| # taz.de -- NS-Verfahren in Detmold: Der Zeuge von Auschwitz | |
| > Der Angeklagte, ein ehemaliger SS-Wachmann, ist jetzt 94. Macht ein | |
| > Prozess heute noch Sinn? Der Nebenkläger Justin Sonder findet: ja. Eine | |
| > Begegnung. | |
| Bild: Solange sein Kräfte reichen, will er Zeugnis ablegen: Justin Sonder betr… | |
| Detmold taz | Es ist zehn Minuten vor zehn Uhr, da betritt ein kleiner | |
| zierlicher Mann mit weißem Haar den zum Gerichtssaal umfunktionierten Raum | |
| in der Industrie- und Handelskammer von Detmold. Die verglasten Seitenwände | |
| geben den Blick frei auf einen schönen Wintermorgen. | |
| Justin Sonder ist in Begleitung seines Rechtsanwalts gekommen, mit kleinen | |
| Schritten geht er zu seinem Platz rechts außen. Er ist 90 Jahre alt, ein | |
| Mann mit tiefen Falten im runden Gesicht und verschmitzten Augen, der zur | |
| schwarzen Hose ein graues Jackett und Krawatte trägt. Heute wird sein | |
| großer Auftritt sein. | |
| Um drei Minuten vor zehn trifft Reinhold Hanning ein. Begleitet von zwei | |
| Anwälten, geht er vorsichtigen Schritts, den Kopf mit dem vollen weißen | |
| Haar gesenk. Die Stühle ganz links im Saal sind für den Angeklagten und | |
| seine Verteidiger reserviert. Reinhold Hanning ist der Beihilfe zum Mord in | |
| mindestens 170.000 Fällen angeklagt, begangen im Konzentrations- und | |
| Vernichtungslager Auschwitz in den Jahren 1943 und 1944. | |
| Fürsorglich erkundigt sich Richterin Anke Grudda nach seinem Befinden. Der | |
| 94-jährige Hanning nuschelt, so dass man es in der nur fünf Meter | |
| entfernten ersten Sitzreihe der Zuschauer kaum verstehen kann: „Ich bin | |
| zufrieden.“ Einer seiner Verteidiger übernimmt es, dies hörbar dem Gericht | |
| mitzuteilen. | |
| Der zweite Prozesstag beginnt. Jahrezehntelang sind die einfachen | |
| SS-Wachmänner in der Bundesrepublik strafrechtlich davongekommen, weil die | |
| Justiz die Auffassung vertrat, Beihilfe zum Mord könne man nur dann ahnden, | |
| wenn ein individueller Mordvorwurf vorliegt. Erst in jüngster Zeit hat sich | |
| das geändert. Und deshalb sitzt Hanning erst jetzt in Detmold vor Gericht. | |
| Mindestens zwei weitere Auschwitz-Verfahren stehen in diesem Jahr in | |
| Deutschland noch an. | |
| ## Akustischer Beistand | |
| Gegen halb elf bittet die Richterin Justin Sonder auf den Zeugenstuhl. | |
| Neben ihm, der auch Nebenkläger in diesem Verfahren ist, nimmt sein Anwalt | |
| Thomas Walther Platz. Sonder kann nicht mehr so gut hören, und so wird es | |
| in der nächsten Stunde zur Aufgabe seines Rechtsbeistands, Nachfragen so | |
| laut zu wiederholen, dass der Zeuge sie auch versteht. | |
| Der deutsche Jude Justin Sonder hat eineinhalb Jahre als Häftling in | |
| Auschwitz verbracht, mit anschließenden Todesmärschen, Bahnfahrten in | |
| offenen Kohlewagen bei eisiger Kälte, Inhaftierungen in den KZ | |
| Sachsenhausen und Flossenbürg, bis zu seiner Befreiung in einem Dorf in der | |
| Oberpfalz durch die US-Armee. Das war, er weiß es ganz genau, am 5. Mai | |
| 1945. Seine Mutter ist in Auschwitz ermordet worden. Sonder hat 22 | |
| Familienangehörige im Holocaust verloren. | |
| Reinhold Hanning, so verzeichnet es die Anklageschrift, trat am 25. Juni | |
| 1940 freiwillig der Waffen-SS bei. Am 23. Januar 1942 kam er als Wachmann | |
| des SS-Totenkopfsturmbanns nach Auschwitz. Da besaß er den Rang einen | |
| SS-Sturmmanns, vergleichbar einem Gefreiten. Im Februar 1943 stieg er zum | |
| SS-Rottenführer auf und im September des gleichen Jahres ernannte man ihn | |
| zum SS-Unterscharführer. Im Juni 1944 wurde Hanning in das KZ Sachsenhausen | |
| versetzt. Am 3. Mai 1945, zwei Tage vor Sonders Befreiung, geriet Hanning | |
