# taz.de -- Jahrestag antisemitischer Diskriminierung: „Judenstern“ als bef… | |
> Mit der Kennzeichnung 1941 begann der systematische Mord an mindestens | |
> sechs Millionen Juden. Sie war die letzte einer Reihe von Ausgrenzungen. | |
Bild: Die Holocaust-Überlebenden David Monk (l) und Mordechai Fuchs (r) im Jah… | |
Berlin taz | Die Verordnung vom 1. September 1941, die alle noch im | |
Deutschen Reich lebenden Juden vom sechsten Lebensjahr an zwang, ab 17. | |
September ein stigmatisierendes Kennzeichen, [1][den „Judenstern“ zu | |
tragen], war nicht nur ein Rückfall in finstere Zeiten. Sie bildete | |
vielmehr das letzte Glied einer Kette von Maßregeln, Ausgrenzungen und | |
Verboten, mit denen die im Januar 1933 an die Macht gekommenen | |
Nationalsozialisten die Emanzipation der deutschen Juden rückgängig | |
machten. Diese – in der Reichsverfassung 1871 spät genug kodifizierte – | |
Emanzipation war mühsam errungen und in der Praxis auch nur unvollkommen | |
durchgesetzt worden. | |
Politisch organisierte und publizistisch agierende Antisemiten kämpften | |
dagegen, die Juden als vollberechtigte Staatsbürger in der Nation | |
willkommen zu heißen. Die Ausgrenzung der Juden begann deshalb schon zur | |
selben Zeit wie ihre Aufnahme in die Gesellschaft der Deutschen. Studenten | |
verweigerten Juden die Mitgliedschaft in ihren Kooperationen, in vielen | |
Seebädern und Kurorten, Hotels und Pensionen waren jüdische Gäste | |
ausdrücklich unerwünscht. | |
Im öffentlichen Dienst, in der Justiz, beim Militär blieb die Taufe eine | |
nahezu unerlässliche Voraussetzung jeder Karriere – aber jüdische Offiziere | |
im Generalstab suchte man trotzdem vergeblich, vornehme Clubs blieben Juden | |
verschlossen. Erst in der Weimarer Republik schien – trotz öffentlich | |
artikulierten antisemitischen Radaus – die rechtliche und soziale Position | |
der Juden unangefochten. | |
Das änderte sich schlagartig, als Hitler zum Chef einer aus Konservativen | |
(DNVP) und Rechtsradikalen (NSDAP) bestehenden Reichsregierung ernannt | |
wurde. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ | |
verloren Juden (wie Sozialdemokraten und Kommunisten) den Arbeitsplatz im | |
öffentlichen Dienst. Das war im April 1933. Fast gleichzeitig bekamen | |
jüdische Anwälte per Gesetz Berufsverbot. Dann wurden jüdische Ärzte und | |
jüdische Viehhändler brotlos. Die Nürnberger Gesetze vom September 1935 | |
entzogen allen deutschen Juden die vollen Rechte als Reichsbürger und | |
grenzten sie durch das Heiratsverbot mit „Ariern“ auch sozial aus. | |
## Ein „J“ in den Reisepässen | |
Wenig später wurde in die Reisepässe deutscher Juden ein „J“ gestempelt. | |
Juden wurden zwangsweise mit den Vornamen „Sarah“ und „Israel“ markiert. | |
Zur Diskriminierung gehörte es, dass der aufgezwungene Vorname persönlich | |
beantragt werden musste, die Prozedur der Namensänderung gebührenpflichtig | |
war und als Demütigung gestaltet wurde. | |
Noch zielte die nationalsozialistische Politik aber nicht auf Vernichtung, | |
sondern auf die Vertreibung der ungeliebten Minderheit. Die Inhaftierung | |
von 26.000 Männern aus dem jüdischen Bürgertum in Konzentrationslagern | |
sollte nach der „Reichskristallnacht“ die Auswanderung forcieren: Während | |
die Männer – Rechtsanwälte und Ärzte, Juristen und Kaufleute – im KZ | |
misshandelt wurden, jagten ihre Frauen nach Visa und Schiffspassagen, | |
Bürgschaften und anderen Notwendigkeiten einer Emigration. | |
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gab es ab Herbst 1939 jedoch kaum noch | |
Chancen für Juden, Deutschland zu verlassen. Dafür gingen weitere | |
Schikanen, staatlich inszeniert, über sie nieder: Die Verbote, Haustiere zu | |
halten, Radios zu besitzen, Autos zu fahren, gehörten zu den sinnlosen | |
Plagen, die sich stumpfe Bürokraten ausdachten, so wie karge | |
Lebensmittelrationen und reglementierte Einkaufszeiten. Die „Arisierung“, | |
die Enteignung der Juden, wurde unmittelbar nach den Novemberpogromen | |
vorangetrieben. | |
Das Auswanderungsverbot signalisierte im Herbst 1941, ebenso wie die | |
Markierung mit dem Judenstern, das neue Ziel nationalsozialistischer | |
Politik: den Genozid. Der Beschluss zur „Evakuierung“ und „Endlösung“ | |
datiert vom Sommer 1941. Die Deportationen, getarnt als „Umsiedlungen in | |
den Osten“, begannen im Herbst 1941. | |
## Kostenpflichtige Kränkung | |
Das handtellergroße Kennzeichen „Judenstern“ erleichterte den Schergen die | |
Arbeit und erschwerte den Opfern die Flucht. Jüdische Organisationen waren | |
für die Verteilung auf die jüdischen Haushalte verantwortlich. Aus großen | |
Stoffbahnen wurde die benötigte Anzahl der gelben Flecken mit dem | |
Davidstern und dem Wort „Jude“ in hebräisierender Schrift ausgeschnitten | |
und an die Kleidung genäht. Natürlich war auch diese Kränkung | |
kostenpflichtig. | |
Erprobt war das Verfahren der Kennzeichnung von Juden im okkupierten Polen. | |
Erfunden hatten die Nationalsozialisten das Markieren Unerwünschter nicht: | |
Das Laterankonzil 1215 schrieb den Angehörigen der jüdischen Minderheit die | |
äußere Kennzeichnung zur Unterscheidung von den Christen vor. | |
Als gelber oder roter Fleck wurde das Stigma zuerst in England und Spanien, | |
dann überall eingeführt. In manchen Regionen des mittelalterlichen Europas | |
mussten die Juden einen auffälligen Hut tragen. Mit der Aufklärung endete | |
im 18. Jahrhundert die entwürdigende Vorschrift. | |
Ihre Wiederbelebung durch die Nationalsozialisten hatte aber auch eine | |
andere Qualität. Die einstige Ausgrenzung im Zeichen des christlichen | |
Antijudaismus verwies die Juden in eine Parallelgesellschaft, ins Ghetto. | |
Die am 1. September angeordnete und ab 17. September 1941 praktizierte | |
Kennzeichnung aller Juden ab dem 6. Lebensjahr war eine der Maßnahmen, die | |
den inszenierten und systematisch realisierten Mord an mindestens sechs | |
Millionen Menschen einleiteten, mit dem Juden vernichtet wurden, weil sie | |
Juden waren. Mit der oktroyierten öffentlichen Stigmatisierung der Opfer | |
durch den „Judenstern“ hatte der Holocaust begonnen. | |
Wolfgang Benz ist emeritierter Professor am Berliner Zentrum für | |
Antisemitismusforschung | |
1 Sep 2016 | |
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## AUTOREN | |
Wolfgang Benz | |
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