# taz.de -- Buch „Die Geschichte von Carl Katz“: Herr Katz und seine Feinde | |
> Als Carl Katz aus dem KZ kam, gründete er Bremens jüdische Gemeinde. | |
> Seine Geschichte hat nun seine Urenkelin Elise Garibaldi aufgeschrieben. | |
Bild: Momente des Glücks: Carl und Marianne Katz mit Tochter Inge und Enkelin … | |
Manche Romane erlauben mehr Einsicht in die Geschichte, als | |
historiografische Aufsätze das leisten können. Letztere vermögen zwar, den | |
feinstofflichen Niederschlag von psychologischen Beweggründe und | |
politischen Intrigen in den Dokumenten zu entdecken und auszuwerten. | |
Das tut die New Yorker Autorin Elise Garibaldi nur am Rande. Sie hat die | |
notwendige Diskussion in einen ausführlichen dokumentarischen und zudem | |
reich bebilderten Anhang ihres sehr lesenswerten Buchs ausgelagert: „Never | |
Enough“ ist nun in einer gut lesbaren Übersetzung von Bärbel Müller | |
[1][erschienen, die am Dienstag im Bremer Focke-Museum vorgestellt wird]. | |
In der Hauptsache aber erzählt Garibaldi in „Niemals Genug“, wie es der | |
Untertitel verspricht, „Die Geschichte von Carl Katz“, also ihres | |
Urgroßvaters, eines Bremer Kaufmanns und ehrenamtlichen Funktionärs der | |
jüdischen Gemeinde. Beziehungsweise seine Geschichte und die seiner Feinde. | |
Dafür hat sie auf das gesetzt, was Truman Capote einmal als entscheidenden | |
Vorzug [2][einer non-fiction-novel bestimmt hat,] also des Tatsachenromans: | |
Dieses Genre zwingt Autor und Leserschaft, sich „in Persönlichkeiten | |
einzufühlen, die außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögens liegen“. | |
## Im Kopf der bösen Menschen | |
Dazu zählen im Normalfall Massenmörder und Verbrecher gegen die | |
Menschlichkeit. Genau solche Leute also, die schon 1949, dem Jahr, in dem | |
die Handlung des Buchs einsetzt, recht erfolgreich versuchten, sich der | |
Bremer Nachkriegsjustiz zu bemächtigen – und in ihrem Gefüge bereits damals | |
ein sehr stabiles Netzwerk etabliert hatten. Dieses Netzwerk ist | |
notwendigerweise Thema in dem Buch. | |
Denn Katz hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die jüdische Gemeinde in Bremen | |
neu begründet – in deren Leitung er schon von 1938 bis 1942 tätig gewesen | |
war. „Katz schied aus, da er mit seiner Familie, Ehefrau, Schwiegermutter | |
und Tochter, im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde“, heißt es | |
im wissenschaftlich-biografischen Aufsatz, den der Forschungsdirektor des | |
New Yorker Leo Baeck Instituts, Frank Mecklenburg, kürzlich | |
[3][veröffentlicht hat] – im Jahrbuch des Bremer Staatsarchivs. | |
Nach der Befreiung hatte Katz maßgeblich die Rückkehr derer koordiniert, | |
die ins Lager verschleppt worden waren und die dennoch glaubten, wieder in | |
Deutschland leben zu können. Namentlich um die hat er sich gekümmert, die | |
zurück nach Bremen wollten, also 15 alte Gemeindeglieder, die überlebt | |
hatten. | |
Mit ihnen versuchte er jüdisches Leben dort wieder möglich zu machen: Er | |
gründete die Gemeinde in seiner Heimatstadt neu, verhalf ihr schließlich – | |
die Krönung eines Lebenswerks – zu einer repräsentativen Synagoge, die sich | |
nicht hinter einer Wohnhausfassade versteckt. Katz wurde auch zum Pionier | |
des DDR-Handels, etablierte sich als geachteter Ansprechpartner des Senats | |
– und musste doch zusehen, wie seine Tochter in Deutschland keine Zukunft | |
für sich und ihre Tochter sah, stattdessen in die USA emigrierte. | |
Sein wirtschaftlicher Erfolg war groß: Katz ließ in Bremen die Firma seines | |
Vaters wieder aufleben – Handel und Verwertung von Sekundärrohstoffe, also | |
Altmetallen und -Textilien –, und brachte es offenbar zur westdeutschen | |
Marktführerschaft; eine Filiale in New York wurde im Laufe der 1950er | |
eröffnet. | |
Gleichzeitig jedoch versuchen gewesene Gestapo-Beamte, SS-Ehemalige und | |
voreilig entnazifizierte Sondergerichtsankläger, wie der Staatsanwalt | |
Siegfried Höffler, seiner habhaft zu werden. Ein Verfahren gegen Katz wird | |
angestrengt, das die Züge einer Intrige nicht verbergen kann: „Aus den | |