| in britische Kriegsgefangenschaft. | |
| ## Ein bisschen nervös | |
| Am Tag vor seiner Befragung durch das Gericht sitzt Justin Sonder in seinem | |
| Hotelzimmer im Detmolder Hof und bereitet sich sorgfältig vor. Er hat seine | |
| alten Aussagen hervorgeholt, sie liegen auf dem kleinen Tisch vor ihm. Der | |
| gebürtige Chemnitzer ist in seinem zweiten Leben Kriminalbeamter in seiner | |
| Heimatstadt geworden, jagte kleine und große Verbrecher. Sein bedeutendster | |
| Fall? „Das war die Aufklärung eines Mordes an einer Lehrerin. Sie war in | |
| einem Vorort erdrosselt worden.“ Nach etwa 35 Stunden, um 4.15 Uhr am | |
| Morgen, gestand der Täter. | |
| Sonder kennt sich also aus mit Vernehmungen und Aussagen vor Gericht. Aber | |
| jetzt ist er ein wenig nervös. | |
| „Schön, dass Sie hier sind“, begrüßt ihn Richterin Grudda am nächsten | |
| Morgen, als er im Zeugenstuhl Platz genommen hat. Sonder beginnt: „Am | |
| Samstag, dem 27. Februar 1943, wurde ich von zwei Gestapo-Leuten mit | |
| gezogener Pistole angehalten.“ Sonder wollte gerade zur Zwangsarbeit | |
| aufbrechen. Der 27. Februar, das war der Tag der sogenannten Fabrikaktion, | |
| als reichsweit die jüdischen Zwangsarbeiter verhaftet und deportiert | |
| wurden. Sonder, damals erst 17, wird nach Dresden gebracht und von dort in | |
| einem Sammeltransport gen Osten deportiert. „In der Nacht zum 3. März hielt | |
| der Zug an einer schneebedeckten weißen Fläche. Alles war taghell | |
| beleuchtet. ‚Raus, raus‘, riefen die Wachen. Die Kinder schrien nach ihrer | |
| Mama.“ | |
| Der Angeklagte Reinhold Hanning hat den Kopf ein wenig angehoben. Im Saal | |
| ist es völlig still. Sonder spricht bisweilen stockend, dann fängt er sich | |
| wieder. Er berichtet von seiner ersten Selektion nach der Ankunft in | |
| Auschwitz, der noch 16 weitere Selektionen folgen sollten. Die Gefangenen | |
| hätten sich in einer Reihe aufstellen müssen, berichtet er. Die SS fragte | |
| jeden nach Alter und Beruf. „Ich habe mitbekommen, dass, wenn einer sagte, | |
| er sei Gärtner, er nach rechts geschickt wurde. Bei einem Maurer nach | |
| links. Ich ging vor: ‚17 Jahre, Monteur‘.“ Justin Sonder wird nach links | |
| geschickt. Er darf weiterleben, vorläufig, als Arbeitssklave in Auschwitz | |
| III Monowitz, Block 10. „Die anderen hatten vielleicht noch 120 bis 180 | |
| Minuten, bevor sie bestialisch ermordet wurden.“ | |
| ## Kein Rachegedanke | |
| Macht es überhaupt Sinn, einen 94-jährigen Greis mehr als 70 Jahre nach der | |
| mutmaßlichen Tat noch vor Gericht zu stellen? Justin Sonder hat in seinem | |
| Hotelzimmer eine Antwort darauf: „Es ist noch nicht zu spät. Es spricht aus | |
| meinem Herzen, dass ein solches Verfahren durchgeführt wird.“ | |
| Nein, es ginge ihm nicht darum, den Angeklagten im Gefängnis zu sehen. „Das | |
| spielt absolut keine Rolle“, sagt er. Schon gar nicht ginge es ihm um | |
| Rache. Sondern? „Ich will erreichen, dass diese schweren Verbrechen noch | |
| einmal aufgearbeitet werden.“ Gerade jetzt, in den Zeiten von Pegida und | |
| einem Erstarken des Rechtsextremismus, sei das besonders wichtig. „Der | |
| Prozess trägt auch dazu bei, daran zu erinnern, was damals war.“ Deshalb | |
| hat Justin Sonder keinen Moment gezögert, als die Frage an ihn | |
| herangetragen wurde, ob er in dem Detmolder Prozess als Nebenkläger | |
| auftreten wolle. | |
| Justin Sonder fährt im Zeugenstand fort. Was das bedeutet habe, dieses Wort | |
| „Selektion“, will er erklären. „Ein SS-Mann rief ein einziges Wort: | |
| ‚Selektion!‘. Es kam ein SS-Arzt in Begleitung, und wir Häftlinge mussten | |
| vorbeidefilieren. Wenn einer sich nur dahingeschleppt hat, dann drehte der | |
