# taz.de -- Jüdisches Leben in Deutschland: „Es gibt kein Buch über Synagog… | |
> Alex Jacobowitz ist Musiker – und reist durch Deutschland, um Synagogen | |
> zu fotografieren. Warum er selbst oft staunt und was ihm Mut macht. | |
Bild: Treffen mit einer alten Bekannten? Jacobowitz vor der Synagoge in Wörtli… | |
WÖRLITZ/GRÖBZIG/HALLE/LEIPZIG taz | Das Motiv ist perfekt. Die Synagoge, | |
ebenmäßig wie ein antiker Tempel, ruht auf einem künstlichen Hügel, Steine | |
sichern die Böschung, davor eine Wiese. Zufrieden baut Alex Jacobowitz das | |
Stativ auf, fixiert das Bild. Durch das Laub schimmert der See. Es hat | |
etwas Bukolisches. | |
Doch ein Schriftzug will sich nicht in die Idylle fügen. Es ist nichts | |
Religiöses, nichts Hebräisches, sondern sehr deutsch und sehr profan. | |
„Forelle, heiß geräuchert“ steht auf dem Schild. Das Gasthaus Seeblick | |
wirbt um Kunden, die Forelle soll ein Leckerbissen sein. Doch soll sie in | |
einem Fotobuch über Synagogen in Deutschland beworben werden? | |
Als der Aufsteller beiseite ist, prüft Jacobowitz noch einmal das | |
Arrangement. Die klassizistische Synagoge im Städtchen Wörlitz in | |
Sachsen-Anhalt ist ein Schmuckkästchen – und eine von hundert Synagogen, | |
die Alex Jacobowitz in diesem Sommer aufsucht, wie man alte Bekannte | |
ausfindig macht, mit ihnen Geschichten austauscht und für ein Fotoalbum | |
ablichtet, das im nächsten Frühjahr in die Buchländen kommen soll, sein | |
Titel: „100 Synagogen in Deutschland“. | |
Jacobowitz ist für sein Buch viel unterwegs. Er staunt selbst über die | |
Vielfalt. Mal findet er in Ansbach in Franken eine barocke Synagoge, dann | |
schickt er ein Foto von der Synagoge aus Ichenhausen bei Ulm, dann postet | |
er einen [1][Vers von Paul Celan]. „Also / stehen noch Tempel. Ein / Stern | |
/ hat wohl noch Licht. / Nichts, / nichts ist verloren.“ Es klingt wie eine | |
Selbstermunterung. | |
## Kulturelle Erfolgsgeschichte | |
Heute hat ihn dieser Antrieb nach Sachsen-Anhalt geführt. Meteorologen | |
haben eine Hitzewarnung herausgegeben, es ist allerdings noch früh am Tag. | |
Der Landschaftspark von Wörlitz, seit dem Jahr 2000 [2][Unesco-Welterbe], | |
erstreckt sich auf über 100 Hektar und endet irgendwo hinter den | |
Baumreihen, wo im Dunst Heuballen liegen. Am östlichen Ende erhebt sich die | |
Synagoge. | |
Alex Jacobowitz geht um den Bau herum, deutet an der Pforte auf die Stelle, | |
wo die Mesusa befestigt war, eine Schriftkapsel, die an jeder Synagoge zu | |
finden ist und die stets schräg angebracht wird. Statt der Mesusa pappt ein | |
Zettel am Portal: „Synagoge geöffnet, Eintritt 1 €, Kinder haben freien | |
Eintritt.“ Jetzt allerdings ist alles noch zu. Bei einem früheren Besuch | |
hat Jacobowitz schon einen Blick hineingeworfen, wo eine Ausstellung von | |
der Geschichte der Juden in Anhalt erzählt. | |
Lange Zeit ist es eine Erfolgsgeschichte, die 1672 mit dem Ansiedlungsedikt | |
für Juden beginnt und den Kleinstaat zu wirtschaftlicher Blüte führt. Die | |
nahe Residenz Dessau wird zum Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Als Sohn | |
eines Toraschreibers wird dort 1729 Moses Mendelssohn geboren. Der | |
Philosoph und Freund des Dichters Gotthold Ephraim Lessing gilt als | |
Inspiration für dessen Figur von Nathan, dem Weisen. | |
Und am 2. März 1900 wird in Dessau in der Familie des Kantors Kurt Weill | |
geboren. 28 Jahre später wird er in Berlin zusammen mit Bert Brecht mit der | |
Dreigroschenoper einen der größten Erfolge der Theaterwelt feiern. 1933 | |
flieht Weill vor den Nazis zunächst nach Paris, später nach New York. Die | |
