# taz.de -- 60 Jahre Bremer Synagoge: Das Gerücht über Herrn Katz | |
> Mit einem Festakt wird am Sonntag das 60-jährige Bestehen der Bremer | |
> Synagoge gefeiert. Ihr Gründer Carl Katz wird noch immer geschmäht. | |
Bild: Bremens Synagoge unter Polizeischutz 2015: Jüdisches Leben ist sichtbar,… | |
BREMEN taz | Ganz klar ist es auch eine Familienangelegenheit. Und | |
selbstverständlich kommen sie diesen Sonntag nach [1][Bremen, zum | |
Jubiläum,] Ruth Bahar lässt daran keinen Zweifel aufkommen. Die Flugtickets | |
aus New York sind längst gebucht und auch Corona lässt es zu. Schon vor 60 | |
Jahren war sie ja dabei gewesen, als Kind, mit Vater Shmuel und Mutter | |
Inge Berger, geborene Katz. | |
„Wir kamen damals jeden Sommer in den Ferien nach Bremen“, sagt sie. Wie | |
hätten sie da fehlen können, als der Neubau der Bremer Synagoge eingeweiht | |
wurde, bei warmen Worten von Bürgermeister Wilhelm Kaisen, einer Ansprache | |
vom Gemeindevorstand. Das war Carl Katz. | |
Die ganze Familie war involviert. Über Shmuel Berger, der Auschwitz | |
überlebt hatte, sagt Ruth Bahar: „Mein Vater hat viele der Gebete für die | |
Gemeinde gesprochen“, dann ein kurzer, liebevoller Blick nach links: „Und | |
meine Mutter hat genäht“, da nickt die zierliche Frau, die zwischen ihrer | |
Tochter und ihrer Enkelin Elise Garibaldi auf einem cremefarbenen Sofa | |
Platz genommen hat, in einem Apartment in New York. | |
„Ja“, sagt Inge Berger, „die Bedeckungen für die Tora-Rollen“, erklär… | |
„zum Schutz“. Denn die Heilige Schrift darf nicht von Händen berührt | |
werden. [2][Davor bewahrt sie Me’il, der Tora-Mantel]. | |
## Nicht mehr fürs Jude-Sein entschuldigen | |
Über den Atlantik hinweg war die Familie also fester Bestandteil der Bremer | |
Gemeinde. Das lag an Katz. Denn der Unternehmer war hier geblieben, in | |
Bremen. Allein. Unbeugsam? Vielleicht trifft dieses Wort am besten die | |
Haltung, die ihn dazu gebracht hatte, zurückzukehren aus dem | |
KZ-Theresienstadt. | |
Nicht auszuwandern, sondern in Bremen eine neue jüdische Gemeinde | |
aufzubauen und schließlich eine Synagoge, die sich nicht wie die alte am | |
Rande des Schnoors als Wohnhaus tarnt. „Er wollte sich nicht länger dafür | |
entschuldigen, Jude zu sein“, sagt Urenkelin Garibaldi. | |
Der 18. Elul im Jahre 5721, also der 30. August 1961, das war Carl Katz’ | |
großer Tag. Sein Fest. Wer das 60-jährige Bestehen des Gotteshauses in | |
Schwachhausen feiert, wird seiner gedenken müssen. „Es ist wirklich | |
erstaunlich“, sagt Elise Garibaldi, „ihn zu feiern, und gleichzeitig muss | |
ich dieses Buch zu seiner Verteidigung herausbringen.“ Sie schüttelt den | |
Kopf. „Es ist ja wirklich erst vor ein paar Wochen erschienen.“ | |
„Never Enough“ heißt es, „The Carl Katz Story“. Eine deutsche Fassung … | |
in Vorbereitung, und es ist keine Biografie: Katz’ Kindheit in Osterholz, | |
seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg, sein Werdegang als erfolgreicher | |
Rohprodukte-Großhändler werden nur knapp gestreift. | |
## Verfolgt auch nach dem Krieg | |
Garibaldi konzentriert sich darauf, die Verfolgungsgeschichte zu erzählen: | |
Die umfasst die Zeit ab 1938, den Verlust des Geschäfts am 9. November, die | |
Haft in Sachsenhausen. Nach seiner Rückkehr von dort die Arbeit in der | |
Jüdischen Gemeinde. [3][Die Nazis ernennen ihn schließlich zum Leiter der | |
Bremer Zweigstelle der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland]. Dann | |