| SS-Mann den Daumen nach unten. Das bedeutete den Tod.“ | |
| ## Einmal geht der Daumen runter | |
| Einmal habe er nicht mehr laufen können, erinnert sich Sonder. „Ich ging | |
| ins Krankenrevier zum SS-Arzt Dr. Fischer. Der malte mit Jod ein Hakenkreuz | |
| auf eins meiner Knie und sagte: ‚Geh in Block sowieso, wahrscheinlich musst | |
| du operiert werden.‘ Dort haben sie mein Knie geöffnet, ohne Narkose. Vier | |
| Häftlinge hielten mich fest, einer stopfte mir ein Stück Stoff in den Mund, | |
| damit ich nicht schreien konnte. Am nächsten Morgen: Selektion. Ich habe | |
| nicht laufen können. Ich bin angehalten worden, das war schlecht. Dann kam | |
| die Handbewegung, das war noch schlechter. Dann wurden die Nummern | |
| aufgerufen. Meine Nummer war nicht dabei! Der Häftlingsarzt hatte mit der | |
| SS gesprochen und mich gerettet.“ | |
| Die ersten 20 Jahre nach 1945 hat Justin Sonder überhaupt nicht über das | |
| Erlebte geredet. Seit der Wende tritt er häufig vor Schulklassen auf und | |
| berichtet in christlichen und jüdischen Gemeinden von seinem Überleben in | |
| Auschwitz. Doch dies hier, im Gerichtsaal von Detmold, von dem Angeklagten | |
| einige Meter entfernt sitzend, das ist etwas anderes. | |
| Sonder erzählt von missglückten Fluchtversuchen anderer. Er ist jetzt sehr | |
| aufgeregt. „Wenn ein Häftling auf einer Tonne stand und rief: ‚Hurra, ich | |
| bin wieder da!‘, dann wussten wir schon Bescheid. Er wurde am Galgen | |
| hingerichtet. Viele riefen vor ihrem Ende ‚Ruhm der großen Sowjetunion‘ | |
| oder Ähnliches. Aber einmal, im Oktober 1944, kamen wir auf dem Appellplatz | |
| in Monowitz an, und dort stand der Galgen, darunter ein Jüngling. Das | |
| Urteil wurde verlesen, der 16-Jährige aus Thessaloniki habe während eines | |
| Fliegeralarms ein Stück Brot genommen. Der Junge war ganz ruhig. Kurz | |
| vorher rief er laut ‚Mama!‘ Dann ist er in den Tod gegangen. Das werde ich | |
| nie vergessen.“ | |
| ## Er bleibt nicht bis Prozessende | |
| Oberstaatsanwalt Andreas Brendel von der Anklage stellt eine Frage zur | |
| großen Postenkette der SS-Wachmänner außerhalb des Lagers. Rechtsanwalt | |
| Thomas Walther, die Verteidiger und das Gericht haben keine weiteren | |
| Fragen. Die Richterin Anke Grudda bedankt sich. Justin Sonder bedankt sich. | |
| Dann ist der Zeuge entlassen. | |
| Eine halbe Stunde später ist dieser Prozesstag beendet. Der Angeklagte hat | |
| bisher keine Aussage gemacht. Den dürftigen Angaben seiner Verteidigung | |
| zufolge arbeitete Haning nach seiner Gefangenschaft zunächst als Koch beim | |
| britischen Militär, wurde später Verkäufer in seinem Heimatort Lage in | |
| einem Molkereifachgeschäft, das er 1969 übernahm. Seit 1984 ist er in | |
| Rente. | |
| Sonder zieht sich eine wärmende Mütze über den Kopf und schickt sich zum | |
| Gehen an. Er fährt zurück nach Chemnitz, den Prozess wird er nicht noch | |
| einmal besuchen. Sonder hatte sich in Monowitz selbst einer | |
| Widerstandsgruppe angeschlossen. Nach der Befreiung wollte er nicht | |
| auswandern: „Unsere Gruppe hatte beschlossen, hierzubleiben“, sagt er. | |
| Sonder heirate nach dem Krieg, bekam Kinder und machte Karriere bei der | |
| Kripo. Er ist stolz darauf, Deutschland mit wiederaufgebaut zu haben – ein | |
| „besseres Deutschland“, wie er sagt. | |
| Die Aussage im Prozess war für ihn sehr wichtig. „Solange meine Kräfte noch | |
| reichen, werde ich darüber sprechen. Wer sollte das sonst tun?“ Und was | |
| denkt er über Hannings Schweigen? „Es wäre sehr gut, wenn sich der | |
| Angeklagte erklären würde.“ | |
| 17 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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