Dessauer Synagoge neben seinem Elternhaus geht am 9. November 1938 in | |
Flammen auf. | |
## Vor allem Nichtjuden unter den Architekten | |
Noch in diesem Jahr wird dort eine neue Synagoge eingeweiht, erzählt | |
Jacobowitz. Sie soll Weill-Synagoge heißen, ein runder Bau, der wirkt wie | |
eine Enkelin des Wörlitzer Tempels. Architekt ist Alfred Jacoby, im | |
Ehrenamt Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Offenbach. Jacoby hat schon in | |
Aachen, Speyer und Chemnitz Synagogen gebaut, sein Kollege [3][Daniel | |
Libeskind plant in München eine Synagoge]. | |
Dass Juden für Juden bauen, ist neu, sagt Jacobowitz. Lange war ihnen ein | |
Architekturstudium verwehrt. „Die alten Synagogen wurden überwiegend von | |
Nichtjuden gebaut.“ Den „Juden-Tempel“ von Wörlitz entwarf Friedrich | |
Wilhelm von Erdmannsdorff, der Hausarchitekt des aufgeklärten Fürsten | |
Leopold Friedrich Franz. | |
Man könnte meinen, Alex Jacobowitz wäre ein Architekturkritiker. Weit | |
gefehlt. Er ist Musiker. Auf dem Marimbaphon, einem Xylophon ähnlich, hat | |
er es zur Meisterschaft gebracht. Jacobowitz konzertiert in Amsterdam, | |
Budapest, Berlin. Und nebenbei ist er Vorsitzender der kleinen Jüdischen | |
Gemeinde Görlitz, eines eingetragenen Vereins, keiner Körperschaft des | |
öffentlichen Rechts. In der Stadt an der Neiße wurde 2021 die Synagoge | |
wiedereröffnet. | |
Mit dieser Synagoge beginnt auch Jacobowitz’ Karriere als Autor. Weil noch | |
kein entsprechendes Werk vorlag, hat er [4][ein Buch über die Synagoge] | |
verfasst, mit Dokumenten und Fotos bebildert, verlegt bei Hentrich & | |
Hentrich, einem Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte. Die „100 | |
Synagogen“ sind Jacobowitz’ dritte Publikation. | |
## Vielfältig, umfangreich – vergessen? | |
Für den Verlag ist es der erste „deutschlandweite Synagogenführer“, für | |
Jacobowitz die Chance, die Vielfalt des jüdischen Lebens darzustellen, | |
unterteilt in etwa zwei Drittel aktive und ein Drittel ehemalige Synagogen. | |
Es soll einen Querschnitt ergeben, was die Baustile angeht, was den soziale | |
Hintergrund ebenso angeht, was ihr Schicksal; von den Landsynagogen in | |
Hessen bis zu den Tempeln der Großstadt. | |
Es ist eine Vielfalt, die Jacobowitz selbst immer wieder überrascht – | |
überrascht, wie umfangreich sie noch ist, und überrascht, wie schnell | |
vieles in Vergessenheit geriet, so wie die Synagoge hier, die über | |
Jahrzehnte nur sehr vage in Parkplänen als „Vesta-Tempel“ auftauchte. | |
Aus dem Musiker, der sich vor über zwanzig Jahren in Deutschland | |
niedergelassen hat, ist ein Autor geworden. Dass er orthodoxer Jude ist, | |
dass er sich in Jerusalem hat religiös ausbilden lassen, wird den Lesern | |
nicht verborgen bleiben. „Ich bin nicht als Fotograf unterwegs“, stellt | |
Jacobowitz klar. „Meine religiösen Gefühle lasse ich nicht zu Hause.“ | |
Es ist wohl auch eine Mission, die ihn treibt. „Mein Haus wird ein Haus für | |
alle Völker sein!“, zitiert er den Propheten Jesaja, einen Vers, der über | |
vielen Synagogentüren prangte. Kann es eine größere Einladung geben? „Hier | |
entdeckst du etwas über dich. Hier kannst du mit Gott reden“, sagt | |
Jacobowitz. Synagogen sind nicht nur für Juden da. Diese hier gehört wie | |
der Park zur Region. „Die Menschen, die hier gebetet haben, waren nicht nur | |
Juden, sie waren auch Wörlitzer und Dessauer.“ | |
Jacobowitz ist die Vortreppe hinaufgestiegen, bückt sich zu einer | |
Sandsteintafel im Mauerwerk. „L.F.F. H.Z.A. 1789“ – die Buchstabenfolge i… | |
schnell gelöst: „Leopold Friedrich Franz – Herzog zu Anhalt, der Landesherr | |
