# taz.de -- Frankfurter Schule half US-Geheimdienst: Nazideutschland besiegen | |
> Die Berichte der Frankfurter Schule an den US-amerikanischen Geheimdienst | |
> erscheinen endlich auf Deutsch. | |
Bild: Auch Herbert Marcuse versorgte den US-Geheimdienst mit Analysen zum Natio… | |
Nur eingefleischte Antiamerikaner finden es ehrenrührig: Herbert Marcuse | |
hat für einen US-amerikanischen Geheimdienst gearbeitet. Aber nicht nur er | |
aus dem Umkreis des in die USA emigrierten Frankfurter Instituts für | |
Sozialforschung kam der Aufforderung des Präsidenten Franklin D. Roosevelt | |
an die amerikanische Zivilgesellschaft zum War Effort nach: Zusammen mit | |
Marcuse traten im Frühjahr 1943 Franz Neumann und Otto Kirchheimer dem OSS | |
bei, dem Office of Strategic Services. | |
Es handelte sich keineswegs um die CIA, wie um 1968 die sowjetische | |
Propaganda verbreitete; denn die gab es noch gar nicht. Die USA hatten zum | |
Zeitpunkt ihres Kriegseintritts 1941 noch keinen Auslandsgeheimdienst. | |
Der exzentrische General „Wild Bill“ Donovan sollte das ändern; im Auftrag | |
des Präsidenten baute er das OSS auf, das neben direkten Aktionen im | |
Feindesland sich auch mit „Feindanalysen“ beschäftigen sollte. In der | |
Research & Analysis Branch sind die Texte entstanden, die nun endlich auf | |
Deutsch erschienen sind. Sie sollten einer informierten Kriegsführung gegen | |
Nazideutschland dienen. | |
Die Ausgabe „Im Kampf gegen Nazideutschland. Berichte für den | |
amerikanischen Geheimdienst 1943–1949“ schließt eine empfindliche Lücke. | |
Der Herausgeber Raffaele Laudani hat sich viel Mühe gemacht, die | |
individuellen Autorenschaften dieser Dokumente herauszufinden. Es handelt | |
sich nicht um theoretische Einzelarbeiten, sondern um Reports, die nach | |
oben weitergeleitet und bearbeitet wurden. Alle Formulierungen sind also | |
cum grano salis zu nehmen. | |
## Nicht ganz freiwillig | |
Auch geht es nicht um eine geschlossene Theorie des Nationalsozialismus. | |
Seit Ende der dreißiger Jahre versuchte das Institut im Exil, | |
Forschungsprojekte zum Nationalsozialismus an Land zu ziehen. Franz Neumann | |
hatte eine große Studie über den Charakter des Nationalsozialismus unter | |
dem Titel „Behemoth“ 1941 abgeschlossen. | |
Auch Marcuse beschäftigte sich damals schon mit der aktuellen Analyse | |
Deutschlands. Unter dem Titel „Feindanalysen“ veröffentlichte Peter-Erwin | |
Jansen diese Texte 1998 auf Deutsch. Auf die in den amerikanischen Archiven | |
liegenden Schätze deutscher Emigranten hatte als Erster Alfons Söllner | |
schon 1982 aufmerksam gemacht. Erst jetzt erhält der deutsche Leser ein | |
komplettes Bild. | |
Neumann, Marcuse und Kirchheimer waren nicht ganz freiwillig in den | |
amerikanischen Staatsdienst eingetreten. Das Institut für Sozialforschung | |
war in den dreißiger Jahren in eine schwere finanzielle Krise geraten. | |
Der Direktor Max Horkheimer zog sich mit dem Mitarbeiter Adorno nach | |
Kalifornien zurück. Neben der Arbeit am Schlüsselwerk „Dialektik der | |
Aufklärung“ erarbeitete man die „Studies on Prejudice“, in denen die | |
Integration psychoanalytischer Erkenntnisse in die kritische | |
Gesellschaftstheorie erprobt wurde. | |
## Dürftige Quellenbasis | |
Höhepunkt dieser Reihe war die 1951 erschienene „Authoritarian | |
Personality“, die nicht, wie vielfach vermutet und kolportiert, eine Studie | |
über Deutschland, sondern eine empirisch-theoretische Arbeit über die | |
Gefahren faschistischer Propaganda nach dem Sieg über den | |
Nationalsozialismus in den USA war. | |
Trotz der geografischen Distanz blieben die Mitarbeiter des OSS in engem | |
intellektuellen Kontakt mit ihren ehemaligen Kollegen des Instituts. In | |
Kalifornien war man über die Erkenntnisse aus Washington gut informiert. | |
Herbert Marcuse, der nach Schließung des OSS in das Außenministerium | |
versetzt wurde, versuchte engen Anschluss an Max Horkheimer zu halten. | |
