# taz.de -- Göttinger Uraufführung über Arisierung: Die Namen der Nutznießer | |
> Das Deutsche Theater in Göttingen dokumentiert detailliert die Verfolgung | |
> der jüdischen Göttinger – und wer davon in welcher Form profitierte | |
Bild: Lesen auf der Bühne als Archivare verkleidet Augenzeugenberichte vor: Be… | |
GÖTTINGEN taz | Die Göttinger Goetheallee Nr. 5 beherbergt ein | |
Matratzengeschäft. Es ist ein steriler Laden, ahistorisch ins Erdgeschoss | |
des alten Hauses hineingeschoben. Wie überall. Für Benedikt Kauff ist die | |
Goetheallee 5 dennoch ein emotionaler Ort geworden. „Wenn ich hier | |
vorbeigehe, kommen mir manchmal sogar die Tränen“, sagt der junge | |
Schauspieler. | |
Kauff kennt die Augenzeugenberichte über das, was am 9. November 1938 im | |
heutigen Matratzenhaus passiert ist. Er kennt sie sogar auswendig. Ein paar | |
Schritte weiter am Wall entlang, im Deutschen Theater, steht er auf der | |
Bühne des großen Hauses und zitiert: „Wir waren schon zu Bett gegangen, als | |
unten gegen die Haustür geschlagen wurde. Sie brachen die Tür auf, dann die | |
Etagentür, und dann drangen zwölf oder noch mehr Männer in unsere Wohnung | |
ein.“ Grete Löwenstein und die kleine Tochter werden die Treppe hinunter | |
gejagt. Ihr Mann Ludwig mit Gewehrkolben geschlagen. Bettgestelle und | |
Matratzen fliegen aus dem Fenster. | |
Fritz Krische kommen diese Vorgänge – streng ökonomisch betrachtet – | |
gelegen: Nach der Pogromnacht wird die Auszahlung des Dumpingpreises, zu | |
dem er den Löwensteins deren Fleischereibedarfsgeschäft bereits abgekauft | |
hat, hinfällig. Er ist einer der vielen Nutznießer, deren Namen auf der | |
Bühne genannt werden. | |
Im Zuschauerraum sitzt einer, der über diese Zusammenhänge genauestens | |
Bescheid weiß – und über Dutzende ähnlicher Konstellationen. Dass die jetzt | |
uraufgeführte Dokumentarcollage „Die Nutznießer – ,Arisierung' in | |
Göttingen“ so konkret sein kann, ist der mühseligen Archivarbeit von Alex | |
Bruns-Wüstefeld zu verdanken. | |
## Panoptikum der zunehmenden Ausgrenzung | |
Mühselig nicht nur wegen der Materialfülle. Sondern weil sich | |
Bruns-Wüstefeld, der seinerzeit der örtlichen Antifaszene angehörte, den | |
Zugang zu den Akten des Göttinger Stadtarchivs in langwierigen | |
Gerichtsverfahren erkämpfen musste. Das war in den 1990ern. 20 Jahre später | |
ist das Material nun auf der Bühne. „Hätte ich nicht mit gerechnet“, sagt | |
Bruns-Wüstefeld. | |
Anscheinend bedurfte es eines Anstoßes von außen: Der Schweizer Erich | |
Sidler, seit 2014 Intendant in Göttingen, beauftragte die Berlinerin Gesine | |
Schmidt mit einem Stück zum Thema „Arisierung“ in Göttingen. Weit über | |
1.000 Akten hat Schmidt durchforstet. Die, die sich Bruns-Wüstefeld im | |
Archiv erkämpft hat. Und die ausgiebigen Augenzeugenberichte, die der | |
Lehrer Ulrich Popplow schon zwischen 1976 und 1982 zusammengetragen hatte. | |
Was Schmidt aus dieser Fülle formt, ist ein Panoptikum der zunehmenden | |
Ausgrenzung, des Verlustes, respektive der Bereicherung. Ausschließlich auf | |
O-Ton-Basis. | |
Am stärksten ist die Montage dann, wenn die ständig wechselnden | |
Perspektiven dasselbe Ereignis fokussieren. Etwa den Kampf der Familie | |
Wagner gegen den Rausschmiss aus ihrer Wohnung in der Weender Landstraße | |
und gegen den Zwangsumzug ins „Judenhaus“. Der Vermieter, Robert Schneider, | |
drängt die Behörden immer wieder zu schnellerem „Durchgreifen“. Wagner | |
wehrt sich, macht ebenfalls Eingaben. Doch von allen Seiten wird an der | |
Schlinge gezogen, die der jüdischen Bevölkerung um den Hals liegt. | |
Die Göttinger Sparkasse gibt keine Kredite mehr – nur einzahlen dürfen ihre | |
jüdischen Kunden noch. Einkaufen auf dem Wochenmarkt ist Juden nur zwischen | |
11.30 und 12 Uhr gestattet. Und nachdem in Göttingen die ersten Berichte | |
über anstehende Deportationen durchsickern, freuen sich zahlreiche Bürger | |
auf frei werdende Wohnungen. Das zuständige Amt registriert eine Flut von | |
vorausschauend gestellten Anträgen. | |
## Historisches Begreifen und das große Ganze | |
Schmidt war es wichtig, bei ihrer Collage auch die | |
„Wiedergutmachungs“-Akten einzubeziehen. Oft ist dort von „normalen | |
Kaufverträgen“ die Rede, die die Juden abgeschlossen hätten. Formal ist das | |
korrekt. Man muss nur die Details beachten. Etwa den Ort des | |
Vertragsabschlusses: die Göttinger Gestapozentrale. | |
„In der Schule hatte man das ,Dritte Reich‘ immer wieder in Geschichte und | |
in Deutsch, und in noch anderen Fächern“, sagt Katharina Uhland. Zwei | |
Stunden lang stand die Schauspielerin mit Kauff und drei weiteren Kollegen | |
auf der Bühne, alle kostümiert als Archivare, die sich durch die Akten | |
blättern. „Jetzt“, sagt Uhland nach der Uraufführung, „habe ich zum ers… | |
Mal das Gefühl, wirklich etwas begriffen zu haben.“ | |
Ihr Intendant, Erich Sidler, sieht über das historische Begreifen hinaus | |
das Große und Ganze thematisiert. Er spricht von „Wachsamkeit“ und | |
„Sensibilität“, die ganz aktuell und dringend erforderlich seien: Um die | |
„rote Linie der Menschlichkeit“ nicht immer weiter zu verschieben, um „die | |
Demokratie zu pflegen und in die Zukunft zu retten“. | |
Auf der Bühne gibt es auch so eine „Linie“, die sich scheinbar unaufhaltsam | |
nach vorne schiebt. Es ist eine Wand aus Lautsprechern, aus denen „hate | |
speech“ dringt – aktuelle rassistische Kommentare, die Regisseur Marcus | |
Lobbes aus dem Internet gefischt hat. | |
Zwar sind sie so dosiert, dass der uninformierte Zuschauer unmöglich | |
verstehen kann, welcher Gesellschaftssound da immer wieder hochkommt. Umso | |
sinnfälliger ist dafür die näher kommende Wand, die die Akteure | |
zusammenpfercht. Dann rutschen die ersten Boxen über den Bühnenrand, | |
stürzen krachend ins Parterre des Theaterbaus mit seiner spezifischen | |
Mischung aus Neorenaissancepracht und Puppenstube. Aufgeschreckt aber war | |
das Göttinger Publikum schon zuvor. | |
18 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
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