# taz.de -- Antisemitismuskonferenz in Berlin: Fehlender Algorithmus | |
> Parlamentarier aus der ganzen Welt diskutieren im Bundestag über | |
> Judenhass. Ein britischer Abgeordneter lobt Merkels „Mut“. | |
Bild: Angela Merkel am Montag auf der Internationalen Antisemitismus-Konferenz … | |
Berlin taz | Was echte Macht ist, war am Montag in einem Anhörungssaal des | |
Bundestags direkt an der Spree zu beobachten. Bundeskanzlerin Angela Merkel | |
(CDU) gab sich die Ehre, zu rund 140 Parlamentariern aus der ganzen Welt zu | |
sprechen – über Antisemitismus, das Thema einer mehrtägigen internationalen | |
Konferenz in der Hauptstadt. | |
Die deutsche Regierungs- und Parteichefin wirkte durchaus aufgeräumt, trotz | |
der herben Niederlagen ihrer Partei in den Landtagswahlen des Vortags. Sie | |
versprach den Abgeordneten: Die Bundesregierung werde sich stets gegen | |
Judenhass einsetzen, und sei er auch versteckt in scheinbar unverfänglicher | |
Israelkritik. | |
Der britische Abgeordnete John Mann lobte trotz der eher durchschnittlichen | |
Rede Merkels ihre „Stärke“ und „Mut“ und attestierte ihr „echte | |
Führerschaft“. Dann gab es Fotos mit der Kanzlerin. Sie ist offenbar sehr | |
beliebt, gerade im Ausland. | |
Die rund zwanzigminütige Rede der Kanzlerin war der Höhepunkt der dritten | |
„Interparlamentarischen Konferenz zur Bekämpfung von Antisemitismus“ | |
(ICCA), die von Sonntag bis Dienstag in Berlin stattfand. Eingeladen in die | |
frühere Hauptstadt der Holocaust-Planer hatten die ICCA, der Bundestag und | |
das Auswärtige Amt. | |
Die ICCA wurde 2009 in London gegründet, unter anderem vom Labour-MP John | |
Mann. Sie vereint Abgeordnete ihrer jeweiligen Parlamente von über drei | |
Dutzend Staaten aus allen Himmelsrichtungen, von Kanada bis nach Armenien, | |
von Paraguay über Uganda und Israel bis nach Norwegen. Ihr gemeinsames | |
Ziel: Ein Engagement in ihren Parlamenten für eine auch gesetzliche | |
Eindämmung des Antisemitismus – und eine internationale Zusammenarbeit | |
überall dort, wo diese weltweit wirkende Vorurteilsstruktur nur | |
überstaatlich bekämpft werden kann. | |
Das gilt vor allem für den Antisemitismus, der sich im Internet und in den | |
Sozialen Netzwerken wie Facebook mit seinen etwa 1,6 Milliarden Usern | |
weltweit breit macht. Da sind den nationalen Parlamenten meist die Hände | |
gebunden, und selbst die Macht der angeblich mächtigsten Frau der Welt, | |
Angela Merkel, endet hier. | |
Zwar hat die ICCA bei ihrer zweiten Konferenz in Ottawa 2010 mit führenden | |
Köpfen der großen Internetunternehmen eine internationale „task force“ zum | |
Cyber-Hass eingerichtet – und diese Arbeitsgruppe hat auch einen | |
Lagebericht und Richtlinien für den Umgang mit Hassparolen im Netz | |
erarbeitet. Die Erfolge dieser Mühen aber sind überschaubar: Noch immer | |
floriert der Judenhass im Internet. Was tun? | |
## Schwammige Beteuerungen | |
Darüber sollte auf der Berliner Konferenz eigentlich Simon Milner Auskunft | |
geben. Er ist Facebooks „Policy Director“ für Großbritannien, den Nahen | |
Osten und ganz Afrika. Doch außer ziemlich schwammigen Beteuerungen, dass | |
sich sein Weltkonzern in eine „besonderen Verantwortung“ gestellt fühle und | |
es keine „einfachen Antworten“ gebe, kam von ihm wenig. Der | |
Facebook-Manager verwies auf die Regeln von Facebook, dass Hass-Reden und | |
Antisemitismus auf seiner Kommunikationsplattform nicht gestattet seien. | |
Facebook aber könne nicht, etwa anhand eines Algorithmus‘, Judenhass | |
erkennen. | |
Allerdings würden drei Teams in Irland, den USA und Indien pro Tag | |
Millionen von Einträgen bei Facebook daraufhin prüfen, ob sie | |
diskriminierend seien – und sie notfalls sperren, so Milner. Er empfahl | |
jedoch vor allem Gegen-Narrative gegen antisemitische Lügen auf Facebook zu | |
setzen – etwa durch Prominente, versehen mit guten Bildern. Die seien oft | |