Es wäre falsch, die Texte von damals an dem Wissensstand über das | |
nationalsozialistische Deutschland von heute zu messen. Sie gewähren eher | |
Einblicke in das, was man durch Nachdenken und Erfahrung über einen Feind | |
Schlüssiges sagen kann, wenn einem nur wenige Quellen zur Verfügung stehen. | |
Die Einzelheiten aus offiziellen Texten, abgehörten Nachrichten, | |
Verhörprotokollen und Augenzeugenberichten zu einem sinnvollen Ganzen | |
zusammenzufügen setzt wiederum einen theoretischen Kopf voraus, dem es auch | |
noch gelingen muss, seinen Vorgesetzten den eigenen Bericht als sachliche | |
Information zu verkaufen. | |
## Psychologische Kriegsführung | |
Die Interessen der Vorgesetzten waren weit gespannt. Man wollte ebenso | |
etwas über das deutsche Führungspersonal wissen wie über die Verfassung der | |
deutschen Bevölkerung, die Emigranten mit politischer Erfahrung einschätzen | |
konnten. | |
Die Alliierten, in den vorliegenden Texten United Nations genannt, begannen | |
sich für psychologische Kriegführung zu begeistern. Dieses Interesse traf | |
sich mit dem akademischen Aufkommen der Sozialpsychologie, die von | |
Emigranten wie Kurt Lewin in den USA etabliert wurde. | |
Auch die kritischen Theoretiker hatten sich seit dem Triumph des | |
Nationalsozialismus verstärkt um das Verhältnis von Gesellschaft und | |
Psychologie bemüht. Dieses Forschungsinteresse kommt ihren Arbeiten im OSS | |
zugute. | |
Gar nicht auf der Hauptagenda der Feindanalysen stand der Antisemitismus im | |
nationalsozialistischen Deutschland. Man muss es geradezu als ein Verdienst | |
von Neumanns Abteilung ansehen, die Aufmerksamkeit der OSS-Führung und | |
damit der Roosevelt-Administration auf die Vernichtung der europäischen | |
Juden gelenkt zu haben. Franz Neumann verfasste am 18. Mai 1943 einen | |
Bericht „Antisemitismus: Die Speerspitze allumfassenden Terrors“. | |
## Gegenstand politischen Kalküls | |
Neumann versuchte über die traditionelle Sündenbocktheorie hinauszugehen. | |
Er interpretiert den Antisemitismus der Nazis als integralen Bestandteil | |
der nationalsozialistischen „Weltanschauung“. | |
Die Juden werden Gegenstand eines politischen Kalküls: An ihnen wird | |
erprobt, was auch mit anderen als fremd empfundenen Gruppen gemacht werden | |
kann. Richtig erkannt wird von Neumann der manipulative Charakter des | |
NS-Antisemitismus, der sich nicht auf spontane Zustimmung der Massen | |
verlassen will. | |
Dennoch wirkt die Speerspitzentheorie allzu rationalistisch; Neumann | |
versucht, die universelle Gleichheit aller NS-Opfer nicht in Zweifel zu | |
ziehen. Deswegen gibt er auch die Empfehlung ab, gegen den Antisemitismus | |
keine „Gegen-Gegenpropaganda“ zu betreiben. | |
Das mag für die politische Propaganda durchaus richtig sein; aber die | |
barbarische Verfolgungspraxis der Nazis, die durchaus zwischen den | |
verschiedenen Gruppen der Unterdrückten zu differenzieren wussten, sah bis | |
in das KZ-System hinein anders aus. | |
## Das Versagen der Weimarer Linken | |
In der politischen Praxis nachrichtendienstlicher Tätigkeit gibt es keinen | |
Platz für Theorie. Gesellschaftliche Erkenntnis muss als nützliche | |
angeboten werden, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Dieser Vorteil für | |
das Handeln, der ein Nachteil für die Theorie ist, haftet allen von | |
Neumann, Marcuse und Kirchheimer im OSS entstandenen Arbeiten an. | |
Alle drei entstammten der Weimarer Linken; und alle drei wurden angetrieben | |
von dem Gefühl des Versagens dieser Linken. Ein besonders scharfes | |
Augenmerk fiel auf die kommunistischen Aktivitäten und die geschickte | |
psychologische Kriegsführung der Sowjetunion. | |
Neumann geriet posthum sogar in Verdacht, ein sowjetischer Spion gewesen zu | |
sein. Zweifellos gab es in New York und Washington Kontakte zu Leuten, die | |
für die Sowjetunion damals tätig waren; aber eine Doppelagententätigkeit | |
widerspricht Neumanns politischer Konstitution. | |
