| # taz.de -- Nachruf auf Auschwitz-Überlebenden: Die zwei Leben des Justin Sond… | |
| > Justin Sonder sagte, er sei zweimal geboren worden. Einmal 1925 in | |
| > Chemnitz und dann 1945 in Bayern, wo er von der US-Armee befreit worden | |
| > ist. | |
| Bild: Justin Sonder 2016 in Detmold, wo ein Prozess gegen einen früheren SS-Wa… | |
| Wetterfeld liegt in der bayerischen Oberpfalz, nicht allzu weit von der | |
| tschechischen Grenze entfernt. Das kleine Dorf befindet sich direkt an der | |
| vierspurig ausgebauten Bundesstraße 85. Es gibt dort eigentlich nichts | |
| Besonderes zu sehen. Etwas abseits, nahe einer bewaldeten Anhöhe, steht ein | |
| großes Kreuz. Daneben befinden sich drei geschnitzte hölzerne Tafeln, eine | |
| trägt ein lateinisches Kreuz, die andere ein russisches. Auf der dritten | |
| Tafel ist ein Davidstern abgebildet. Darunter steht geschrieben: „Im | |
| Landkreis Roding beim Todesmarsch von Flossenbürg nach Wetterfeld im April | |
| 1945.“ | |
| Es ist dies der Ort, von dem Justin Sonder sagte, er sei hier zum zweiten | |
| Mal geboren worden, am 23. April 1945. Der damals 19-Jährige befand sich | |
| seit Tagen zusammen mit mehr als 3.000 Gefangenen auf einem Gewaltmarsch in | |
| Richtung Süden, vom KZ Flossenbürg in Richtung Dachau, bewacht von | |
| SS-Männern. Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde erschossen. | |
| In Wetterfeld endete dieser Todesmarsch für Sonder wie für viele andere | |
| Häftlinge. Stunden zuvor hatte die SS noch etwa 50 geschwächte Gefangene in | |
| einem nahen Waldstück erschossen. Dann verschwanden die SS-Männer, es | |
| erschienen die Panzer der US-Army. Justin Sonder war frei, nach vier Jahren | |
| [1][Zwangsarbeit, Haft und Todesangst]. | |
| Ein Leidensgenosse schlug Sonder damals vor, zusammen mit ihm nach | |
| Frankreich auszuwandern, denn in Deutschland könne man nicht mehr leben. | |
| Sonder lehnte das Angebot ab. Ihn zog es zurück in seine Heimatstadt, nach | |
| Chemnitz in Sachsen. Auf dem Weg dorthin traf er durch puren Zufall im | |
| bayerischen Hof seinen Vater Leo, der ebenfalls die Verfolgung überlebt | |
| hatte. Seine Mutter sah er nie wieder: Cäcilie Sonder wurde von den Nazis | |
| ermordet, so wie 21 weitere Familienmitglieder. | |
| ## Jüdisches Leiden und die DDR | |
| Zwanzig Jahre lang hat Justin Sonder über seine Zeit in den | |
| Konzentrationslagern, die Zwangsarbeit und den Todesmarsch nicht | |
| gesprochen. Er arbeitete zuerst als Schutzmann bei der Polizei, dann als | |
| Wachtmeister und begann schließlich eine Karriere bei der Chemnitzer Kripo. | |
| Er traf seine spätere Frau, heiratete, aus der Ehe gingen drei Kinder | |
| hervor. Ein neues Leben, mit FDJ-Mitgliedschaft und SED-Parteibuch begann, | |
| „für einen besseren Staat“, aber ohne Verbindungen zur Stasi, wie er in | |
| einem Gespräch mit dem Autor einmal betonte. | |
| Mit denen habe er nichts zu tun haben wollen im heimatlichen Chemnitz, das | |
| 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde. Sein bedeutendster Fall? „Das war | |
| die Aufklärung eines Mordes an einer Lehrerin. Sie war erdrosselt worden.“ | |
| Nach etwa 35 Stunden der Vernehmung, um 4.15 Uhr am Morgen, gestand der | |
| Täter. | |
| Sonders zweites Leben war eines auf der Seite des Staats und nahe den | |
| Kommunisten, denen er so viel zu verdanken hatte, damals in Auschwitz. Doch | |
| über dieses Kapitel seines Lebens schwieg Sonder lange. Jüdisches Leiden | |
| war im antifaschistischen Staat, wie sich die DDR nannte, nicht allzu hoch | |
| geschätzt, jedenfalls im Vergleich zum kommunistischen Widerstand. | |
| Doch die Vergangenheit kehrte zurück. Im September 1987 stand in Dresden | |
| der frühere örtliche Gestapochef Henry Schmidt vor Gericht, der unter | |
| anderem für Judendeportationen aus Dresden verantwortlich gewesen war. | |
| Einer der Zeugen in diesem Prozess trug den Namen Justin Sonder. | |
| ## Späte Anerkennung | |
| Erst nach der Wende in der DDR aber kam wirkliches Interesse für das erste | |
| Leben von Justin Sonder auf. Als [2][Zeitzeuge] wurde er von Schulen | |
| eingeladen, um über seine Verfolgung zu berichten. Über 500 Auftritte | |
| sammelten sich an, bei denen der alte Mann versuchte, den Kindern und | |
| Jugendlichen deutlich zu machen, welche Verbrecher bis 1945 an der Macht | |
