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# taz.de -- Essay zum Nationalismus in Europa: Was heißt eigentlich Integratio…
> Der Glaube, MigrantInnen müssten sich in eine Tugendgemeinschaft
> einpassen, konkurriert mit dem liberalen Rechtsstaat.
Bild: Ein Flüchtlingskind wird in Stuttgart eingeschult
Es sind keineswegs nur AfD- oder Pegida-AnhängerInnen, die sich die Frage
stellen, ob die deutschen Grenzen noch sicher sind und wie Millionen von
Flüchtlingen integriert werden können. Auch ansonsten durchaus mittig
denkende, akademisch gebildete BürgerInnen, aber allemal auch
PolitikerInnen aller Parteien stellen sich diese Frage. Dabei bleibt eines
offen: Was soll überhaupt unter „Integration“ verstanden werden? Ebenso
ungeklärt bleibt, wohin beziehungsweise in was überhaupt integriert werden
soll.
Die öffentliche Meinung schwankt dabei zwischen einer Integration in ein
Volk, eine Kultur, eine Werteordnung oder in eine Nation hin und her. Im
Folgenden sei zunächst zwischen einem „dünnen“ und einem „dichten“ Be…
der Integration unterschieden. Der deutsche Staat, so wie er faktisch
existiert, beziehungsweise der heute in Europa übliche Nationalstaat soll
hier als dasjenige verstanden werden, wohin integriert werden soll.
Daher ist zunächst zwischen der Bevölkerung eines Staates und seiner
BürgerInnenschaft zu unterscheiden. Die Bevölkerung ist die Summe aller
Menschen, die in den Grenzen eines Staates leben – seien sie Babys oder auf
einige Zeit im Lande lebende TouristInnen. Sie alle genießen Rechte, haben
jedoch in der Regel keine Möglichkeit, das Setzen oder Ausgestalten dieser
Rechte zu beeinflussen.
Wenn das einleuchtet, folgt daraus im Umkehrschluss, dass Staaten in
allererster Linie territorial begrenzte „Rechtsgemeinschaften“ sind. Auf
jeden Fall unterscheiden sie zwischen Staatsangehörigen, die bestimmte
Schutz- und auch Gestaltungsrechte besitzen, und einfachen BewohnerInnen.
Letztere haben keine Gestaltungs-, genauer gesagt: Rechtsetzungsrechte.
## Sprache als Integrationskriterium
Die Frage, was es heißen soll, in eine Bevölkerung integriert zu sein, ist
sinnlos. Die Frage allerdings, was es heißt, in eine solche
Rechtsgemeinschaft integriert zu sein, erfordert sinnvolle Antworten.
Um erfolgreich Mitglied einer Rechtsgemeinschaft zu sein, ist es nötig, die
Sprache zu beherrschen, in der die entsprechenden Fragen verhandelt werden.
Sodann müssen Mitglieder in der Lage sein, jene Themen, die rechtlich
bestimmt werden sollen, wahrzunehmen und zu beurteilen. Dafür ist es zudem
notwendig, nicht so weit gegen die herrschenden Gesetze verstoßen zu haben,
dass man von dieser Mitwirkung aufgrund strafrechtlicher Bestimmungen
ausgeschlossen ist.
Damit wäre, sofern man die Definition von Nation als Rechtsgemeinschaft
akzeptiert, ein „dünner“ Begriff von Integration gewonnen: Integriert ist,
wer nicht gegen die herrschenden Gesetze verstößt, die jeweilige
Umgangssprache beherrscht und in der Lage ist, sich an entsprechenden
Diskursen zu beteiligen.
Freilich wird dieser „dünne“ Begriff von Nation und Integration keineswegs
von allen geteilt. Vielmehr ist es so, dass wohl die meisten
TeilnehmerInnen an der Flüchtlingsdebatte unter Nation so etwas wie „Volk“
verstehen. Dabei soll Volk eine Gemeinschaft von Menschen bezeichnen, die
eine gemeinsame Herkunft, Sprache, Geschichte und Kultur teilen sowie
gemeinsame Vorstellungen davon haben, was gut oder gerecht ist
beziehungsweise „was sich ziemt“.
