# taz.de -- Nachruf auf Elie Wiesel: Der Bote der Menschlichkeit | |
> Als 16-Jähriger überlebte er Auschwitz und Buchenwald. Er widmete sein | |
> Leben dem Versuch, die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen wachzuhalten. | |
Bild: Elie Wiesel (rechts) bei einer Gedenkfeier in Buchenwald | |
Berlin taz | „Im Verlauf der Jahrtausende haben wir Diskriminierung, | |
Verfolgung, vielfältige Isolierung erlitten, die Kreuzzüge, die | |
Inquisition, die Pogrome, die verschiedenen Folgen eingefleischten | |
Judenhasses überlebt. | |
Aber der Holocaust ging viel weiter. Ich sage es unter Schmerzen: Kein | |
Volk, keine Ideologie, kein System hat je in so kurzer Zeit ein solches | |
Ausmaß an Brutalität, Leid und Demütigung über ein Volk gebracht wie das | |
Ihrige über das meine.“ | |
Diese Worte stammen aus einer Rede von Elie Wiesel, die er anlässlich des | |
Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2000 im Deutschen Bundestag hielt. | |
[1][Elie Wiesel, der am 2. Juli im Alter von 87 Jahren verstorben ist], hat | |
bis an sein Lebensende immer wieder an das einzigartige Verbrechen der | |
Nazis und die systematische Ausrottung der Juden erinnert. Er selber war | |
ein Opfer dieser Politik. Ein Teil seiner Familie wurde in den grauenvollen | |
Vernichtungslagern ermordet, darunter seine Mutter und seine jüngere | |
Schwester, die in den Verbrennungsöfen von Auschwitz in Asche verwandelt | |
wurden. | |
Elie Wiesel wurde am 30. September 1928 in Sighet geboren, einer | |
siebenbürgischen Stadt, im Norden Rumäniens, in der sein Vater einen | |
kleinen Laden besaß. In der Familie wurde jiddisch gesprochen, im Umgang | |
mit den Nachbarn rumänisch und ungarisch. | |
Nach dem von Nazideutschland und dem faschistischen Italien gefällten | |
„Wiener Schiedsspruch“ wurde der nördliche Teil Siebenbürgens 1940 an | |
Ungarn angeschlossen. Unter der direkten Anleitung von Adolf Eichmann | |
begannen 1944 die ungarischen Behörden damit, die Juden in die | |
Vernichtungslager zu deportieren. | |
## Gegen Holocaust-Leugner | |
Unter den über 120.000 Verschleppten aus Nordsiebenbürgen befand sich auch | |
der zukünftige Friedensnobelpreisträger, der als 15-Jähriger am 14. Mai | |
1944 im KZ Auschwitz interniert wurde. Seine Häftlingsnummer A-7713 wurde | |
ihm auf den linken Arm tätowiert. | |
Als sich die vorrückende Rote Armee Auschwitz näherte, wurden jüdische | |
Häftlinge – darunter auch Elie Wiesel – nach Buchenwald gebracht. Sein | |
Vater überlebte den Todesmarsch in dieses Lager nicht. | |
Im April 1945 wurde Buchenwald von den Amerikanern befreit. Der inzwischen | |
16-Jährige Elie hatte überlebt. Zwei seiner Schwestern hatten in einem | |
französischen Kinderheim Zuflucht gefunden. | |
Wiesel, der nach dem Krieg in Paris Philosophie und Literatur studierte, | |
zog in den fünfziger Jahren in die USA. 1958 veröffentlichte er „Die | |
Nacht“, eine autobiografische Erzählung seiner Erlebnisse im Holocaust. | |
Insgesamt schrieb er 57 Bücher. | |
Holocaust-Leugner behaupteten Jahre später, Wiesel habe sich die Identität | |
eines gleichnamigen, 1913 ebenfalls in Sighet geborenen Auschwitz-Häftlings | |
in der Absicht angeeignet, um den in seinen Büchern verarbeiteten Berichten | |
über die Schrecken der Schoah eine falsche Authentizitätsaura zu verleihen. | |
Der Friedensnobelpreis wurde Elie Wiesel 1986 zugesprochen, um seine | |
publizistische Aufklärungstätigkeit als ein Opfer der Unmenschlichkeit zu | |
würdigen, als ein „Bote der Menschlichkeit“, der sich aktiv bemühte, die | |
Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. | |
## Die „Wiesel-Kommission“ | |
Anlässlich einer Gedenkfeier besuchte Elie Wiesel 2005 das ehemalige | |
Konzentrationslager Buchenwald, aus dem er 65 Jahre zuvor befreit worden | |
war. Diesmal war er in Begleitung von Bundeskanzlerin Angel Merkel und dem | |