von Anhalt-Dessau, ließ die Synagoge 1789 errichten. Der Park war das | |
Herzstück des Arkadiens, zu dem Leopold Friedrich Franz III. seinen | |
Kleinstaat umgestalten wollte. | |
## Ein Einzelner wehrt die Brandstifter ab | |
Der Fürst ließ die Synagoge für die etwa 130 Wörlitzer Juden auf eigene | |
Kosten bauen und war trotz Aufklärung noch Aristokrat genug, der Nachwelt | |
dieses Zeugnis der Urheberschaft zu hinterlassen. „Gott hat das nicht | |
nötig“, sagt Jacobowitz trocken. | |
Und dann hat der Mann, der 1960 in New York geboren wurde, noch einen | |
anderen, gleichermaßen göttlichen wie republikanischen Gedanken. „1789 – | |
das ist das Jahr, in der die amerikanische Verfassung verabschiedet wird: | |
All men are created equal – alle Menschen sind von Geburt gleich.“ | |
Dass die Synagoge nicht angezündet wurde, ist dem damaligen Gartendirektor | |
zu verdanken. „Ein einziger Mensch hat das verhindert“, sagt Jacobowitz. | |
Als am 9. November 1938 zwei Brandstifter in der Synagoge verschwinden, | |
versperrt der Direktor kurzerhand die Tür. Um nicht selbst zu verbrennen, | |
lassen die beiden von ihrem Plan ab und fliehen. | |
Der Gartenchef wird zur Strafe pensioniert, die Synagoge übersteht die | |
Nazizeit. Nach 1945 kehrt der Direktor in sein Amt zurück, sein Name – | |
Hans Hallervorden. Sein Enkel ist der Schauspieler und Theaterleiter Dieter | |
Hallervorden. | |
## Orte für Musik | |
Warum ein Buch über Synagogen? „Es gibt kein Buch“, sagt Jacobowitz. „Es | |
gibt welche über die Synagogen, die zerstört wurden. Es gibt Bücher über | |
Architektur, wo Architekten für Architekten schreiben.“ Aber sonst? „Es | |
gibt insgesamt etwa 900 Gebäude, die man als Synagoge einstufen könnte.“ | |
Jacobowitz sitzt hinterm Lenkrad. Es geht durch die anhaltische Provinz, | |
vorbei an Kirchtürmen und Getreidesilos. Irgendwann lotst ihn das Navi über | |
das Betonband eines Ackerwegs. „Ich suche als Musiker authentische Orte für | |
meine Musik.“ | |
Auf seinem Marimbaphon präsentiert Jacobowitz Kompositionen sephardischer | |
Juden, Klezmer, Musik jüdischer Komponisten. Um die Ohren zu öffnen, | |
beginnt er gern mit Bach. Auf diese Weise hat er schon so manche ehemalige | |
Synagoge mit Leben gefüllt. | |
Für Jacobowitz gibt es sowieso keine ehemaligen Synagogen. „Es gibt nur | |
quasi ehemalige Synagogen.“ Es sind die viele Synagogen, die vor 1938 | |
verkauft wurden, weil sie zu klein geworden waren. Oder, im Gegenteil, die | |
Synagogen nicht mehr gebraucht wurden, weil sich die Gemeinden auflösten. | |
Doch solange ein Gebäude nicht vollkommen umgebaut wurde, bleibe es für ihn | |
eine Synagoge. So zu reden, kann etwas Anmaßendes haben. Oder etwas | |
Prophetisches. Nicht, dass überall wieder jüdische Gemeinden entstünden. | |
Doch wer weiß? Glaube speist sich auch aus Quellen, die für Außenstehende | |
absurd sind, irrational. „Synagoge – das ist ein Prozess“, fasst Jacobowi… | |
zusammen. Und Prozesse sind nie abgeschlossen. | |
## Gröbzigs jüdischer Bürgermeister | |
Gröbzig ist ein gutes Beispiel. Jacobowitz hatte das Städtchen zwanzig | |
Kilometer nördlich von Halle mit den Worten angekündigt: „Herrlich, mitten | |
auf dem Lande, zweitausend Einwohner mit einer Synagoge!“ Über den Hof | |
kommt Anett Gottschalk gelaufen. Sie ist die Chefin des Museums, das aus | |
Synagoge, Kantorhaus, Schule, einer Remise und dem Friedhof vor der Stadt | |
besteht. | |
Gröbzig war wie Wörlitz Teil von Anhalt-Dessau und für Juden ein | |
attraktiver Ort. Hier am Rande des Kleinstaates ließen sie sich nieder, | |
unter ihnen viele Kaufleute, damit sie im sächsischen Leipzig oder im | |
