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# taz.de -- Gemeinde-Vorstand über Antisemitismus: „Das ist nicht zu verarbe…
> Grigori Pantijelew berichtet über antisemitische Vorfälle in Bremen, die
> nie publik geworden sind, weil die Betroffenen aus Angst vor den Folgen
> die Öffentlichkeit meiden.
Bild: Erleben oft auch in der Schule Antisemitismus: jüdische Kinder
taz: Herr Pantijelew, es herrscht weitgehend Konsens darüber, dass der
Antisemitismus zugenommen hat, und dennoch werden aus Bremen kaum
Einzelfälle bekannt. Warum?
Grigori Pantijelew: Also zunächst einmal gehe ich nicht davon aus, dass der
Antisemitismus zugenommen hat – das Thema bekommt nur mehr Aufmerksamkeit.
Es ist wichtig, dass man davon weiß, dass es nicht unter den Teppich
gekehrt wird. Aus der Menge verschiedener Vorfälle wähle ich fünf
Erzählungen, die zusammen eine breite Palette antisemitischer Denkmodelle
mit sich bringen und zeigen, dass alle Raffinessen der früheren
judenfeindlichen Haltung und der heute neu erfundenen antisemitischen Ideen
zusammenkommen. Das heißt: Es wird nichts ausgespart und es ist alles da.
Die Betroffenen – es sind allesamt Jugendliche – haben Sie autorisiert,
ihre Geschichten zu erzählen.
Ja, und ich erzähle Ihnen diese Geschichten so, wie ich sie gehört habe.
Ein Mädchen im Alter von zehn Jahren, befreundet mit einem türkischen
Jungen, hört von ihm plötzlich: Ich kann nicht mehr mit dir befreundet
sein, weil ihr Juden den Jesus umgebracht habt. Das Mädchen erzählte
darüber zu Hause, weil sie nicht verstehen konnte, was sie da gehört hatte.
Was an diesem Beispiel so beeindruckend ist: Ein türkischer Junge, der
offensichtlich ein uraltes antijüdisches, christliches Ressentiment
aufgenommen hat, bekommt es ungefiltert von seiner Umgebung, und auch wenn
es absurd ist, ist es die Realität. Dass diese Stigmatisierung so auf das
Mädchen übertragen wird, dass sie in seinen Augen die Verantwortung dafür
übernehmen soll, das ist Judenfeindlichkeit. So wird sie erzogen.
Das klingt schlimm. Das zweite Beispiel?
In der Schule, im Unterricht, verteidigt ein Junge, zwölf Jahre alt, beim
Thema Nahostkonflikt die Position Israels. Die Reaktion der Lehrerin ist:
„Warum bist du nicht nach Israel gegangen, um dein Israel zu verteidigen?“
Das heißt, eine verantwortliche Erwachsene legt dem Kind wiederum die
gesamte Verantwortung für das Schicksal und den Frieden im Nahen Osten auf
die Schultern. An ihm liegt es jetzt, da hinzufahren und in den Krieg zu
ziehen. Das ist ein Ressentiment erster Güte. Es ist, was man heutzutage
„neuer Antisemitismus“ nennt, es ist israelbezogen und schon wieder zieht
es den Kreis um einen Einzelnen, der für alle anderen schuldig gesprochen
wird.
Ein haarsträubendes Beispiel, gerade für eine Pädagogin.
Na, warten Sie einmal, bis Sie das nächste Beispiel gehört haben: In einem
Gymnasium kommen die Lehrer auf eine glorreiche Idee. In einem Rollenspiel
sollen die Schüler die Konfliktparteien im Nahen Osten auf sich nehmen,
sodass eine Partei Israel darstellt und die andere Partei die
Palästinenser, alles, um hier den lieben Frieden dort zu erreichen
selbstverständlich. Man sucht unter den vorhandenen Schülern explizit nach
Vertretern dieser Bevölkerungsgruppen. So bekommt ein Junge aus dem Iran
die Aufgabe, die Palästinenser zu vertreten, und ein jüdisches Mädchen
bekommt die Aufgabe, Israel zu vertreten. Das geht schief, wie es nur
schiefgehen kann. Es eskaliert sofort, und der Junge bespuckt das Mädchen
und schmeißt auf sie mit Gegenständen. Für das Mädchen ist es eine absolute
Katastrophe.
Und was macht die Schule?
Die Schule hat reagiert, sie hat einen Schuldigen gefunden: Der iranische
Junge wird von der Schule suspendiert. Wir haben einen Brief an die
Schulleitung geschrieben mit der Aufforderung, dies alles neu zu überlegen.
Ich finde es beschämend, dass der Junge hier der letzte in der Kette ist,
der das verantworten muss. Ich gehe davon aus, dass er überfordert war. Der
Fehler liegt aber am Konzept. Auf den Brief haben wir übrigens keine
Antwort bekommen.
Es gab auch Fälle mit körperlichen Übergriffen.
