# taz.de -- Boris Luries Holocaust-Collagen: Die Gewalt nach unten verschieben | |
> Boris Lurie verarbeitete in drastischen Collagen und Gemälden seine | |
> Erfahrungen als Überlebender der deutschen Konzentrationslager. | |
Bild: „Mort aux Juif! Israel imperialiste“ verknüpft Nazipropaganda mit ze… | |
Berlin taz | Die Collagen Boris Luries können auch nach fünfzig Jahren noch | |
schockieren. In „Railroad to America“ von 1963 kombinierte der Künstler | |
zwei Schwarz-Weiß-Fotografien, die er in Zeitungen und Illustrierten | |
gefunden hatte, zu einem verstörenden Bild. Das größere der beiden Fotos | |
zeigt die Ladefläche eines Eisenbahnwaggons. Die geöffnete Seitenklappe | |
gibt den Blick frei auf ein Bild des Schreckens. | |
Nackte, ausgemergelte Körper liegen dort übereinander geworfen wie die | |
Ladung eines Rohstoffs, der von einem Ort zum anderen transportiert wird. | |
Auf dieses Fotodokument klebte Lurie ein Foto aus einem Girlie-Magazin. Die | |
darauf abgebildete junge Frau hat makellose Haut und wendet der Kamera | |
ihren Rücken zu. Sie trägt Strapse und ist dabei, ihre Unterhose nach unten | |
zu ziehen, um dem Betrachter ihren Po zu zeigen. | |
Viele von Boris Luries Werken sind schwer auszuhalten, auch wenn der | |
Künstler das Nebeneinander von Tod, Grausamkeit und Nacktheit in den | |
Illustrierten seiner Zeit genauso vorgefunden hatte. Lurie bedauerte, dass | |
seine Kunst wenig Anklang fand, und er beklagte seine Isolation als | |
Künstler. Aber er könne auch verstehen, dass man sich solche Arbeiten nicht | |
ins Wohnzimmer hängen wolle. Er hätte gerne angenehme Bilder gemacht, hat | |
er einmal gesagt, aber etwas habe ihn daran gehindert. | |
Nach den Vernichtungslagern leben wir im Bewusstsein, dass man Menschen | |
millionenfach versklaven und ermorden kann, ohne dass das den Gang der | |
Dinge stören würde. Die Erde dreht sich weiter, Gott straft die Mörder | |
nicht. Das Entsetzen darüber kann man unmittelbar in Luries Werken spüren, | |
die damit selbst zum Skandal werden. Es ist nicht verwunderlich und auch | |
nicht zu kritisieren, dass viele Betrachter sein Werke für obszön halten. | |
Arbeiten wie „Railroad to America“ wurde vorgeworfen, sie seien eine | |
Beleidigung für die Überlebenden des Massenmords. Der Schriftsteller Elie | |
Wiesel, der selbst in Auschwitz und Buchenwald war, wurde noch drastischer. | |
Er sagte über Luries Collagen: „Eine in der Geschichte nie dagewesene | |
Tragödie in eine groteske Karikatur umzuwandeln, heißt nicht nur, sie ihrer | |
Bedeutung zu berauben, sondern auch, sie in eine Lüge zu verwandeln. Ich | |
nenne das einen Verrat.“ | |
Es ist daher nicht ohne Risiko, aber richtig, dass das Jüdische Museum in | |
Berlin „Railroad to America“ neben 200 anderen Werken in der Ausstellung | |
„Keine Kompromisse. Die Kunst des Boris Lurie“ zeigt. Es ist die bislang | |
größte Retrospektive des Künstlers, der am Markt erfolglos war und von den | |
Kunstmuseen immer noch ignoriert wird. Sein Werk hat auch nur als Fußnote | |
Eingang in den Kanon der Kunst des 20. Jahrhunderts gefunden. Lurie, der im | |
Januar 2008 starb, bezeichnete seine Kunst im Kontext einer von ihm | |
gegründeten Bewegung als „No!Art“, aber auch als Jew-Art und Antipop. Sie | |
stellt uns auch heute die Frage, was es bedeutet, im Zeitalter der | |
Massenvernichtung zu leben und als Zuschauer und Mitwisser an ihr | |
teilzuhaben. | |
In Berlin sind frühe Zeichnungen und Gemälde zu sehen, die noch illustrativ | |
von Luries eigenen Erfahrungen in den Konzentrationslagern zu erzählen | |