preußischen Halle ihren Geschäften nachgehen konnten, um danach möglichst | |
schnell wieder ins liberalere Anhalt-Dessau heimzukehren. Im Jahr 1770 gab | |
es 38 jüdische Familien, 15 Prozent der Einwohner. Die jüdische Gemeinde | |
wuchs, Gröbzig blühte auf. Der Stadt brachte es den Beinamen „Judengröbzig… | |
ein. Im Jahr 1868 wurde ein Gröbziger Jude zum Bürgermeister gewählt. | |
Allerdings war die jüdische Gemeinde schon vor 1933 weitgehend erloschen, | |
erzählt Anett Gottschalk. Es war die Folge der Gleichstellung von Juden im | |
Deutschen Reich. Die junge Generation suchte ihr Glück fortan in den großen | |
Städten, zurück blieben die Alten. 1934 war ihre Zahl so klein geworden, | |
dass die Gemeinde die Synagoge der Stadt übergab, verbunden mit der | |
Auflage, das Haus für die nächsten fünfzig Jahre nicht zu verändern. Es | |
wurde Heimatmuseum und blieb in der Pogromnacht 1938 verschont. | |
Anders als die zehn Alten, von denen keiner überlebt. Die letzte Jüdin, | |
Rosalie Meyerstein, wurde am 13. September 1940 ins KZ Theresienstadt | |
deportiert. Am 1. Oktober 1940 verkündete der Bürgermeister: „Gröbzig ist | |
nun judenfrei.“ | |
## Sie wird kommen | |
Gottschalk schließt die Synagoge auf. Ein tiefblauer Himmel mit goldenen | |
Sternen wölbt sich über den Saal. Wie ein Wohnzimmer wirkt der Raum mit | |
seinem Gewölbe und dem Kronleuchter, dazu farbige Fenster, die | |
Frauenempore. Auf einem Tisch liegt eine Tora, es scheint, als hätte die | |
Gemeinde erst neulich Schabbat gefeiert. | |
Es war die DDR, die das Heimatmuseum verlegen ließ und die sanierte | |
Synagoge 1988, zum fünfzigsten Jahrestag der Pogromnacht, als Museum | |
wiedereröffnete. Jahrelang hatte der SED-Staat kaum Interesse am jüdischen | |
Erbe. In den achtziger Jahren suchte die klamme DDR nach Kontakten ins | |
Weiße Haus. Juden sollten Erich Honecker die Tür öffnen. | |
Jacobowitz wirft einen prüfenden Blick auf die Torarolle. 104.000 | |
Buchstaben müsse sie haben, sagt er, alle korrekt geschrieben. Diese sei | |
nicht mehr unversehrt, sagt Anett Gottschalk. „Die Tora ist nicht mehr | |
koscher“, urteilt Jacobowitz. Sollte hier wieder ein Gottesdienst gefeiert | |
werden, braucht es dafür eine intakte, koschere Tora. Sie wird kommen. | |
Zwar wird das Museum, das von einem Verein getragen wird, noch umgebaut, | |
eine neue Ausstellung wird konzipiert. Die Museumsarbeit aber läuft weiter, | |
es gibt Programme für Schulklassen, Führungen. Die Wiedereröffnung ist für | |
Ende 2024 geplant. Doch schon im Dezember 2023 soll es wieder einen | |
Gottesdienst geben, mit Jugendlichen von jüdischen Gemeinden aus Sachsen | |
und Sachsen-Anhalt. | |
## Die Tür von Halle | |
„Man muss nicht mehr rückwärts schauen, man muss vorwärts denken“, bemer… | |
Jacobowitz. Er parkt in der Humboldtstraße in Halle, an der Einfahrt steht | |
ein Streifenwagen. Gegenüber dem Eingang zum jüdischen Friedhof, wo sich | |
heute die Synagoge befindet, ist in einem Container eine mobile Wache | |
eingerichtet. Da, wo sich jüdisches Leben regt, ist es in Deutschland immer | |
bedroht. Jede Synagoge kann davon erzählen, die von Halle besonders | |
nachdrücklich. | |
Am 9. Oktober 2019, am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, wollte | |
ein Rechtsterrorist [5][ein Blutbad an Juden] verüben, mehr als fünfzig | |
hatten sich in der Synagoge von Halle versammelt. Gescheitert ist der | |
Massenmord an der Holztür, die auf das Friedhofsgelände führt, wo sich die | |
Synagoge befindet. Der Attentäter traktierte sie mit Sprengstoff und | |
Schüssen, die Tür jedoch hielt stand. | |