Ein Junge ist in seiner gesamten Schulzeit als Jude beschimpft und
geschlagen worden. Das geschah in den Pausen, das geschah auf der Straße,
es war eine Tortur, die erst endete, als die Schulzeit vorbei war. Und hier
gibt es auch eine sehr wichtige Hintergrund-Nuance: Der Junge hat seinen
Eltern nicht erlaubt, darüber in der Schule zu sprechen. Er hat das so
begründet: Die Lehrer waren als Aufsichtspersonen oft Zeugen, sie haben nie
eingeschritten, sich nie eingemischt. So reproduziert die deutsche Schule
von heute das Opferdasein deutscher Juden. Und keiner will das gesehen
haben.
Das waren jetzt vier Beispiele…
Die letzte Geschichte ist ein Spiegelbild davon. Ein anderer Junge outete
sich nie als Jude, auf den Rat seiner Mutter. In seiner Gegenwart wurde ein
jüdischer Junge beschimpft und geschlagen, er aber nicht. Als ich davon
hörte, habe ich noch ein bisschen nachgebohrt und gefragt: Was hast du
gemacht? Und er sagte: Ich war einfach dabei. Das heißt, er kann diese
Spaltung in seiner Persönlichkeit aushalten. Aber was sind das für Spuren,
die da in der Psyche bleiben, was sind wir für Menschen, dass wir sowas
zulassen? Das sind meine fünf Geschichten, und so unterschiedlich, wie sie
sind, in der Summe bilden sie die gesamte Palette ab, wie aus einem
Lehrbuch.
Den Fällen, die Sie da schildern, ist ja gemein, dass sie alle – bis auf
einen, der in einem Senatsbericht zum Antisemitismus verkürzt genannt ist –
nie publik geworden sind. Warum haben die Betroffenen so große Angst davor,
es zu erzählen?
Ich glaube, das ist vielleicht sogar die wichtigste Frage, noch mehr als
die nach den einzelnen Fällen. Die meisten der bremischen Juden kommen aus
der ehemaligen Sowjetunion, wo der Antisemitismus eine staatliche Doktrin
war und wo durch die Generationen eine Art Modus gefunden wurde, damit
klarzukommen. Man musste es überleben, man konnte dem nicht entkommen. Und
eine Möglichkeit war, sich zu verstecken, sich nicht zu outen und es nach
Möglichkeit zu verheimlichen. Einen Schutz durch den Staat gab es nicht, so
blieb der Rückzug in den engsten Kreis, in die Familie.
Diesen Hintergrund haben die jüdischen Migranten aus der Sowjetunion
mitgebracht.
Ja, sie gingen davon aus, dass sie hier mit offenen Armen aufgenommen
werden, und dann erleben sie auf diese Weise die Realität und das eine ist
mit dem anderen nicht kompatibel. Die Gastfreundlichkeit, die Angebote zur
Integration, sie sind alle da, die jüdische Gemeinde zeigt sich offen in
der Stadt, ist willkommen – aber auf dem Level der Alltagserlebnisse
passiert dann sowas. Das ist nicht zu verarbeiten, und dann greifen die
alten Muster: Die Eltern sagen: Behalte es für dich.
Die Betroffenen fühlen sich total alleine?
Es ist auch die Erfahrung mit den Autoritätspersonen, etwa mit Lehrern, die
dafür kein Verständnis haben, kein Auge, kein Ohr, und das bleibt hängen.
Und die Eltern haben nicht den Mut zu sagen: Okay, du willst vielleicht
nicht, dass wir darüber reden, aber wir gehen jetzt in die Schule, in die
Gemeinde, in die Presse. Wir hören die Geschichten vielleicht in der
Gemeinde, aber nur mit der Auflage, es nicht weiterzusagen – aus Angst,
dass es dann noch schlimmer werden könnte. Das heißt, bei uns schließt sich
dieser Kreis, weiter geht es nicht.
Damit sprechen Sie das grundsätzliche Problem an, das auch wir beide im
Vorfeld hatten: Als Journalistin will ich Geschichten aus erster Hand. Es
ist mein Job, Fakten zu überprüfen oder wenigstens die Quelle zu kennen.
Die Jugendlichen möchten aber nicht selber sprechen. Und gleichzeitig
wissen wir: Je konkreter eine Geschichte ist, umso mehr erreicht sie auch
die Menschen.
Ja, eine Art Teufelskreis. Da sind Jugendliche, die das erlebt haben, und
hier ist deren Weigerung, damit in die Öffentlichkeit zu kommen und zu
berichten, was passiert ist. Sie möchten sauber recherchieren und möchten
vor sich selbst verantworten, was man publiziert. Und da bleiben wir
hängen, das heißt, wenn ich nicht einmal den Namen nennen darf, nicht
einmal das Stadtviertel, weil die Ängste so groß sind, dann druckt das oder
sendet das keiner. So bin ich dankbar, dass dies jetzt trotzdem öffentlich
wird.
20 Jun 2018
## AUTOREN
Karolina Meyer-Schilf
## TAGS
Antisemitismus
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Bildung in Bremen
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