folgt Theresienstadt. Und dann die Jahre nach 1945. | |
Das Buch zeichnet jene Zeit in Bremen, als Katz auf dieselben Nazis trifft, | |
die ihn und die Seinen zuvor in den Tod geschickt hatten. Entnazifizierte | |
Nazis. Untadelige Gestapo-Leute, die wissen, wie der Hase lief, und was | |
sich als Anschuldigung verkaufen lässt. Gerüchte werden aufgebracht, üble | |
Nachrede, Falschaussagen. | |
Hätte Katz denn etwa nicht die Judensterne gegen Schutzgebühr ausgegeben? | |
Hätte der Jude Carl Katz etwa nicht befehlsgemäß die Namenslisten für die | |
Todestransporte zusammengestellt? Sie machen ihn zum Gegenstand von | |
Ermittlungsverfahren. Treiben Zeuginnen gegen ihn auf. Es gibt Menschen, | |
die sich gern als Instrumente der Rache zur Verfügung stellen. Vielleicht | |
trägt es ja etwas ein? | |
Packend erzählt Garibaldi. Statt einer linearen Chronologie zu folgen, | |
verschaltet sie Szenen aus den Jahren im KZ mit Begegnungen im Bremen der | |
Nachkriegszeit, weil Zeiten ja stets ineinander greifen. Weil die | |
Vorstellung, etwas wäre jemals vorbei, falsch ist: Niemals gab es eine | |
Stunde null. | |
[4][Das Buch ist ein Thriller]. Aber was die Autorin darin schildert, ist | |
nachgewiesen. Im Anhang führt sie die Fundstellen im Bremer Staatsarchiv | |
auf, wo Ruth Bahar die Akten ihren Großvater betreffend durchgearbeitet | |
hat. | |
Und ja, selbstverständlich sind zwar die inneren Monologe der Figuren | |
fiktional, aber stilistisch elegant kondensieren diese Elemente das, was | |
sich in den Archiven über die jeweiligen Personen findet. Sie | |
rekonstruieren ihren Horizont – was erst erlaubt, die Plausibilität der | |
Aussagen zu bewerten, die wörtlich aus den Vernehmungsprotokollen stammen. | |
Das ist nicht nur zulässig. Es erweist sich als gelungene Form der | |
Quellenkritik, die in anderen, akademischer anmutenden Werken zu kurz kommt | |
– oder fehlt. „What she wrote was really happening“, beglaubigt Inge Berg… | |
das Buch ihrer Enkelin, wiederholt dann den Satz auf Deutsch, „Was da | |
geschrieben ist, ist wirklich passiert“, sagt sie. | |
Carl Katz ist im März 1972 gestorben. Das Gerücht lebt. Es lebt sogar | |
wieder auf, scheint es, und das beunruhigt auch die jüdische Gemeinde. | |
Zielen die Unterstellungen auf sie? „Das Muster der skandalisierenden | |
Diffamierung kennen wir gut“, sagt jedenfalls Grigori Pantijelew, der | |
stellvertretende Vorsitzende der Gemeinde. Und ja, die Frage, warum die | |
örtlichen Historiker meinen, sich an Carl Katz abarbeiten zu müssen, und | |
warum kein Widerspruch komme, „die stelle ich mir und finde die sich daraus | |
ergebende Sprachlosigkeit schallend laut“. | |
Wieder ist es ein Buch, das den Impuls überhaupt gesetzt hat, ein Werk über | |
den Judenreferenten der Bremer Gestapo, Bruno Nette, den Verantwortlichen | |
für die Deportationen von über 1.000 als jüdisch klassifizierten Menschen | |
aus Bremen und dem Regierungsbezirk Stade in die Vernichtung. | |
Verfasst hat es dessen Enkel, und löblich war seine Absicht: Es ging darum, | |
die von Inge Marßolek entworfene Legende zu überwinden, nach der Nette ein | |
human denkender Nazi gewesen wäre. Das war er nicht, stellte nun sein Enkel | |
fest. Und dann kommt das große Aber: die Mitschuldfrage. Geradezu obsessiv | |
fällt Nette juniors Beschäftigung mit Katz aus. | |