| gewesen waren – und wie wichtig es sei, gegen Neonazis aufzustehen. Diese | |
| Auftritte waren für den zurückhaltenden und freundlichen Mann, der so gar | |
| nicht dem Fernsehbild eines Kriminalkommissars entsprach, auch eine späte | |
| Anerkennung. | |
| Sonder hatte einiges zu berichten bei seinen Schulbesuchen und Auftritten | |
| vor Gericht. Schon 1941 musste der Kochlehrling in einem Rüstungsbetrieb | |
| als Zwangsarbeiter schuften. Der Familie wurde die Wohnung genommen, sie | |
| mussten in einem einzigen Raum in einem der Chemnitzer „Judenhäuser“ | |
| unterkommen. „Im Mai 1942 wurden meine Eltern abgeholt und ins | |
| Konzentrationslager gebracht. Von da an war ich auf mich selbst gestellt“, | |
| erzählte er. | |
| Am 27. Februar 1943, dem Tag der „Fabrikaktion“, als die Gestapo die | |
| jüdischen Zwangsarbeiter reichsweit festnahm, kam Justin Sonder zuerst in | |
| das Judenlager Hellerberg bei Dresden und wurde von dort nach Auschwitz | |
| deportiert. Er kam ins Lager Auschwitz III Monowitz, Block 10. | |
| 63 Jahre später, bei dem Prozess gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning in | |
| Detmold 2015 bis 2016, erinnerte sich ein weißhaariger Mann mit | |
| Schiebermütze auf dem Kopf an die Selektion beim Eintritt in das Lager | |
| Auschwitz. Die SS-Männer hätten nach Alter und Beruf gefragt. „Ich habe | |
| mitbekommen, dass, wenn einer sagte, er sei Gärtner, er nach rechts | |
| geschickt wurde. Bei einem Maurer nach links. Ich ging vor: ‚17 Jahre, | |
| Monteur.‘“ Sonder wurde nach links geschickt und durfte weiterleben, als | |
| Arbeitssklave, Häftlingsnummer 105027. Sechzehn weitere Selektionen sollten | |
| folgen. | |
| ## Widerstand im Konzentrationslager | |
| In Monowitz erlebte Justin Sonder aber auch, was Solidarität bedeutete. Ein | |
| Arzt, selbst Häftling, rettete ihn vor der Ermordung, als er arbeitsunfähig | |
| zu werden drohte. „Ich ging ins Krankenrevier zum SS-Arzt Dr. Fischer. Der | |
| malte mir mit Jod ein Hakenkreuz auf eins meiner Knie und sagte: ‚Geh in | |
| Block sowieso, wahrscheinlich musst du operiert werden‘ Dort haben sie mein | |
| Knie geöffnet, ohne Narkose. Vier Häftlinge hielten mich fest, einer | |
| stopfte mir ein Stück Stoff in den Mund, damit ich nicht schreien konnte. | |
| Am nächsten Morgen: Selektion. Ich bin angehalten worden, das war schlecht. | |
| Dann kam die Handbewegung, das war noch schlechter. Dann wurden die Nummern | |
| aufgerufen. Meine war nicht dabei! Der Häftlingsarzt hatte mit der SS | |
| gesprochen und mich gerettet.“ | |
| Eine kommunistische Widerstandsgruppe unter den Gefangenen nahm sich des | |
| Jungen an. Sonders einzige Aktion: Er verhinderte die Entladung von | |
| Granulat von einem Lkw. Eine nur scheinbar banale Angelegenheit: Denn wäre | |
| Sonder dabei entdeckt worden, hätte es ihn das Leben gekostet. Es war ein | |
| Akt des Widerstands unter den Bedingungen eines Konzentrationslagers. | |
| Als sich die sowjetischen Truppen Anfang 1945 Auschwitz näherten, gehörte | |
| Justin Sonder zu den Tausenden Häftlingen, die auf einem Todesmarsch bei | |
| eisiger Kälte nach Gleiwitz geschickt wurden. Von dort ging es in offenen | |
| Kohlenwaggons der Reichsbahn Hunderte Kilometer weiter bis ins KZ | |
| Flossenbürg in der Oberpfalz. | |
| Justin Sonder hat diese Geschichten immer wieder erzählt, ohne müde zu | |
| werden. Inzwischen Ehrenbürger seiner Heimatstadt, ging es ihm dabei ganz | |
| besonders darum, junge Menschen vor den Sprüchen von Neonazis und Rechten | |
| zu warnen. | |
| Am 3. November ist Justin Sonder in Chemnitz verstorben. An diesem Mittwoch | |
| wird er beerdigt. | |
| Wenn Sie einmal nach Wetterfeld kommen sollten, dann biegen Sie doch in | |
| Richtung des kleinen Hügels ab, dorthin, wo das Kreuz und die drei | |
| geschnitzten Gedenktafeln stehen. Sie erinnern daran, dass nur einige | |
| Hundert Meter entfernt im Frühjahr 1945 597 auf dem Todesmarsch vom KZ | |
| Flossenbürg ermordete Gefangene eilig verscharrt worden sind, darunter die | |
| 50, die die SS im nahen Wald erschoss. Sie hatten nicht das Glück von | |
| Justin Sonder, der dem Tod entkam und 95 Jahre alt geworden ist. | |
| 9 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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