# taz.de -- Bildatlas der Deportation im Netz: Unter aller Augen | |
> Deutsche Gedenkstätten haben einen Bildatlas der Deportation aus dem | |
> Deutschen Reich erarbeitet. Er zeigt mehr über die Verfolgten und die | |
> Täter. | |
Bild: Das Baby Judis wird aus München deportieret. Nach Ankunft in Kaunas wurd… | |
Zu sehen ist eine nächtliche Szene. Erwachsene und Kinder verlassen oder | |
besteigen ein Fahrzeug, so genau ist das nicht zu erkennen. Manche | |
Erwachsene haben Babys im Arm. Es muss recht kühl sein, denn die | |
Erwachsenen tragen Mäntel, die Männer zudem einen Hut. Links oben sieht man | |
ein Kind mit seinem Teddybären. Am unteren Bildrand ist ein Mann erkennbar, | |
der ein Kleinkind hochhebt, links von ihm steht eine Frau, deren Profil | |
deutlich erkennbar ist. | |
Das Foto zeigt die erste große Deportation Münchner Jüdinnen und Juden am | |
Güterbahnhof Milbertshofen im Norden der bayerischen Landeshauptstadt. Es | |
entstand am 20. November 1941. Etwa eintausend Menschen mussten einen Zug | |
besteigen, der sie ins litauische Kaunas brachte. Dort wurden sie alle, | |
gleichgültig ob Frauen, Kinder oder Männer, kurz nach ihrer Ankunft | |
erschossen. | |
Eva Tyrell und Maximilian Strnad vom Münchner Kulturreferat haben über | |
dieses und weitere Fotos aus Milbertshofen noch viel mehr herausgefunden. | |
Die Frau unten links hieß Gertrud Cahn, geboren 1921. Das von dem Mann | |
neben ihr in die Höhe gehobene Baby war ihr Kind Judis Cahn. Es wurde | |
gerade einmal ein Jahr alt. Eine Frau mit Kopftuch konnte als Pflegerin des | |
Münchner jüdischen Antonienheims identifiziert werden, in dem 1941 viele | |
Kinder, darunter auch Waisen, untergebracht waren. Vielleicht war es | |
Johanna Roth. | |
## Tiefenanalyse mit modernsten Methoden | |
Alle diese und noch viel mehr Informationen finden sich in in einem | |
virtuellen Bildatlas, der nun von jedermann angeklickt werden kann: | |
[1][#lastseen] heißt das [2][Projekt. Man kann durch die Bilder] gehen, | |
nach Orten oder Personen suchen, Opfer und Täter identifizieren oder, so | |
bekannt, den Namen des Fotografen erfahren. | |
Das bundesweite Projekt, getragen von Gedenkstätten und anderen | |
Institutionen und finanziert vom Bund, hat über 18 Monate hinweg Fotos von | |
den Deportationen der Nazis gesammelt, gesichtet und in einer | |
Tiefenanalyse mithilfe modernster Methoden untersucht. Das Ergebnis und die | |
Methoden sind in der vergangenen Woche auf einer internationalen Konferenz | |
vorgestellt worden. | |
Die Fotos, von denen viele schon lange bekannt waren, andere aber erst in | |
jüngster Zeit entdeckt wurden, entfalten nun eine ganz neue | |
Betrachtungsmöglichkeit. Sie geben den anonymen Opfern wieder einen Namen. | |
Sie klären auf, wer da als Täter fungierte. Sie zeigen, dass viele der | |
Deportationen in aller Öffentlichkeit stattfanden, mit gaffendem Publikum | |
am Rande, bisweilen gar mitten unter den Verschleppten. | |
Es sind Beweisaufnahmen. Und es handelt sich um die letzten Abbildungen von | |
Menschen, bevor sie in den Tod gehen mussten. Sie bringen ein Geschehen | |
näher, dem in Anbetracht des Aussterbens der [3][letzten Zeitzeugen das | |
langsame Vergessen droht] – oder die böswillige Uminterpretation mithilfe | |
von Fälschungen. Es sind keine Sensationen, die sich daraus ergeben, keine | |
Geschichte muss neu geschrieben werden. | |
## Passanten schauen zu | |
Aber #lastseen ermöglicht es dem Betrachter, viel näher an das grauenhafte | |
Geschehen vor rund 80 Jahren heranzutreten, als dies bisher möglich war – | |
und dies bisweilen in der eigenen Stadt. Das Projekt zeigt Fotos aus 32 | |
deutschen Orten von Asperg bis Würzburg. | |
Eine Bildserie aus Eisenach zeigt 58 Menschen, die am helllichten Tag eng | |
beieinander durch die Straßen der Stadt beladen mit Gepäck ziehen, bewacht | |
offenbar nur von einigen Kriminalpolizisten. Passanten schauen zu, darunter | |
Schulkinder. | |
Angekommen am Hauptbahnhof mischt sich die Gruppe mit ganz normalen | |
Reisenden, bevor sie den Bahnsteig betreten und in alte Waggons der 3. | |
Klasse steigen. Ein regulärer Zug wird sie an diesem 9. Mai 1942 nach | |
Weimar bringen – und von dort weiter ins besetzte Polen, nach Majdanek und | |
in weitere Vernichtungslager. | |
Diese Bilder des Stadtarchivs Eisenach waren schon lange bekannt. Andere | |
sind erst jüngst aufgefunden worden, so wie das Foto der Deportation aus | |