amerikanischen Präsidenten Barack Obama. | |
Gegen den nach dem Untergang des Kommunismus in Osteuropa gelegentlich | |
aufflammenden Antisemitismus rechtsgerichter, nationalistischer und | |
neofaschistischer Gruppierungen erhob Elie Wiesel konsequent seine Stimme. | |
Er widersetzte sich insbesondere den Versuchen rumänischer und ungarischer | |
Politiker, völkischer Historiker und militanter Nationalisten, den | |
Holocaust zu leugnen, die Verstrickungen in den Mord an den Juden zu | |
relativieren oder die Schoah als ein exklusiv deutsches Verbrechen zu | |
verharmlosen. | |
Als 2002 in seiner Heimatstadt Sighet in seinem Geburtshaus eine offizielle | |
Gedenkstätte eingeweiht wurde, forderte er den damaligen Staatspräsidenten | |
Ion Iliescu auf, die Wahrheit über das Regime von Ion Antonescu zu sagen. | |
Dieser stand zwischen 1940 und 1944 an der Spitze eines | |
militärfaschistischen Regimes und beteiligte sich mit den Achsenmächten an | |
dem Überfall auf die Sowjetunion. | |
Auf Befehl Antonescus wurden rumänische und ukrainische Juden in | |
KZ-ähnliche Einrichtungen nach Transnistrien deportiert. Etwa 380.000 Juden | |
und über 11.000 Roma sind in den von den rumänischen Behörden verwalteten | |
Lagern ermordet worden oder an den Folgen der inhumanen Bedingungen | |
gestorben. | |
Auf Betreiben Wiesels willigte Iliescu 2003 ein, eine internationale | |
Kommission mit der Untersuchung des rumänischen Holocaust zu beauftragen. | |
Die Kommission, die später als „Wiesel-Kommission“ bezeichnet wurde und der | |
Forscher aus den USA, Israel, Deutschland, Rumänien und Frankreich | |
angehörten, legte ein Jahr später ihren Abschlussbericht vor. | |
## Er vergaß die anderen nicht | |
Darin heißt es, außer Deutschland sei nur noch Rumänien in einem | |
vergleichbaren Ausmaß in Massaker an Juden involviert gewesen. Für seine | |
Verdienste wurde Elie Wiesel 2002 mit dem Orden Großoffizier des Sterns von | |
Rumänien ausgezeichnet, 2004 mit dem Orden Großkreuz des Verdienstordens | |
der Republik Ungarn. | |
Aus Protest gegen die aggressiven rechtsextremen Tendenzen in diesen | |
Ländern, die von offiziellen Stellen toleriert werden, gab Wiesel die Orden | |
zurück. 2004 an die Führung Rumäniens, 2012 an die Regierung Viktor Orbáns. | |
Anlass dieser Entscheidung war die Umbettung des ungarischen | |
Blut-und-Boden-Dichters József Nyírő (1889 bis 1953) in Siebenbürgen. An | |
den in Siebenbürgen organisierten Feierlichkeiten war auch der damalige | |
ungarische Kulturminister Szöcs Geza beteiligt. | |
Die Rückgabe des Ordens an die rumänische Staatsführung begründete Wiesel | |
mit dem Hinweis, er wolle nicht „zum selben Club“ wie Corneliu Vadim Tudor | |
und Gheorghe Buzatu gehören. Tudor, der Chef der rechtsradikalen | |
Großrumänischen Partei (PMR), und der durch seine den Holocaust leugnenden | |
Bücher bekannt gewordene revisionistische Historiker Buzatu, ebenfalls | |
Mitglied der PMR, wurden nämlich damals von dem aus dem Amt scheidenden | |
Präsidenten Iliescu mit dem gleichen Verdienstorden ausgezeichnet wie Elie | |
Wiesel. | |
Wegen einiger Feststellungen im Abschlussbericht sprachen mehrere rechte | |
Publikationen von einer „Verwieselung“ und „Holocaustolisierung“ der | |
rumänischen Geschichte. Was Elie Wiesel jedoch immer wollte, fasste er in | |
seiner bewegenden Bundestagsrede zusammen: „Ich als Jude spreche natürlich | |
von den jüdischen Opfern, von meinem Volk. Ihre Tragödie war einmalig, aber | |
ich vergesse darüber die anderen Opfer nicht. Wenn ich als Jude von | |
jüdischen Opfern spreche, dann ehre ich auch alle anderen. Ich pflege zu | |
sagen: Waren auch nicht alle Opfer Juden, so waren doch alle Juden Opfer.“ | |
3 Jul 2016 | |
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## AUTOREN | |
William Totok | |
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