Diesem Begriff des Volks entspricht dann ein „dichter“ Begriff der
Integration: Integriert ist nicht nur, wer gesetzestreu ist, die
Umgangssprache beherrscht und sich gegebenenfalls an politischen Diskursen
beteiligen kann, sondern wer zudem auf eine Geschichte seiner Familie im
jeweiligen Lande zurückschauen kann und sich im alltäglichen Leben an den
jeweils herrschenden Werten orientiert, die allemal weit über schlichte
Gesetzestreue hinausgehen.
## Welcher Begriff ist realitätsnah?
Infrage steht damit, welchem dieser Staats- beziehungsweise
Integrationsbegriffe der Vorzug zu geben ist. Genauer gesagt: Welcher
Begriff stimmt erstens mit den Realitäten im Lande besser überein?
Zweitens: Welcher ist einem politischen Begriff von Nation eher angemessen?
Daher ist zunächst zu fragen, ob die Gesellschaft – hier die der
Bundesrepublik Deutschland – tatsächlich einem „dichten“ Begriff von
Integration entspricht.
Das ist eindeutig nicht der Fall. Was richtig und gut ist, wird
unterschiedlich beantwortet, den gemeinsamen Nenner gibt es nicht: Weder
sind die Einkommensverhältnisse einigermaßen gerecht, noch ist diese
Gesellschaft besonders kinderfreundlich. Auch die Scheidungsrate ist nicht
rückgängig – im Gegenteil. Zudem: Die Mitgliederzahl der großen Kirchen
nimmt stetig ab.
Kurz, jene, die sich um den Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen, können
selbst keinen tragfähigen Begriff von dem aufweisen, was es heißen soll,
dass eine Gesellschaft und ihre Mitglieder „integriert“ sind.
Gleichwohl führen sie gerne ein gleichsam hartes Minimum ins Feld: die
Leitkultur. Zu der gehört die Gleichberechtigung von Frauen und die
Akzeptanz, nicht nur Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Liebes- und
Paarbeziehungen ebenso wie der Wunsch, dass Frauen ihr Haar zeigen.
Diese Leitkultur bestehe in den Werten des Grundgesetzes, an erster Stelle
der in Artikel 1 postulierten „Würde des Menschen“. Dass dieses Postulat
zunächst nur die staatlichen Organe und nicht die einzelnen BürgerInnen
bindet, wird dabei kaum beachtet.
## Stichwort: Tugendgemeinschaft
Es zeigt sich, dass jene, die eine „Leitkultur“ für alle verbindlich machen
wollen, weniger nach einer politischen denn nach einer Tugendgemeinschaft
streben. Tugendgemeinschaften aber zeichnen sich durch den Wunsch nach
widerspruchsfreier Konformität mit Blick auf bestimmte Werte, das heißt
Bilder vom guten Leben, aus. Beispiele dafür sind etwa
Klostergemeinschaften.
Politische Gemeinschaften dagegen sind, jedenfalls nach Hannah Arendt,
etwas anderes. Es sind öffentliche Räume, in denen über unterschiedliche
Interessen sowohl mit Blick auf materielle Güter als auch Vorstellungen vom
guten Leben Streit ausgetragen und auf Zeit entschieden werden kann – unter
Verzicht auf Gewalt und im Rahmen der Herrschaft des Rechts.
Damit erweist sich ein weiteres Mal, dass politische Gemeinschaften stets
Rechtsgemeinschaften sind und sein müssen. Anders bedürfen
Tugendgemeinschaften einer Rechtsordnung gar nicht, da der konforme Wille
ihrer Mitglieder ihren Zusammenhalt garantiert.
Mit anderen Worten: All jene, die unter Integration die Einpassung in eine
Tugendgemeinschaft verstehen, sind nicht bereit, im Rahmen eines
politischen Gemeinwesens mit anderen zusammenzuleben.