wirksamer gegen Hass-Parolen als ähnliche Aktionen etwa von Regierungen. | |
Ein Beispiel war die weltweite Aktion „Je suis Charlie“ nach den blutigen | |
Anschlägen von Paris im Januar vergangenen Jahres. | |
Diese Aussagen befriedigten viele Abgeordnete nicht recht. Vielen scheint | |
es, dass nackte Busen bei Facebook viel schneller gelöscht würden als | |
antisemitische Ausfälle. Seltsam auch, dass Milner als Topmanager eines | |
Kommunikationskonzerns zu keinem Interview bereit war, ja noch nicht einmal | |
zu einer Verabredung zu einem Interview – er verwies auf die | |
Facebook-Presseabteilung, kein Wort mehr dazu. | |
Dennoch blieb das Thema „Antisemitismus im Internet“ ein wichtiges Thema | |
auf er Konferenz. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hob am | |
Dienstag in seiner Rede auf dem Kongress hervor, Judenhass und | |
antisemitische Rhetorik dürften in der deutschen Gesellschaft keinen Platz | |
haben. Das gelte auch für die sozialen Netzwerke oder judenfeindliche | |
Einstellungen in muslimischen Gemeinschaften. | |
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) verwies kurze Zeit später darauf, es | |
sei das Ziel der Europäischen Union, zu einem einheitlichen Vorgehen gegen | |
Hassparolen im Internet und in sozialen Netzwerken zu kommen. „Wir wollen | |
einen einheitlichen Kodex, was wir dagegen tun und was wir auch von den | |
Betreibern von Plattformen abverlangen können.“ Er verurteilte die übliche | |
Praxis, dass Internet-Unternehmen ihren Sitz dorthin verlegten, wo es | |
möglichst wenig Regeln zur Einschränkung der freien Rede im Netz gebe. | |
## Völlig legitime Sorgen | |
Das zweite, wenn auch nicht offizielle, große Thema auf der Konferenz war | |
die Angst vor einer Zunahme von Antisemitismus durch die gegenwärtige | |
Zuwanderung aus dem Nahen Osten, vor allem aus Syrien. Auf der Tagung gab | |
es kaum einen Redner, kaum eine Abgeordnete, die nicht auf diese Sorge zu | |
sprechen kam. | |
Wie ihr Außenminister sprach auch Angela Merkel diese Befürchtungen direkt | |
an – Bezug nehmend auf den Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef | |
Schuster. Sie erinnerte daran, dass Schuster für seine Aussagen zu dieser | |
Sorge in seinen Gemeinden scharf angegriffen wurde. Es sei aber „völlig | |
legitim“, wenn er diese Sorgen schildere. Schließlich wanderten derzeit | |
auch Menschen ein, „die mit israelfeindlichen und judenfeindlichen | |
Prägungen aufgewachsen sind“. Sie warnte vor der Wirkung von | |
antisemitischen Bildern, mit denen diese Menschen aufgewachsen seien. | |
Die Kanzlerin warnte auf der Tagung: „Jedem, der in Deutschland lebt, ob | |
als Alteingesessener oder neu Hinzugekommener, muss klar sein, dass | |
Antisemitismus und Vorurteile gegen andere Menschen bei uns keinen Platz | |
haben dürfen.“ Und: „Nicht toleriert“ würden alle Versuche, die | |
grundgesetzlich verbürgte Glaubens- und Religionsfreiheit oder die | |
Gleichbehandlung von Frau und Mann in Frage zu stellen. | |
Noch eines war auffällig auf der Berliner Konferenz: Zumindest bei den hier | |
versammelten Abgeordneten scheint es eine Art Konsens in einer lange | |
umstrittenen Frage des Antisemitismus-Diskurses zu geben, nämlich dass sich | |
in den vergangenen Jahren Judenhass häufig unter dem Deckmantel der | |
Israelkritik versteckt habe, ja dass dieser Weg des Antisemitismus | |
mittlerweile zu den populärsten gehöre. | |
Vor zwölf Jahren hatte es das letzte Mal eine große Konferenz über | |
Antisemitismus in Berlin gegeben, damals im Rahmen der OSZE. Die Nähe von | |
Antizionismus, Hass auf Israel und Antisemitismus war eine These, der | |
damals noch nicht so viele Politikerinnen und Politiker aus aller Welt | |
folgen wollten. | |
15 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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