versuchen. Aus den Fünfzigern stammen die Gemälde der Serie „zerstückelter | |
Frauen“, die Lurie noch auf der Suche nach einer adäquaten ästhetischen | |
Form für seine Erfahrungen und Überlegungen zeigt. Spätere Collagen und | |
Gemälde arbeiten mit Fotos und Slogans. Mit Fotos beklebte und mit | |
Hakenkreuzen und Davidsternen bemalte Koffer symbolisieren das Überleben. | |
Im Sommer 1946 war Lurie mit seinem Vater von Deutschland nach New York | |
ausgewandert, weil dort die ältere der Schwestern Boris Luries lebte. | |
## Es kann sich wiederholen | |
Boris Lurie wurde am 18. Juli 1924 in Leningrad als jüngstes von drei | |
Kindern des jüdischen Ehepaars Ilja und Schaina Lurje geboren. Ein Jahr | |
später zog die Familie nach Riga. Nach der Besetzung Lettlands durch | |
deutsche Truppen und der Ghettoisierung der jüdischen Bürger bestand seine | |
Mutter darauf, dass sich die Männer der Familie zum Arbeitseinsatz melden | |
sollten, um größere Überlebenschancen zu haben. Erst Monate später erfuhren | |
die beiden davon, dass Boris’ Mutter, seine Großmutter, seine Schwester | |
Jeanna und seine Jugendliebe Ljuba im Winter 1941 zusammen mit 27.000 | |
anderen Menschen in einem Wald bei Riga erschossen worden waren. Die Mörder | |
der Einsatzgruppen hatten die Menschen zuvor gezwungen, sich zu entkleiden. | |
Über dem Schreibtisch von Boris Luries Atelier in der Lower East Side hing | |
eine Aufnahme von einem der Täter der Massenmorde an Juden im Osten | |
Europas, der Vergnügen daran fand, nackte Frauen zu fotografieren, an deren | |
Erschießung er beteiligt war. Lurie hat diese Fotografie kurz nach der | |
Jahrtausendwende in einem Filminterview zum Anlass genommen, einen | |
Vergleich zu Ereignissen im Irak zu ziehen: „Das drückt die Art und Weise | |
der Gesellschaft aus, wo der Stärkere den Schwächeren unterdrückt, und die | |
Folterer kriegen einen gewissen Genuss davon. Einen sexuellen Genuss.“ | |
Auch das ist schwer verdaulich, weil wir uns daran gewöhnt haben, die | |
geplante und oft mit bestem Gewissen durchgeführte Vernichtung von | |
Millionen Menschen durch das nationalsozialistische Deutschland – Himmler | |
befand stolz, dass die SS immer „anständig“ geblieben sei – als singulä… | |
historischen Vorgang zu betrachten. Luries Kunst stellt diese Perspektive | |
nicht infrage, konfrontiert uns aber damit, dass derartige Verbrechen sich | |
nicht nur jeder Historisierung entziehen, sondern sich jederzeit | |
wiederholen können. | |
Luries Collagen aus den Sechzigern beließen es daher nicht dabei, die | |
Ungeheuerlichkeit der Massenerschießungen und Vernichtungslager zu zeigen. | |
Sie klagten den Tod des kongolesischen Premierministers Lumumba an und den | |
Algerienkrieg. Das in der „No!Art“ zum zentralen Begriff erklärte „No“ | |
erscheint als Wort auf immer neuen Bildern. Für Lurie folgte aus der | |
Erfahrung der Geschichte der kategorische Imperativ, Nein zu sagen. „Nein | |
heißt, nicht alles anzunehmen, was dir gesagt wird. Versuchen, allein zu | |
denken und zu reagieren. Und es ist ein Ausdruck der Unzufriedenheit. Da | |
gab’s Grund, gegen das System zu sein.“ | |
Mit der Verwendung von Pin-ups wandte sich Lurie „gegen die Vermarktung der | |
Frauen in den Massenmedien“ und überhaupt gegen gesellschaftliche | |
Strukturen, in der Menschen zu Objekten degradiert werden. Lurie eignete | |
sich auch Fotos an, die sadomasochistische Praktiken zeigten. Die Frage, ob | |
seine Kunst keine Scham kenne, beantwortete er in einem eigenen Werk. | |
„Altered Photo (Shame!)“ entstand 1963. Die größte Fläche des Bildes nim… | |