In seinem Hass tötete der Angreifer stattdessen eine Passantin und den Gast | |
in einem Döner-Imbiss und verletzte weitere, bevor er nach einer langen | |
Verfolgung überwältigt wurde. Seitdem ist die Synagoge ein | |
Hochsicherheitstrakt. | |
Max Privorotzki, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, hat für heute | |
abgewinkt. Zu viel zu tun, zu wenig Leute, gerade im Sommer. Jacobowitz | |
drückt trotzdem die Klingel, doch die Synagoge bleibt verschlossen. Zu | |
sehen sind hinter der Mauer nur die Türmchen der Synagoge, die ursprünglich | |
als Trauerhalle der jüdischen Gemeinde diente. | |
## Die Welt reparieren | |
Nachdem die große Synagoge im Stadtzentrum 1938 in Flammen aufgegangen war, | |
richtete sich die verbliebene Gemeinde nach 1945 hier ein. Die Eichentür, | |
die Leben rettete, ist auf dem Friedhofsgelände in ein Mahnmal | |
eingearbeitet. Jacobowitz hat die Synagoge schon vor einigen Tagen | |
fotografiert. Jetzt knipst er nur kurz mit dem Handy. Sein | |
unerschütterlicher Optimismus ist für einen Augenblick erloschen. | |
„Es ist unmöglich, in Deutschland eine Synagoge zu bauen ohne Sicherheit“, | |
sagt er. Das war schon vor zweihundert Jahren so, als Synagogen auf | |
Hinterhöfen errichtet wurden, damit sie vor Angriffen besser geschützt | |
sind. Im Zuge der Emanzipation wurden Synagogen erst im 19. Jahrhundert zu | |
Repräsentativbauten. Und heute wird hier jeder Schritt behördlich beäugt. | |
Jacobowitz geht an der Friedhofsmauer entlang. In den Durchgang ist eine | |
neue Tür eingebaut. „Tikun olam“, sagt er. Tikun olam? „Das ist Hebräis… | |
und bedeutet die Reparatur der Welt.“ Es ist ein Glaubenssatz, ein Prinzip. | |
Er erzählt: Es ist die Gewissheit, dass man alles reparieren kann, eine | |
Tür, eine Synagoge. „Und wenn die Synagoge repariert werden kann, dann kann | |
auch die ganze Welt repariert werden.“ Die Welt kann besser werden. | |
„Wie wäre es, einen Zentralrat der Synagogen zu schaffen,“ fragt | |
Jacobowitz. Synagogen sind wie Persönlichkeiten, Individuen, die im | |
Gegensatz zu Menschen nicht weglaufen können. Warum sie also nicht wie | |
Menschen würdigen? | |
## Schön? Wichtig! | |
Die Leipziger Synagoge steht eher unauffällig zwischen Nachbarhäusern. Das | |
hat sie 1938 vor Brandstiftung bewahrt. Auf der Keilstraße packt Alex | |
Jacobowitz seine Ausrüstung aus. Jakow Kerzhner, der Geschäftsführer der | |
Gemeinde, erwartet ihn. Der Maler und Grafiker, der 1978 in Kiew geboren | |
wurde, hat neben der Synagoge eine kleine Galerie. Kerzhner schließt die | |
Synagoge auf. Im Saal hängen große Monitore, die alles zeigen, was auf der | |
Keilstraße vor sich geht. | |
Jacobowitz interessiert sich heute nicht für den Betsaal, sondern für die | |
Mikwe, jenes Bad zur rituellen Reinigung, das für jüdische Gemeinden | |
unverzichtbar ist. „Ist es in der Mikwe hell genug“, fragt Jacobowitz. „J… | |
da ist Licht“, antwortet Kerzhner. „Kann ich sie fotografieren?“ – „W… | |
du sie schön findest.“ Kerzhner klingt nicht begeistert. „Schön?“, fragt | |
Jacobowitz ungläubig. Als ob es darum ginge. Es geht doch um viel mehr. | |
Jacobowitz ruft: „Es ist wichtig!“ | |
4 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.lyrikline.org/de/gedichte/engfuehrung-159 | |
[2] https://www.unesco.de/kultur-und-natur/welterbe/welterbe-deutschland/garten… | |
[3] /Entwurf-fuer-eine-neue-Synagoge/!5702936 | |
[4] https://www.hentrichhentrich.de/autor-alex-jacobowitz.html | |
[5] /Das-Attentat-von-Halle/!5628896 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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