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# taz.de -- Frankfurter Adorno-Vorlesung: Das beschädigte Leben
> Didier Fassin sieht den „Dschungel“ von Calais als migrationspolitische
> „Vorhölle“. Ehrenamtliche Hilfe löse das gesellschaftliche Problem nich…
Bild: Calais: Unter unmenschlichen Bedingungen zusammengezwungen, bekämpfen si…
In der Antike bildete „die Lehre vom richtigen Leben“ das Zentrum der
Philosophie. Davon verabschiedete sich Theodor W. Adorno mit dem Hinweis,
ein Blick auf „das richtige Leben“ sei gar nicht mehr möglich angesichts
dessen Beschlagnahme durch Entfremdung, Verdinglichung und Herrschaft sowie
durch die universelle Geltung des kapitalistischen Tauschprinzips. Was
anfangs des 20. Jahrhunderts in Deutschland in der Nachfolge Nietzsches als
Lebensphilosophie (Ludwig Klages, Alfred Bäumler u. a.) auftrat, hielt
Adorno für eine regressive Ideologie, „die darüber betrügt“, dass es das
„richtige Leben“ nicht mehr gibt.
Die Adorno-Vorlesungen, die vom Frankfurter Institut für Sozialforschung
und dem Suhrkamp Verlag getragen werden, widmen sich nicht affirmativ der
Adorno-Exegese, sondern sollen die heutigen Möglichkeiten kritischer
Gesellschaftstheorie ausloten. Die Wahl des diesjährigen Referenten war ein
Glücksfall. Der 1955 geborene Franzose Didier Fassin studierte Medizin und
beschäftigte sich zunächst mit gesundheitspolitischen Fragen. Dabei stieß
er auf die Realität der sozialen und kulturellen Ungleichheit von Leben und
wandte sich der Soziologie und Anthropologie zu. Er forschte in
verschiedenen Ländern Afrikas über medizinische, politische und historische
Aspekte der Aids-Epidemie, aber auch über Einwanderungs-, Flüchtlings- und
Gesundheitspolitik sowie über Polizeigewalt und die Zustände in
Gefängnissen in den USA und in Europa. Seit 2009 lehrt er am Institute for
Advanced Study in Princeton.
Seine drei Vorlesungen galten einem der ältesten Themen der Philosophie:
dem Leben. Fassin näherte sich seinem Thema nicht als Philosoph, sondern
als Sozialwissenschaftler, der in den Dichotomien von Universellem und
Partikularem, Biologischem und Sozialem, Norm und Praxis eine Dialektik am
Werk sieht, die er methodisch überbrücken möchte. Denn „Form, Ethik und
Politik des Lebens sind eng verbunden und werden bestimmt vom beschädigten
Leben“, das Arme, Migranten und Asylsuchende fristen. Deren Erfahrungen
sind räumlich und zeitlich verschieden, verlaufen aber in ähnlichen
Lebensformen. Die enormen methodischen Schwierigkeiten eines solchen
Brückenschlags zwischen Normen und Erfahrungen, Theorie und Empirie
unterschätzt Fassin allerdings.
## In der Vorhölle
Am Beispiel der rund 800.000 Asylsuchenden in den „dunklen Behausungen“ von
Johannesburg und jenen, die im „Dschungel“ von Calais leben, wo Flüchtlinge
aus der ganzen Welt seit Jahren buchstäblich im Dreck stranden, verwies
Fassin auf die Implikationen europäischer Migrationspolitik. Technische und
polizeiliche Überwachung wurden intensiviert, die Zahlen der Toten bei
Fluchtversuchen und der Opfer polizeilicher Übergriffe stiegen.
Für viele Millionen von „wandernden Fremden“, Asylsuchenden wie Migranten,
wurde so „die Vorhölle“ zu ihrer „Lebensform“ – ein „Resultat der
politischen Doppelzüngigkeit und der Schaffung eines Niemandslandes
zwischen Legalität und Ungesetzlichkeit“ (Fassin).
In der zweiten Vorlesung ging es um die Ethik des Lebens, wobei Fassin den
Finger auf den wunden Punkt jeder humanitären Rettungsstrategie legte.
Diese Strategien beruhen wenn nicht auf Annahme der Heiligkeit des Lebens,
so doch auf dem Vorrang des Lebens als höchstem Gut. Dabei gerät die
strukturelle Asymmetrie zwischen humanitären Helfern und „Geretteten“, die
Opfer von Armut, sozialer Verelendung und politischer Fremdherrschaft
bleiben, aus dem Blickfeld.
Leidenden Körpern ist leichter zu helfen, als politisch-soziale Ansprüche
auf Gleichheit universell durchzusetzen. Die partikulare,
biologisch-medizinische Dimension von Hilfe überlagert die universellen,
politisch-rechtlichen Aspekte von Elend – etwa bei der Aids-Bekämpfung in
Afrika. Fassin machte überzeugend deutlich, dass gutgemeinte erste Hilfe
zur Rettung des nackten Lebens von Opfern die konfliktträchtige Dynamik
nicht stoppen kann, die Ungleichheit und Unrecht erzeugen – etwa in Gaza
oder in den von Israel seit 1967 besetzten Gebieten.
Die dritte Vorlesung drehte sich um „Politics of Life“, wobei sich Fassin
vor allem mit der unterschiedlichen Bewertung von Leben beschäftigte.
Kritisch wandte er sich gegen Foucaults konfusen Begriff „Biopolitik“, der
nicht das „Leben“ meint, sondern staatliche und parastaatliche
Herrschaftsstrategien und die zentrale Dimension der Ungleichheit von
Lebenschancen und -erwartungen völlig ausblendet. Eine beeindruckende
Lehrstunde für die deutsche Foucault-Sekte.
21 Jun 2016
## AUTOREN
Rudolf Walther
## TAGS
Theodor W. Adorno
Flüchtlingspolitik
Calais
Michel Foucault
Kapitalismus
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Judith Butler
Schwerpunkt AfD
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