Gerichtsunterlagen wird sehr schnell deutlich, dass Zeugen manipuliert | |
wurden“, wertet Forscher Mecklenburg die Dokumente aus. | |
Garibaldi nun lässt ihre Leser*innen diese Manipulation miterleben. Sie | |
führt sie mitten hinein ins Denken und Fühlen der Altnazis, lässt sie | |
teilnehmen an ihrer Bosheit und Rachsucht, gibt aber eben auch ihren | |
Ängsten Raum und ihrer Verunsicherung, ihrem Hoffen und ihrem Sehnen. | |
Es sind ja schließlich ganz normale Menschen und angesehene Bürger. | |
„Irgendwann würden die Amis doch abziehen müssen“, sinniert an einer Stel… | |
der Staatsanwalt Höffler, „Deutschland wird irgendwann wieder deutsch sein | |
müssen. Dann würde man ihm dankbar sein. Leute wie er wurden gebraucht!“ | |
Klar, dieser innere Monolog ist fingiert. Aber er basiert auf ausführlichem | |
Studium der Staatsarchivs-Akten, die Aufschluss geben über Höfflers | |
Gedankenwelt, seine obsessive Beschäftigung zumal mit Carl Katz – und sein | |
Zusammenspiel mit dem früheren Judenreferenten Bruno Nette. | |
Der hatte in seinem Entnazifizierungsverfahren versucht, Katz zum | |
eigentlichen Bremer Judenverfolger zu machen: Nette erklärte, Katz habe mit | |
ihm freundschaftliche Beziehungen gepflegt – und die Gemeindeglieder | |
bereitwillig ausgeliefert. | |
Nicht ohne Erfolg: Mit nachvollziehbarer Empörung schildern Garibaldi und | |
ihre Mutter Ruth Bahar im Appendix, wie diese allem Anschein nach | |
verleumderische und ganz offenkundig taktisch motivierte Zeugenaussage von | |
Lokalgeschichtsschreibern wie eine ungetrübte Quelle abgeschöpft wurde; | |
sprich: Nettes Behauptungen [4][erhielten den Status historischer | |
Wahrheit]. | |
## Kein Gedenkpathos | |
Garibaldis Buch leistet keinen Beitrag zum Gedenkpathos. Stattdessen hat | |
sie einen Thriller geschrieben, der in einem ganz dokumentarischen Sinne | |
als wahr gelten kann. Der aber eben auch unterhaltsam ist und spannend. | |
Denn ihr gelingt es, den sonst oft nur hochtheoretisch ausgefochtenen | |
Streit um das Gedenken, um die Deutung der Ereignisse selbst als konkretes | |
Ereignis zu erfassen – und dieses fesselnd zu erzählen. Dem entspricht auch | |
die Komposition: Anstelle einer einfachen Chronologie wählt Garibaldi eine | |
Technik der Rückblenden. Zunächst überraschend, erweist sich das als kluger | |
Griff. | |
Einerseits macht diese Technik spürbar: Der Schrecken hält an, ragt noch in | |
die seligsten Wirtschaftswunderzeiten hinein. Man ahnt, dass er noch lange | |
nicht vorbei ist. Andererseits inszeniert sie die Vergangenheit so als | |
Präsenz. | |
Zumindest erzähl-strategisch gelingt es so, die Verleumdungen und | |
Verdrehungen zu überschreiben: Pogrome, das Grauen der Lager, die Ohnmacht | |
der Opfer und die Belastung des Überlebens zu deuten ist nichts, was den | |
Tätern überlassen bleiben darf. Und auch nicht ihren Enkeln. | |
9 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.edition-falkenberg.de/produkt/niemals-genug-die-geschichte-von-… | |
[2] https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/books/97/12/28/home/capote-inte… | |
[3] https://www.staatsarchiv.bremen.de/carl-katz-biographie-14417 | |
[4] /60-Jahre-Bremer-Synagoge/!5793985 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Entnazifizierung | |
Bremen | |
Buch | |
Biografie | |
Jüdische Gemeinde Bremen | |
Antisemitismus | |
NS-Verfolgte | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
60 Jahre Bremer Synagoge: Das Gerücht über Herrn Katz | |
Mit einem Festakt wird am Sonntag das 60-jährige Bestehen der Bremer | |
Synagoge gefeiert. Ihr Gründer Carl Katz wird noch immer geschmäht. | |
Buch „Rosen in einem verbotenen Garten“: Ein Recht auf Schnulze | |
Elise Garibaldi hat die Geschichte ihrer jüdischen Großmutter | |
aufgeschrieben, die aus Bremen nach Theresienstadt deportiert wurde. | |
SS-Skandalroman "Die Wohlgesinnten": Nazi-Charakter ohne Zentrum | |
Ein dickes Buch übers Tätersein: Jonathan Littells Roman "Die | |
Wohlgesinnten" erzählt die Geschichte eines SS-Offiziers und verbleibt an | |
der Oberfläche der Monstrosität. |