## Der Mythos von der Kollaboration | |
Als wäre er ein freies, handelndes Subjekt gewesen, wird er inszeniert. Es | |
werden Leute aufgerufen, die mehr Angst vor Carl Katz gehabt hätten als vor | |
dem Gestapo-Mann. Ob das genau der Zweck seiner Zwangsbeteiligung am | |
Mordgeschehen gewesen sein könnte, wird nicht einmal gefragt. | |
Ausgiebig aber zitiert Nette junior die Entnazifizierungs-Akten seines | |
Opas, einschließlich der Zitate, die dieser Katz in den Mund legt – als | |
handele es sich um Tatsachen. Die Todeslisten aufzustellen wäre eine | |
Aufgabe gewesen, die Nette „nicht ohne die Hilfe von Carl Katz bewältigen | |
konnte“, hatte eine Rezension im Weser-Kurier den suggestiven Subtext des | |
Werks zustimmend zusammengefasst: eine irre Botschaft. | |
Anders [5][bewertet denn auch Frank Mecklenburg das Werk.] Der Historiker | |
und Leitende Archivar des Leo-Baeck-Institus in New York und Berlin wirft | |
dem Nette-Enkel vor, „'den Juden Carl Katz benutzt“ zu haben, „um für si… | |
selbst eine psychologische Balance zu finden“. | |
Tatsächlich greift das Buch auf eine Erzählung der Nachkriegszeit zurück: | |
Die Frage nach den sogenannten „Judenräten“, denen, die von den Nazis zu | |
Ansprechpartnern bestimmt worden waren, war ab 1945 auch innerjüdisch | |
kontrovers gewesen. Mecklenburg erkennt hier „den Mythos von der jüdischen | |
Kollaboration“. Oft taucht er als Entlastungsnarrativ auf. [6][Später hatte | |
Hannah Arendt das Thema popularisiert] und polemisch zugespitzt. | |
Dort, wo es durch [7][seriöse Geschichtsschreibung weiter erhellt wurde], | |
haben sich Raul Hilbergs Analysen bewahrheitet: „Die Judenräte saßen selber | |
in der Falle“, schreibt der Historiker zusammenfassend. „Auch sie waren | |
Opfer.“ Sie wurden benutzt, um die Vorarbeiten der | |
Vernichtungs-Administration auszuführen. Judensterne verteilen. Listen | |
aufstellen. Sie hätten diesen „Dienst als Pflicht“ angesehen, [8][so | |
Hilberg,] „und waren völlig davon überzeugt, dass sie die ganze Last der | |
Sorge für die jüdische Bevölkerung trugen“. | |
Als sie sich auf die Recherche einließen, hatte Garibaldi mit ihrer Mutter | |
gesprochen und ihrer Großmutter. „Let’s be prepared“, hatte sie gesagt. … | |
müssten auf alles gefasst sein. „Ihr kennt ihn ja nur als Großvater und | |
Vater“, hatte sie dabei betont, „wie er außerhalb der Familie war, wissen | |
wir nicht.“ Wer also könne ihnen sagen, „dass das nicht die Wahrheit ist�… | |
Fast erschrocken seien sie gewesen, dass sich alle Anschuldigungen als | |
falsch erweisen, „ausnahmslos“, sagt Ruth Bahar, „nur Lügen, Lügen, Lü… | |
Und leicht als solche zu erkennen. Was das Schweigen darüber nur umso | |
beängstigender werden lasse, sagt Bahar: „That’s a desaster.“ | |
28 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://juedischesleben2021-bremen.de/gemeindejubilaeum/ | |
[2] http://www.judentum-projekt.de/religion/tora/ | |
[3] https://www.spurensuche-bremen.de/spur/buero-der-juedischen-gemeinde-und-br… | |
[4] https://www.elisegaribaldi.com/ | |
[5] https://www.lbi.org/de/about/staff/frank-mecklenburg/ | |
[6] https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/hannah-arendt-und-der-eichmann-p… | |
[7] https://www.wallstein-verlag.de/9783835315273-zur-politischen-rolle-von-jud… | |
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Raul_Hilberg | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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