der rote, monochrome, aber leicht unregelmäßig aufgetragene Ölgrund ein, | |
ein warmes Rot. Auf diesem Hintergrund sind zwei Rechtecke aus dunklerem | |
Rot aufgetragen. Eines bildet den unteren Rand des Bildes, das andere steht | |
hochkant in der oberen Hälfte. Darauf hat Lurie ein Schwarz-Weiß-Foto | |
geklebt, das zwei nackte Frauen zeigt, die sich überrascht darüber geben, | |
gesehen zu werden und kokett ihre Scham verdecken. | |
Lurie kritisierte „die Kommerzialisierung von Sex durch die Frauen selber“, | |
aber damit ist immer noch nicht alles über die Verwendung von Pin-ups | |
gesagt. Die Gegenkultur der Sechziger beantwortete die puritanische | |
Prüderie gegenüber Darstellungen von Nacktheit und Sexualität mit dem | |
Hinweis, das Verbrennen von Menschen mit Napalm sei obszöner als das Zeigen | |
nackter Brüste. Die Wahrheit der Kultur drücke sich in der Pornografie aus, | |
glaubte Lurie: „Hart, hässlich, schmutzig, ekelhaft. Die Verzweiflung, die | |
Enttäuschung und die Gewalt nach unten verschieben, in die erotischen | |
Zonen. Sadomasochismus in der Öffentlichkeit, praktiziert, um die | |
Niederlage und die Schuldgefühle zu mildern.“ | |
Lurie schämte sich nicht, in seinem „Müll-Atelier“ voller Pin-ups zu | |
arbeiten und überhaupt außerhalb der Gesellschaft zu leben, wie er einmal | |
sagte. Er schämte sich auch nicht dafür, in seinen Collagen die Körper der | |
Geschundenen neben die Körper von Frauen zu stellen, die einem Blick | |
preisgegeben sind, in dem sich die Macht über den anderen konstituiert. Das | |
Sichtbarmachen dieses Blicks, das Zeigen von Ereignissen, die man nicht | |
sehen, über die man nicht sprechen soll, werden hier verhandelt – und damit | |
die Unterdrückung von Sexualität und Nacktheit in autoritären | |
Gesellschaften, die durch patriarchalische Herrschaftsverhältnisse bedingt | |
ist. Beim Betrachten von Luries Collagen stellt man sich aber irgendwann | |
die Frage, ob die Pin-ups und „Girlies“ nur Objekt auch seines Blicks sind, | |
oder ob er sich nicht vielmehr mit ihnen identifiziert. Lurie wusste, dass | |
er es nur dem Zufall verdankte, überlebt zu haben. | |
## „Der Jude ist schlecht“ | |
In den Sechzigern operierte Lurie im Umfeld der radikal libertären und | |
antikapitalistischen Gegenkultur. Anfang der Siebziger meinte er aber zu | |
beobachten, wie der Antiimperialismus der Neuen Linken einem Rassismus der | |
Unterdrückten das Wort redete. Als linker Zionist geißelte er den | |
Antisemitismus der Linken: „Der Jude ist schlecht, der Araber der Engel, | |
und Israel des Teufels. Das ist den Europäern willkommen. So können sie | |
ihre angestaute Kollektivschuld gut über Bord werfen“, schrieb er 1975. | |
Kurz vorher war er zu einer Ausstellung der Neuen Linken in Paris | |
eingeladen worden, die „Aspekte des Rassismus“ verhandeln sollte. Er | |
schickte zwei Bilder hin, die dann aber aufgrund einer Entscheidung des | |
Kollektivs der ausstellenden Künstler nicht gezeigt wurden: Sie waren zu | |
radikal. Das eine trug den Titel „Antizionismus ist gleich Rassismus“, es | |
gilt derzeit als unauffindbar. | |
Das andere ist „Mort aux Juif! Israel imperialiste“ betitelt. Es sieht aus | |
wie eine Wand voller Graffiti, die Nazipropaganda – „judenrein“ – mit | |
zeitlosen antisemitischen Slogans und einem Lob auf die Dritte Welt und Al | |
Fatah verknüpft. Lurie war einmal mehr dem Ruf Luis Buñuels gefolgt, der | |
gefordert hatte, Kunst sei dafür da, den Status quo aus dem Gleichgewicht | |
zu bringen. | |
9 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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