Gedankenaustausch war in Washington zur Zeit der Anti-Hitler-Koalition kein | |
Verrat. Mit Ausbruch des Kalten Krieges gerieten der ganze Geheimdienst und | |
später das Außenministerium in Verdacht, kommunistisch unterwandert zu | |
sein. | |
## Genese des Kalten Krieges | |
Bis dahin versorgten Marcuse, Neumann und Kirchheimer ihre Vorgesetzten mit | |
Analysen und praktischen Vorschlägen für eine demokratische Revolution in | |
Deutschland. Kenntnisse über die Struktur nationalsozialistischer | |
Herrschaft dienten der Entnazifizierung und der Vorbereitung der Nürnberger | |
Prozesse. | |
Besonders die Hinweise auf die Verflechtung von Nazismus und ökonomischer | |
Herrschaft konnten politisch nicht umgesetzt werden, wie Marcuse dreißig | |
Jahre später beklagte. Seine Darstellung der Potenziale des Kommunismus | |
verschaffte den USA ein realistisches Bild über einen nahezu unbekannten | |
Rivalen, der zum Feind werden sollte. In diesen Arbeiten kann man der | |
Genese des Kalten Krieges nachspüren. | |
Ihr Gebrauchswert mag damals nicht erkannt worden sein. Den Nachgeborenen | |
aber wird Einblick gewährt in eine historisch einmalige Konstellation, als | |
kritische Gesellschaftstheoretiker versuchten, einer Weltmacht zur Einsicht | |
zu verhelfen. | |
13 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Frankfurter Schule | |
Herbert Marcuse | |
NS-Straftäter | |
Frankfurter Schule | |
Antisemitismus | |
Theodor W. Adorno | |
Gedenken | |
Antisemitismus | |
Faschismus | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Auschwitz-Prozess | |
Adolf Eichmann | |
Adolf Hitler | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Medizinhistorikerin über Nazi-Ärzte: „Den Opfern ihre Identität geben“ | |
Lea Münch über NS-Verbrechen an der „Reichsuniversität Straßburg“ und d… | |
Bedeutung historischer Erkenntnis für heute. | |
Sponsor der Kritischen Theorie: Der steinreiche Argentinier | |
Die Autorin Jeanette Erazo Heufelder hat den jungen Felix Weil porträtiert. | |
Der investierte sein Geld ins Frankfurter Institut für Sozialforschung. | |
Buch über den „Fall Rosenberg“: Tödliche Hirngespinste | |
Ethel und Julius Rosenberg wurden 1953 in den USA hingerichtet. Das | |
jüdische Ehepaar war ein Opfer komplexer Feindbilder. | |
Frankfurter Adorno-Vorlesung: Das beschädigte Leben | |
Didier Fassin sieht den „Dschungel“ von Calais als migrationspolitische | |
„Vorhölle“. Ehrenamtliche Hilfe löse das gesellschaftliche Problem nicht. | |
Gedenk-Streit in Bremervörde: Politik setzt Salomon-Straße durch | |
Ortsrat von Bremervörde knickt nicht vor Protesten ein: Straßenname soll | |
künftig an einem 1939 schikanierten und vertriebenen jüdischen Viehhändler | |
erinnern. | |
Antisemitismuskonferenz in Berlin: Fehlender Algorithmus | |
Parlamentarier aus der ganzen Welt diskutieren im Bundestag über Judenhass. | |
Ein britischer Abgeordneter lobt Merkels „Mut“. | |
Neue Biografie über Mussolini: Niemals ein Löwe | |
Faschismus – davon hört man jetzt wieder öfter. Eine neue Biografie über | |
den Diktator geht den Ursprüngen der mörderischen Ideologie nach. | |
Wer im Nazi-Reich mitgemacht hat: Die Täter von nebenan | |
In Hamburg gibt es erstmals in Deutschland eine Datenbank mit NS-Tätern und | |
-Ermöglichern, die auch Straßennamen enthält. | |
NS-Verfahren in Detmold: Der Zeuge von Auschwitz | |
Der Angeklagte, ein ehemaliger SS-Wachmann, ist jetzt 94. Macht ein Prozess | |
heute noch Sinn? Der Nebenkläger Justin Sonder findet: ja. Eine Begegnung. | |
Gnadengesuch Eichmanns veröffentlicht: Nazi fühlte sich „nicht schuldig“ | |
In Israel ist das Gnadengesuch des Nazis Adolf Eichmann veröffentlicht | |
worden. Darin nennt sich der Kriegsverbrecher ein machtloses „Instrument“. | |
Neuauflage von „Mein Kampf“: Rausgelassen aus dem Giftschrank | |
Die kritische Edition von Adolf Hitlers Machwerk wurde nun vorgestellt. Der | |
wissenschaftliche Anspruch ist hoch und die Entmystifizierung gelingt. |