# taz.de -- Medizinhistorikerin über Nazi-Ärzte: „Den Opfern ihre Identitä… | |
> Lea Münch über NS-Verbrechen an der „Reichsuniversität Straßburg“ und… | |
> Bedeutung historischer Erkenntnis für heute. | |
Bild: 1941: Die „Reichsuniversität Straßburg“ bei der Eröffnung, mörder… | |
taz: Frau Münch, spätestens seit dem Nürnberger Ärzteprozess war bekannt, | |
dass der NS-Anatom August Hirt im Elsass 86 jüdische Häftlinge ermorden | |
ließ, um die Leichname für eine Skelettsammlung zu missbrauchen. Die | |
meisten von ihnen konnten nach Kriegsende bestattet werden. 2015 wurden | |
dann aber drei noch bestehende Humanpräparate der Hirt-Opfer in einer | |
Sammlung der Straßburger Rechtsmedizin [1][gefunden]. Wie konnten die dort | |
so lange unentdeckt bleiben? | |
Lea Münch: Jede medizinische Fakultät hat mehr oder minder umfangreiche | |
Sammlungen. Es finden sich Knochen, Organe und auch Gewebeschnitte für | |
mikroskopische Untersuchungen. Diese können grundsätzlich noch aus dem | |
Deutschen Kaiserreich stammen, aus der NS-Zeit oder aber auch nach 1945 | |
erst angefertigt worden sein. Zwischen 1945 und 1954 wurden in erster Linie | |
nur juristisch auffällige, kriminell verdächtige Versuche und Präparate in | |
Militärprozessen untersucht – bei Weitem nicht alle medizinischen | |
Forschungen und Sammlungen. | |
Ab 1955 verschwand das Thema, besonders im Elsass. Weder Deutschland noch | |
Frankreich fühlten und fühlen sich bis heute wirklich zuständig für die | |
Aufarbeitung und die Verantwortung der NS-Universität Straßburg; Die | |
französische Universität wurde nach Clermont-Ferrand verlagert und die | |
unrechtmäßige „Reichsuniversität Straßburg“ hatte keine Nachfolge. Erst… | |
Identifizierung der drei Präparate 2015 belegte faktisch, dass eine | |
weiterreichende Untersuchung notwendig ist. | |
Nach dem Fund 2015 wurde eine unabhängige historische Kommission an der | |
Universität Straßburg gebildet, in deren Rahmen Sie promovieren. Was | |
untersuchen Sie genau? | |
Für den gesamten Zeitraum des Bestehens der „Reichsuniversität Straßburg“ | |
sind die Krankenakten der Psychiatrischen Universitätsklinik erhalten | |
geblieben: Das sind circa 2.500 Krankenakten von 1941 bis 1944 – für | |
Historiker*innen eine umfangreiche Quellenbasis. In den stichprobenartig | |
ausgewerteten Akten konnte ich bisher keine Hinweise auf unnatürliche | |
Todesfälle finden. Sowohl die Aktion „T4“ – also die Ermordung von mehr … | |
70.000 Menschen mit psychiatrischen Krankheiten und Behinderungen – und die | |
anschließende sogenannte dezentrale „Euthanasie“ fand aber üblicherweise | |
auch nicht an Universitätskliniken statt, sondern in den Heil- und | |
Pflegeanstalten, in denen Menschen mit chronischen Diagnosen untergebracht | |
waren. | |
Deuten die Akten darauf hin, dass es anderswo im Elsass Euthanasie gab? | |
Nicht direkt – aus der Psychiatrischen Universitätsklinik wurden aber | |
Menschen mit langwierigen Krankheitsverläufen in die zuständige Heil- und | |
Pflegeanstalt verlegt. Im Januar 1944 gab es einen Transport von 100 | |
Männern aus den elsässischen Anstalten Hoerdt und Stephansfeld in die | |
NS-Tötungsanstalt Hadamar, wo diese Menschen ermordet wurden. In beiden | |
Anstalten findet sich außerdem während des Krieges eine deutliche | |
Übersterblichkeit, die auf Versorgungsengpässe zurückzuführen ist. Ob es | |
auch dort dezentrale Euthanasieformen gab, werde ich erst nach der | |
Auswertung der dortigen Krankenakten sagen können. | |
Wie wird in der Region mit der NS-Zeit umgegangen? | |
Das Elsass war schon immer ein Spielball zwischen Frankreich und | |
Deutschland: Die heutige Generation verfügt aber nur noch bedingt über eine | |
spezifische elsässische Identität, sie wurde in Frankreich sozialisiert. | |
Insgesamt berief man sich im öffentlichen Diskurs gerne auf die wenigen | |
Widerstandskämpfer*innen und auf die Opferrolle des Elsass, die sogenannten | |
zwangsverpflichteten „malgré nous“, und marginalisierte die Fragen nach | |
Kollaboration und Täterschaft auf französischer Seite. Daher war es auch | |
nicht einfach, unser Forschungsvorhaben zu realisieren. Mit der aktuellen | |
Generation wird das aber leichter – das zeigt unter anderem die Bildung der | |
Kommission. | |
Haben elsässische Ärzt*innen mit den Nazis kollaboriert? | |
Darauf lässt sich keine pauschale Antwort geben, die meisten Fälle sind | |
weder schwarz noch weiß. Vor dem Überfall Nazideutschlands auf Frankreich | |
wurde eine bestimmte Zone in der Nähe der Grenze komplett evakuiert – | |