dem badischen Weingarten, das einem örtlichen Heimatverein in die Hände | |
fiel. Es zeigt zwei Lastwagen vor dem Rathaus und eine Gruppe Wartender, | |
bewacht von Uniformierten, und entstand am 22. Oktober 1940. | |
## Deportationen als „kleinstädtische Sensationen“ | |
Überhaupt überwiegen die Bilder aus kleineren Orten, aus Berlin oder | |
Hamburg konnte bis heute kein einziges Deportationsfoto entdeckt werden. | |
Akim Jah von den Arolsen Archives erklärt, warum das so ist: „Deportationen | |
waren kleinstädtische Sensationen.“ | |
Hier gab es keine Stapoleitstelle, stattdessen halfen Mitarbeiter vom | |
Rathaus und vom Landratsamt aus, ganz zu schweigen von | |
Ordnungspolizisten, Lkw-Besitzern und Eisenbahnbediensteten. Fotografieren | |
war dabei zwar nicht ausdrücklich verboten, aber jedem Zeitgenossen war | |
doch klar, dass man da vorsichtig sein musste. | |
Das erklärt, warum manche der Bilder verwackelt sind und offenbar aus der | |
Hüfte geschossen wurden, so wie diejenigen aus Bingen, wo der Fotograf Karl | |
Kühn eine Drogerie mit Fotobedarf betrieb und selbst alle vermeintlichen | |
Sensationen in der Kleinstadt auf dem Film verewigte. Eines seiner Fotos | |
vom 20. März 1942 zeigt, wie Juden während ihrer Deportation auf einer | |
Straße der Kleinstadt laufen. Ein Mann zieht die Deichsel eines mit Gepäck | |
schwer beladenen Leiterwagens, eine Frau drückt von hinten nach. | |
Das Bild ist unscharf, aber der Fotograf hat sich doch erstaunlich nahe an | |
die Szenerie herangewagt. Der Sohn des Fotografen, der damals als Kind | |
dabei war, hat erzählt, dass sein Vater nicht die teure Leica, sondern eine | |
billigere Kamera mitgenommen hatte, offenbar um den Schaden bei einer | |
Beschlagnahme des Geräts zu begrenzen. | |
## Die Austreibung begleiten | |
Ganz anders dagegen die Bildserie aus Bielefeld: Gestochen scharf sind die | |
Fotos von Georg Hübner, einem Profi, der die Austreibung der Jüdinnen und | |
Juden aus der Stadt bis zum Bahnhof auftragsgemäß begleitet. Freundlich | |
schaut der Lokführer einer Rangierlokomotive in die Kamera. | |
Lisa Paduch hat untersucht, wer diese Fotografen waren. Die 37 Bildserien, | |
die #lastseen veröffentlich hat, wurden von 34 Personen aufgenommen. Die | |
meisten von ihnen handelten in höherem Auftrag, etwa der Gestapo, des | |
Landratsamts oder eines Stadtarchivs. | |
Deshalb wirken viele der Fotos erstaunlich professionell, auch wenn nicht | |
alle der Bildberichterstatter Profis waren – es gab unter ihnen Polizisten, | |
Eisenbahner, einen Pfarrer. Bei etwa der Hälfte der Bilder konnte der | |
Fotograf identifiziert werden. Drei von ihnen waren Tatbeteiligte, nur eine | |
Serie hat eine Frau gemacht. | |
Die wenigsten Fotos stammen von den Verfolgten selbst, einige von | |
Zuschauern des Geschehens. Es handelt sich also größtenteils um Dokumente | |
der Zustimmung der Austreibung der Minderheit. Das erklärt, warum Szenen | |
von Brutalität, von Schlägen oder Schubsen, nicht zu sehen sind. Die Wachen | |
halten gebührenden Abstand von den zu Ermordenden, nur in einem Fall aus | |
Lörrach erkennt man, wie ein Polizist einem Juden an den Rücken fasst – im | |
Bemühen, das Einsteigen auf den bereitgestellten Lastwagen zu | |
beschleunigen. | |
## Das sind Täterbilder | |
Es sind Täterbilder, die die damalige Wirklichkeit im Sinne der | |
Herrschenden darstellen – auch wenn keines dieser Fotos jemals von der | |
NS-geleiteten Presse veröffentlicht worden ist. Denn anders als noch zu | |
Beginn des Regimes, als sogar illustrierte Reportagen aus | |
Konzentrationslagern erschienen, waren die Deportationen in den Osten | |
nichts, was die Nazis breitzutreten wünschten. | |
Schon vor vielen Jahren hat sich Klaus Hesse von der Berliner „Topographie | |
des Terrors“ bei 1.500 lokalen Archiven in der Bundesrepublik nach Bildern | |
erkundigt, die die Gewalt der Nazis im öffentlichen Raum zeigen. Es gab | |
damals immerhin 1.238 Antworten, berichtet er auf der Tagung. Doch ganz | |
gewiss schlummern weiterhin hunderte Fotos dieser Art in den hintersten | |
Ecken von Archiven und unter der privaten Erbmasse, die von Generation zu | |
Generation weitergetragen wird – so wie das Foto aus Weingarten. | |
20 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] http://lastseen.org | |
[2] https://www.lastseen.org/ | |
[3] /Jugendliche-und-Erinnerungskultur/!5914234 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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