder Rassismuserfahrungen
heutiger Schüler:innen. Interessanterweise findet sich diese persönliche
Beobachtung auch in unserer breit angelegten Umfrage. So bezeichneten
Schüler:innen Rassismus deutlich häufiger als Problem in unserer
Gesellschaft als Antisemitismus. Zu welchen Konflikten diese Konkurrenz
führen kann, sieht man heute.
Projekte wie [3][„meet2respect“] oder „Meet a Jew“ setzen auf Begegnung…
Jüdinnen und Juden. Ist das der Schlüssel?
Eine persönliche Begegnung kann eine wichtige Erfahrung sein. Wichtig ist
aber immer, dass solche Besuche gut vor- und nachbereitet werden.
Besonders, wenn es sich um einmalige Veranstaltungen handelt. Da müssen wir
die vielen engagierten Lehrkräfte, die es schließlich auch gibt,
unterstützen. Das Anliegen, die Perspektive von Jüdinnen und Juden sichtbar
zu machen, ist jedenfalls sehr wichtig. Auf unserer neuen Website zum Thema
Antisemitismus haben wir deshalb auch Videos integriert, in denen junge
Jüdinnen und Juden von ihrem Glauben, ihrem Alltag oder auch ihren
Diskriminierungserfahrungen erzählen.
Die Website [4][www.an-allem-schuld.de] ist seit Montag freigeschaltet. Sie
soll Jugendliche ab 14 Jahren einladen, sich mit Antisemitismus zu
beschäftigen. Was finden sie dort?
Wir stellen auf der Seite verschiedene Facetten von Judenhass dar, als
Faktenwissen, aber auch analytisch. Wir geben Antworten auf die Fragen „Was
ist Antisemitismus? Wie äußert er sich? Wie verbreitet er sich?“ Wir geben
auch Anregungen, was man dagegen tun kann. Auf der Website gibt es kleine
Spiele, kurze Erklärfilme, Experteninterviews. Das Angebot richtet sich an
Jugendliche, soll aber auch für junge Erwachsene und Pädagog:innen
interessant sein.
Warum braucht es diese neue Website? Gibt es im Netz nicht bereits genügend
Informationen zum Thema?
Ja, die gibt es. Aber nicht unbedingt für diese Zielgruppe und häufig weit
verstreut. Wir haben versucht, die verschiedenen Aspekte von Antisemitismus
und jüdischem Leben in Deutschland zu bündeln und altersgerecht
zusammenzufassen. Sie werden sehen, die Website sieht auch deutlich bunter
und moderner aus als andere Angebote.
Sie sind mit dem Angebot auch auf Tiktok, Instagram und Youtube. Glauben
Sie, dass Sie dort viel Beachtung finden?
Bildungsarbeit über soziale Medien ist ein Experimentierfeld. Wenn man dort
erfolgreich Bildungsarbeit machen will, muss man permanent aktiv sein und
Content produzieren. Vor allem auf Tiktok. Das können wir nicht leisten –
da fehlen uns schlicht die Ressourcen. Im Projekt entstandene Videos
stellen wir auf Youtube und Tiktok. Auf Instagram posten wir kontinuierlich
und werben für unsere Seite. Aber auch das kostet Zeit, die dann für andere
Arbeiten fehlt. Ein weiteres Problem liegt in der zeitlichen Befristung
unseres Projekts. Es ist völlig offen, wer nach Projektende Website und
Social-Media-Accounts betreut.
Wie lange werden Sie noch gefördert?
Bis Ende 2024. Ob und wie es weitergeht, ist nach wie vor unklar. Als
Träger der politischen Bildung müssen wir uns ständig damit befassen, neue
Projekte für die Zeit danach an Land zu ziehen. Das ist ein großer Nachteil
der aktuellen Förderstruktur. In ganz regelmäßigen Abständen stehen die
Träger vor existentiellen Nöten.
Auf dem Bundeskongress Politische Bildung hat Innenministerin Nancy Faeser
(SPD) [5][soeben versprochen], die geplanten Kürzungen bei der
Bundeszentrale für politische Bildung zurückzunehmen. Sind Sie vom Hin und
Her betroffen?
Leider ja. Unser Projekt wird auch zum Teil von der Bundeszentrale für
politische Bildung finanziert. Und die hat uns nach Bekanntgabe der
Sparpläne im Sommer mitgeteilt, dass die Förderung bei uns eingestellt
wird. Wir mussten Arbeitsstunden, Sachmittel und auch Ziele streichen. Ob
wir jetzt vielleicht doch wieder gefördert werden, wissen wir nicht. Es ist
schwer auszuhalten, dass viele wichtige Demokratieprojekte regelmäßig vor
dem Aus stehen. Die Politik muss endlich umdenken und die Strukturen
nachhaltiger gestalten.
Wenn Sie an die [6][Ergebnisse der Mitte-Studie] oder die Wahlerfolge der
AfD in Bayern und Hessen denken: Wie positiv blicken Sie in die Zukunft?
Mich stimmt positiv, dass die Politik heute deutlich mehr für
Demokratiebildung ausgibt als vor 10, 15 Jahren. Doch Bildung ist immer
wieder eine der ersten Optionen für Einsparungen. Diese Sparlogik im Bund
und in Ländern für höchst problematisch. Wenn man die Demokratiebildung nur
schätzt, wenn es gerade knallt, und in ruhigeren Zeiten die Mittel
streicht, hat das eine schlimme Signalwirkung.
8 Nov 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[2] https://www.stiftung-evz.de/was-wir-foerdern/handlungsfelder-cluster/bilden…
[3] /Antisemitismus-in-der-Schule/!5512396
[4] http://www.an-allem-schuld.de/
[5] /Bundeskongress-Politische-Bildung/!5970726
[6] /Mitte-Studie-der-Ebert-Stiftung/!5961642
## AUTOREN
Ralf Pauli
## TAGS
Antisemitismus
Schule
Erinnerungspolitik
Demokratieprojekte
NS-Gedenken
Podcast-Guide
Jugend
Schule
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
NS-Gedenken
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geschichts-Podcast „Was bisher geschah“: Nazis, Täufer, Dschingis Khan
„Was bisher geschah“ zählt zum Glück keine Jahreszahlen auf, sondern
erzählt lebendig. Und so wird Geschichte spannend, ekelhaft und gruselig.
Umfrage unter Jugendlichen: Rechtsruck bei junger Generation
Die jüngsten Krisen trüben die Stimmung bei Jugendlichen und jungen
Erwachsenen ein. Eine Umfrage zeigt zudem: Sie wenden sich verstärkt der
AfD zu.
Muslimisch-jüdische Unterrichtsbesuche: „Immer geht es auch um den Respekt“
Wie umgehen mit dem Nahost-Konflikt im Unterricht? Ein Rabbi und ein Imam
werben in Berliner Klassenzimmern für mehr Verständnis füreinander.
Pädagogen über den Nahost-Konflikt: „Verbote bringen herzlich wenig“
Das jüdisch-palästinensische Duo Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun will an
Schulen über die Gewalt in Nahost sprechen. Wie kann das gelingen?
Anne-Frank-Tag an deutschen Schulen: „Eine coole Idee“
Annelie poliert einen Stein. Sophia illustriert das Thema Freundschaft. Wie
sich Schulen zum Geburtstag Anne Franks mit dem NS-Regime beschäftigen.
Antisemitismus in der Schule: Ausgrenzung macht das Herz krank
An Berliner Schulen kommt es oft zu antisemitischen Vorfällen. Um das zu
ändern, gehen Imame und Rabbiner gemeinsam in den Unterricht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.