Das geht dann im Falle der anfangs erwähnten Pegida-AnhängerInnen und ihrer
intellektuellen Wortführer wie etwa Alexander Gauland durchaus so weit,
dass sie jenen Wertekonsens, der die Bundesrepublik bisher prägte,
aufkündigen. Sie reden neuerdings einer – wenn auch weich- und
weißgewaschenen – völkischen oder eben nationalistischen Ideologie das
Wort.
## Aufkündigung der Rechtsgemeinschaft
Im Extremfall sind die einen oder anderen AnhängerInnen dieser Auffassung
von Nation auch bereit, nicht nur die liberale Alltagskultur, sondern auch
den Rechtsfrieden abzusagen und offen zum Widerstand aufzurufen.
Das aber heißt nichts anderes, als dass ein Teil jener, die die Nation als
homogene Tugendgemeinschaft verstehen wollen, paradoxerweise die Prinzipien
und Werte des liberalen Rechtsstaates, der Rechtsgemeinschaft aktiv und
folgenreich aufkündigt.
Es geht also bei der Frage der Integration weniger um den Gegensatz von
links und rechts als vielmehr um die Frage, ob die Rechtsgemeinschaft des
Grundgesetzes und die von ihr gerahmte Alltagskultur der Verschiedenheit
und des friedlichen Austragens einander widerstreitender Interessen
verschiedenster Art auch künftig weiterbestehen soll oder nicht.
Tatsächlich – und das übersehen die neuen FürsprecherInnen eines „dichte…
Integrationsbegriffs – hat die Bundesrepublik seit den 1970er Jahren große
Erfolge bei der Integration von ImmigrantInnen aller Art aufzuweisen: Weder
hat es Gettobildungen wie etwa in manchen Städten der USA gegeben, noch
konnte bisher ernsthaft gezeigt werden, dass sich sogenannte
Parallellgesellschaften herausgebildet hätten.
Der Hinweis auf Gerichtsverfahren vor muslimischen Friedensrichtern unter
Umgehung ordentlicher Gerichte verfängt schon deshalb nicht, weil es
keineswegs nur Muslime sind, die sich dieser Praktiken bedienen: Innerhalb
straffälliger Milieus waren solche Schiedsgerichte seit jeher ein probates
Mittel, staatliche Instanzen davon abzuhalten, das eigene kriminelle
Business zu stören.
## Rücknahme liberaler Spielräume
An der so harmlos klingenden Frage, was genau unter „Integration“
verstanden werden soll, wird sich entscheiden, ob viele Länder des
westlichen Europa – Frankreich allen voran – jenen Weg einschlagen werden,
für den heute beispielhaft Ungarn, nun aber auch Polen, sowie Tschechien
und die Slowakei stehen.
Das wäre der Weg eines integralen Nationalismus. Dieser gibt zwar noch vor,
die „westlichen“ Freiheiten und liberalen Errungenschaften zu bewahren.
Aber seine Logik ist auf eine ständige Rücknahme liberaler Spielräume
angewiesen. Entgegen seinen eigenen Absichten ist er gerade nicht dazu in
der Lage, die durch Immigration entstandenen gesellschaftlichen Spannungen
zu mildern.
Dem hier vertretenen „dünnen“ Begriff der Integration geht es nicht darum,
eine multikulturelle Gesellschaft durchzusetzen. Es geht schlicht um eine
Gesellschaft, die ihrem Wesen nach immer schon multikulturell, weil liberal
sein soll. Sie eröffnet daher die Möglichkeit, Freiheit und Gleichheit für
alle zu erkämpfen: unaufgebbare Vorbedingung eines linken Projekts!
Den anderen jedoch ihre Verschiedenheit zunächst zuzugestehen, heißt nichts
anderes, als für das einzustehen, was etwa Adorno unter Freiheit verstand:
ohne Angst verschieden sein zu können.
9 Nov 2015
## AUTOREN
Micha Brumlik
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