inklusive der Université de Strasbourg. Viele elsässische Ärzt*innen sind | |
mit in den unbesetzten Teil im Süden Frankreichs gegangen. Das erklärt, | |
warum es an der Straßburger Universität unter den Ärzt*innen keinen | |
größeren Widerstand gab – die in der Résistance tätigen Mediziner*innen | |
waren nicht ins Elsass zurückgekehrt. Ein gewisser Teil der Ärzt*innen ist | |
aber aus den verschiedensten Gründen in das nun unter deutscher Verwaltung | |
stehende und de facto annektierte Elsass zurückgekehrt, was auch von der | |
NS-Verwaltung deutlich gefordert wurde. | |
Haben die ins Elsass Zurückgekehrten also mit den Nazis zusammengearbeitet? | |
Ein besonders anschauliches Beispiel ist die Biografie des Chirurgen | |
Adolphe Jung, der zunächst eine der von den Nazis standardmäßig | |
eingeforderten Loyalitätserklärungen unterschrieb, in welcher er sich zu | |
den Grundsätzen des nationalsozialistischen Reichs bekannte. Letztendlich | |
entschied er sich vor der offiziellen Eröffnung der „Reichsuniversität“ | |
aber anders, wurde sozusagen in kleinere badische Orte „zwangsversetzt“ und | |
arbeitete schließlich unter dem berühmten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch an | |
der Berliner Charité. | |
Nach Kriegsende kehrte er nach Straßburg zurück und arbeitete wieder, nicht | |
ohne Schwierigkeiten, an der dortigen Universität. Sein Tagebuch wurde vor | |
Kurzem veröffentlicht. Es bietet einen aufschlussreichen Einblick und | |
zeigt, dass die Entscheidung zwischen Kollaboration und Widerstand nicht | |
immer geradlinig verlaufen ist und es bei jeder Biografie einer historisch | |
differenzierten Betrachtung bedarf. | |
Mit der „Reichsuniversität Straßburg“ wollten die Nazis ihre Ideologie | |
„wissenschaftlich“ verfestigen. Inwiefern wurde die Wissenschaft | |
instrumentalisiert? | |
Der Begriff der Instrumentalisierung ist in diesem Zusammenhang nur bedingt | |
zutreffend, weil dieser eine einseitige Sicht auf die Geschichte | |
impliziert. Wissenschaft ist nie wertfrei zu verstehen und die | |
Nationalsozialisten haben den Wissenschaftsbetrieb nicht einfach unter | |
Zwang für ihre Zwecke vereinnahmt, sondern manche der menschenverachtenden | |
Humanexperimente sind auch auf Eigeninitiative der Ärzt*innen | |
zurückzuführen. Hinzu kommt, dass diese Berufsgruppe in außerordentlich | |
hohem Maß in der NSDAP und anderen NS-Organisationen vertreten war. Daher | |
lässt sich das Verhältnis von Wissenschaft und NS-Regime vielmehr als | |
komplexes Wechselspiel beschreiben, von dem beide Seiten auf | |
unterschiedlichen Ebenen profitiert haben. | |
Was hat Sie motiviert, in diesem Themenbereich zu forschen? | |
Es ist unerlässlich, die historischen Bedingungen zu verstehen, die zu | |
einer menschenverachtenden Medizin geführt haben. Außerdem hat sich die | |
historische Forschung lange hauptsächlich auf die Täter fokussiert, aber | |
mit dem Schicksal der Opfer hat sich fast niemand beschäftigt. Das hat sich | |
in den letzten Jahrzehnten verändert. Die physische Vernichtung sowie die | |
Auslöschung der Erinnerung an Menschen, die nicht ins | |
nationalsozialistische Weltbild passten, war erklärtes Ziel der Nazis. Das | |
Einzige, was wir heute noch tun können, ist, zu versuchen den Opfern ein | |
Stück ihrer Identität und Persönlichkeit zurückzugeben. Daher verstehe ich | |
meine Forschung auch als eine Form von politischer Arbeit. Trotz der | |
Schlussstrichrhetorik der AfD und anderen Rechten ist das Thema noch nicht | |
abgeschlossen. | |
24 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.badische-zeitung.de/mediziner-spuert-die-sammlung-des-nazi-arzt… | |
## AUTOREN | |
Nicholas Potter | |
## TAGS | |
NS-Straftäter | |
Ärzte | |
Straßburg | |
SS | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Konzentrationslager | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Staatsanwaltschaft stellt Verfahren ein: SS-Täter bleibt frei wegen Todesurteil | |
Ein 95-jähriger Niedersachse entgeht einem Verfahren wegen eines | |
Nazi-Massakers in Frankreich. Der Grund: Schon 1949 wurde er verurteilt. | |
Frankfurter Schule half US-Geheimdienst: Nazideutschland besiegen | |
Die Berichte der Frankfurter Schule an den US-amerikanischen Geheimdienst | |
erscheinen endlich auf Deutsch. | |
Fund in Straßburger Rechtsmedizin: Die Sammlung des KZ-Arztes | |
Von 1943 bis 44 führte der KZ-Arzt August Hirt zahlreiche Senfgasversuche | |
an Menschen durch. Nun fand ein Historiker die Überreste der jüdischen | |
Opfer. |